Über die EuZ
Leitartikel
Claudia Seitz*
Schutz der Gesundheit in der Europäischen Gesundheitsunion: Ist die Europäische Union auf zukünftige grenzüberschreitende Gesundheitsgefahren vorbereitet?
Die EU plant bereits seit Mitte 2020 eine Europäische Gesundheitsunion, um innerhalb der EU grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren besser begegnen zu können. Die Europäische Gesundheitsunion stellt eine Reaktion der EU auf die Herausforderungen der Covid 19-Pandemie dar, geht aber über den Schutz vor künftigen Pandemien hinaus, indem sie insgesamt für grenzüberschreitende Gesundheitsbedrohungen auf eine stärkere Koordinierung auf EU-Ebene abzielt. Trotz einer Stärkung bestehender Institutionen, wie dem Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) sowie der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA), und der Errichtung einer neuen EU-Behörde für die Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen (HERA), erfolgt jedoch keine Änderung des bestehenden Kompetenzsystems zwischen der EU und den EU-Mitgliedstaaten. Der Beitrag analysiert die Kompetenzen der EU im Bereich der Gesundheitspolitik nach Art. 168 AEUV im Hinblick auf die Europäische Gesundheitsunion und ordnet diese in das Gesamtsystem ein.
* Prof. Dr. iur. Claudia Seitz, M.A. (King´s College London), Rechtsanwältin ist Gastprofessorin an der Universität Gent, Lehrbeauftragte für Gesundheits- und Heilmittelrecht an der Universität Basel und für Biotechnologierecht an der Universität Bonn sowie wissenschaftliche Leiterin des CAS Medizinrecht an der Privaten Universität im Fürstentum Liechtenstein (UFL). Sie ist im Advisory Board der European Association for Health Law (EAHL) und der German Association for Synthetic Biology (GASB) und Mitherausgeberin der European Pharmaceutical Law Review (EPLR) sowie Mitglied des Redaktionsbeirats der Europäischen Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (EuZW).
Aktuelle Entwicklungen im Europarecht
Allgemeines und Institutionelles
Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission 2023
Die Europäische Komission hat am 18. September 2022 ihr neues Arbeitsprogramm für das kommende Jahr vorgestellt. Das Arbeitsprogramm enthält 43 neue politische Initiativen, darunter Vorschläge für eine umfassende Reform des EU-Strommarkts, eine Weltraumstrategie der EU für Sicherheit und Verteidigung, eine neue EU-Strategie für maritime Sicherheit und eine Ergänzung des Sanktionsinstrumentariums um das Thema Korruption. Zudem kündigt die Kommission Massnahmen an, die als Basis für die digitale und wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit Europas einen angemessenen und diversifizierten Zugang zu kritischen Rohstoffen sichern sollen. Auch soll der Verwaltungsaufwand der KMU durch eine Überarbeitung der Zahlungsverzugsvorschriften verringert werden. Schliesslich soll auch die neue Generation von Bürgerforen – zu den Themen Lebensmittelverschwendung, Lernmobilität und virtuelle Welten – in die Politikgestaltung eingebunden werden.
Kommission empfiehlt Kandidatenstatus für Bosnien und Herzegowina
Am 12. Oktober 2022 hat die Europäische Kommission ihr Erweiterunsgpaket vorgelegt und darin dem Rat empfohlen, Bosnien und Herzegowina den Status eines Kandidatenlandes zuzuerkennen – sofern das Land noch eine Reihe von Reformschritten unternimmt. Konkret geht es um die Stärkung der Demokratie, die Funktionsfähigkeit der staatlichen Institutionen, Rechtsstaatlichkeit, Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität, Gewährleistung der Medienfreiheit und Migrationssteuerung. Das Paket enthält darüber hinaus auch eine detaillierte Bewertung des Sachstands und der Fortschritte der westlichen Balkanstaaten und der Türkei auf ihrem jeweiligen Weg in die Europäische Union.
Europäische Bürgerinitiative „Bienen und Bauern retten!“ erfolgreich
Die Initiative „Bienen und Bauern retten! Eine bienenfreundliche Landwirtschaft für eine gesunde Umwelt“ ist die siebte erfolgreiche Europäische Bürgerinitiative. Wie die Organisatoren bestätigten, hat die Initiative über eine Million Unterstützungsbekundungen von EU-Bürgern erhalten. Die Initiative fordert die Kommission auf, rechtliche Massnahmen vorzuschlagen mit dem Ziel, synthetische Pestizide bis 2035 aus dem Verkehr zu ziehen, die biologische Vielfalt wiederherzustellen und die Landwirte bei diesem Übergang zu unterstützen. Die Kommission wird sich in den nächsten Wochen mit den Organisatoren treffen, um die Initiative im Detail zu besprechen. Danach hätte sie bis zum 7. April 2023 Zeit, ihre offizielle Antwort vorzulegen, in der sie darlegt, welche Massnahmen sie zu ergreifen gedenkt: ob sie Rechtsvorschriften vorschlagen, andere nicht-legislative Massnahmen ergreifen oder gar nicht tätig werden will.
„Europäische Politische Gemeinschaft“ mit Beteiligung der Schweiz
Auf der ersten Tagung der „Europäischen Politischen Gemeinschaft“ kamen am 6. Oktober 2022 in Prag Führungsspitzen aus ganz Europa zusammen. Im Zentrum des informellen Austauschs standen Sicherheit und Stabilität in Europa, aber auch Energie, Klima und die wirtschaftliche Situation auf dem Kontinent, insbesondere unter dem Eindruck des Ukrainekriegs. Zur ersten Tagung der Europäischen Politischen Gemeinschaft waren neben den 27 Mitgliedstaaten weitere 17 Staaten eingeladen, darunter Staaten des Westbalkans, die Schweiz, die Türkei, die Ukraine und das Vereinigte Königreich. Bundespräsident Ignazio Cassis hat die Schweiz am Donnerstag am ersten Treffen der „Europäischen Politischen Gemeinschaft“ vertreten und leitete gemeinsam mit dem griechischen Premierminister Kyriakos Mitsotakis während des Gipfels auch einen Roundtable zum Thema „Energie, Klima und Wirtschaft“.
Neues Online-Tool: Desinformation erkennen und reagieren
Was ist Desinformation und Informationsmanipulation? Können wir vermeiden, auf sie hereinzufallen? Und wenn wir sie erkennen, was können wir tun? Antworten und Hilfestellung soll ein neues Online-Tool namens „Learn“ geben, das der Diplomatische Dienst der Europäischen Union lanciert hat.
Arbeitsrecht
Richtlinie für angemessene Mindestlöhne in Europa
Mindestlöhne in den EU-Staaten sollten künftig menschenwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen ermöglichen, und die Mitgliedstaaten sollten Tarifverhandlungen fördern. Eine entsprechende Neuregelung wurde vom Rat und vom Europäischen Parlament angenommen. Die neue Richtlinie (EU) 2022/2041 vom 19. Oktober 2022 gilt für alle Arbeitskräfte in der EU, die einen Arbeitsvertrag haben oder in einem Arbeitsverhältnis stehen. Für die Festlegung des Mindestlohns sind zwar auch künftig die Mitgliedstaaten zuständig. Sie müssen jedoch nach den Plänen der EU dafür sorgen, dass ihre nationalen Mindestlöhne den Erwerbstätigen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Dabei sind die Lebenshaltungskosten und das allgemeine Lohnniveau zu berücksichtigen. Die Mitgliedstaaten haben nun zwei Jahre Zeit, um der Richtlinie nachzukommen.
Empfehlung zu Mindesteinkommen
Ergänzend zur neuen Richtlinie über Mindestlöhne hat die Europäische Kommission am 28. September 2022 eine Empfehlung dazu vorgeschlagen, wie die Mitgliedstaaten ihre Mindesteinkommensregelungen wirksamer gestalten können, um Menschen aus der Armut zu befreien und gleichzeitig die Arbeitsmarktintegration zu fördern.
Ausgewogene Vertretung von Frauen und Männern in Leitungsorganen von Unternehmen
Am 17. Oktober 2022 hat der Rat den endgültigen Text der Richtlinie zur ausgewogeneren Vertretung von Frauen und Männern in Leitungsorganen von Unternehmen angenommen. Mit den neuen EU-Vorschriften, die noch in nationales Recht umgesetzt werden müssen, wird eine ausgewogenere Vertretung von Frauen und Männern in den Leitungsorganen börsennotierter Gesellschaften in der gesamten EU gefördert. Hiernach sollen unter den Aufsichtsräten börsennotierter Gesellschaften in der EU bis 2026 mindestens 40 % der Positionen von Mitgliedern des unterrepräsentierten Geschlechts – meistens Frauen – besetzt werden.
Aussen- und Sicherheitspolitik
Schutz kritischer Infrastrukturen
In einer Empfehlung vom 18. Oktober 2022 an die Mitgliedstaaten plädiert die Kommission dafür, die Anstrengungen im Bereich der Vorsorge, Reaktionsfähigkeit und internationaler Zusammenarbeit zu verstärken. Die im Entwurf vorliegende Empfehlung zielt darauf ab, die Arbeiten zum Schutz kritischer Infrastruktur in drei Schwerpunktbereichen zu maximieren und zu beschleunigen: Abwehrbereitschaft, Reaktionsfähigkeit und internationale Zusammenarbeit. Zu diesem Zweck ist darin eine stärkere Unterstützungs- und Koordinierungsfunktion der Kommission vorgesehen, um die Abwehrbereitschaft und Reaktionsfähigkeit gegenüber den derzeitigen Bedrohungen zu verbessern, sowie eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und mit benachbarten Drittländern. Vorrang sollten die Schlüsselbereiche Energie, digitale Infrastruktur, Verkehr und Raumfahrt erhalten.
Achtes Sanktionspaket gegen Russland
Der Rat hat am 6. Oktober 2022 ein weiteres Sanktionspaket gegen Russland angenommen. Das Paket enthält eine Reihe einschneidender Massnahmen, mit denen darauf abgezielt wird, den Druck auf die russische Regierung und die Wirtschaft des Landes zu verstärken, die militärischen Fähigkeiten Russlands zu schwächen und den Preis, den die russische Führung für die jüngste Eskalation zu zahlen hat, in die Höhe zu treiben. Zu den neuen Sanktionen zählen u.a. Verbot für Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, Posten in den Leitungsgremien bestimmter staatseigener oder staatlich kontrollierter russischer juristischer Personen, Organisationen oder Einrichtungen zu bekleiden; ein vollständiges Verbot der Bereitstellung von Dienstleistungen im Zusammenhang mit Krypto-Wallets, Krypto-Konten oder der Krypto-Verwahrung an russische Staatsangehörige oder in Russland ansässige Personen, ungeachtet des Gesamtwerts der Kryptowerte und das Verbot der Erbringung von Dienstleistungen in den Bereichen Architektur und Ingenieurwesen sowie IT-Beratung und Rechtsberatung für Russland.
Beziehungen Schweiz – EU
Projektorganisation für politische Sondierungsgespräche
Zur Stärkung der politischen und inhaltlichen Steuerung der Sondierungsgespräche mit der EU hat der Bundesrat am 31. August 2022 entschieden, eine Projektorganisation einzusetzen. Diese besteht aus einer Steuerungsgruppe, die alle Departemente miteinbezieht, und aus einem Sounding Board, das die Kantone, die Sozialpartner und die Wirtschaft einbezieht. Beide Gremien werden vom Vorsteher des EDA, Bundespräsident Ignazio Cassis, geleitet.
Energie
Sofortmassnahmen zur Senkung der Energiepreise
Der Rat der EU hat am 6. Oktober 2022 eine Verordnung zur Reaktion auf die hohen Energiepreise erlassen. Die Verordnung des Rates enthält das Ziel, den Gesamtbruttostromverbrauch auf freiwilliger Basis um 10 % zu senken, und das verbindliche Ziel, den Stromverbrauch zu Spitzenzeiten um 5 % zu senken. Zudem soll eine Obergrenze für Markterlöse inframarginaler erzeiger auf 180 EUR/MWh eingeführt werden. Auch wird für die Gewinne von Unternehmen im Erdöl-, Erdgas-, Kohle- und Raffineriebereich ein befristeter obligatorischer Solidaritätsbeitrag festgelegt. Bei den Massnahmen handelt es sich um befristete Sondermassnahmen. Sie gelten vom 1. Dezember 2022 bis zum 31. Dezember 2023. Die Ziele für die Senkung des Energieverbrauchs gelten bis zum 31. März 2023. Die verbindliche Obergrenze für Markterlöse gilt bis zum 30. Juni 2023.
Gesundheit
Notfallrahmen für medizinische Gegenmassnahmen
Der Rat der EU hat am 24. Oktober 2022 eine neue Verordnung angenommen, mit der der rechtzeitige Ankauf von und Zugang zu Arzneimitteln, Impfstoffen und Rohstoffen erleichtert, Soforthilfe aktiviert und die Überwachung von Produktionsanlagen ermöglicht wird, wenn eine weitere Gesundheitskrise auftritt. Im Falle einer gesundheitlichen Notlage wird die Kommission beauftragt, eine Liste krisenrelevanter medizinischer Gegenmassnahmen und Rohstoffe zu erstellen und deren Angebot und Nachfrage zu überwachen. Beim Ankauf von Gegenmaßnahmen und Rohstoffen können die Mitgliedstaaten die Kommission beauftragen, als zentrale Beschaffungsstelle zu fungieren.
Migration
Bilanz der Asyl- und Migrationspolitik
Die Kommission hat am 06. Oktober 2022 ihren neuen Bericht über Migration und Asyl vorgestellt. Der Bericht enthält eine Bestandsaufnahme der im vergangenen Jahr erzielten Fortschritte und wichtigsten Entwicklungen im Bereich Migration und Asyl und kommt zum Ergebnis, dass strukturelle Reformen des Asyl- und Migrationssystems der EU erforderlich sind, um die EU in die Lage zu versetzen, sowohl Krisensituationen als auch längerfristige Trends zu bewältigen. Besonders hervorgehoben wurden die beispiellose Solidarität mit der Ukraine (erstmalige Anwendung der Richtlinie über vorübergehenden Schutz, Einrichtung einer Solidaritätsplattform und Umsetzung eines Zehn-Punkte-Plans für eine koordinierte europäische Reaktion) und das starke Aussengrenzen-Management (Einführung der neuen IT-Architektur und der Interoperabilität).
Verbraucherschutz
EuGH urteilt zu Ausgleichsanspruch für Fluggäste bei verspätetem Anschlussflug
Am 06. Oktober 2022 hat der EuGH im Urteil zur Rechtssache Rs. C-436/21 festgestellt, dass Fluggäste einen Anspruch auf Ausgleichszahlung nach der Fluggastrechteverordnung (EU) Nr. 261/2004 wegen grosser Verspätung auch bei einem Flug mit direkten Anschlussflügen haben, bei dem die Flüge von unterschiedlichen Luftfahrtunternehmen durchgeführt werden.
Produkthaftung beim Einsatz künstlicher Intelligenz
Die Europäische Kommission hat am 28. September 2022 zwei Vorschläge vorgelegt, mit welchen einerseits die europäischen Haftungsvorschriften für fehlerhafte Produkte modernisiert und andererseits erstmals Haftungsregeln für künstliche Intelligenz (KI) in der EU harmonisiert werden sollen. Mit der überarbeiteten Produkthaftungsrichtlinie werden die geltenden bewährten Vorschriften auf der Grundlage der verschuldensunabhängigen Haftung der Hersteller für die Entschädigung von Personenschäden, Sachschäden oder Datenverlusten, die durch unsichere Produkte – von Gartenstühlen bis hin zu modernen Maschinen – verursacht werden, modernisiert und verstärkt. Der Zweck der Richtlinie über KI-Haftung besteht darin, dass jede natürliche Person, die einen Schaden durch ein fehlerhaftes Produkt erleidet, Anspruch auf Schadensersatz hat. Ein Produkt soll dann als fehlerhaft gelten, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die allgemein erwartet werden darf. Das umschliesst auch die vorhersehbare Fehlanwendung und die Auswirkungen anderer Produkte, die voraussehbar zusammen mit dem Produkt verwendet werden, und die Cybersicherheit.
Unionsbürgerrechte
Kopftuchverbot am Arbeitsplatz
Mit Urteil vom 13. Oktober 2022 in der Rechtssache C-344/20 hat der EuGH seine bisherige Rechtsprechung bestätigt und erläutert, dass eine interne Regel eines Unternehmens, die das sichtbare Tragen religiöser, weltanschaulicher oder spiritueller Zeichen verbietet, keine unmittelbare Diskriminierung darstellt, wenn sie allgemein und unterschiedslos auf alle Arbeitnehmer angewandt wird. Da jede Person eine Religion oder religiöse, weltanschauliche oder spirituelle Überzeugungen haben kann, begründet eine solche Regel nämlich, sofern sie allgemein und unterschiedslos angewandt wird, keine Ungleichbehandlung, die auf einem Kriterium beruht, das untrennbar mit der Religion oder der Weltanschauung verbunden ist.