Risiko & Recht – Ausgabe 1 / 2024

Risiko & Recht

Risiko & Recht macht es sich zur Aufgabe, Rechtsfragen der modernen Risikogesellschaft zu analysieren. Berücksichtigung finden Entwicklungen in verschiedensten Gebieten, von denen Sicherheitsrisiken für Private, die öffentliche Ordnung, staatliche Einrichtungen und kritische Infrastrukturen ausgehen. Zu neuartigen Risiken führt zuvorderst der digitale Transformationsprozess und der damit verbundene Einsatz künstlicher Intelligenz; des Weiteren hat die Covid-Pandemie Risikopotentiale im Gesundheitssektor verdeutlicht und auch der Klimawandel zwingt zu umfassenderen Risikoüberlegungen; schliesslich geben gesellschaftliche Entwicklungen, u.a. Subkulturenbildung mit Gewaltpotential, Anlass zu rechtlichen Überlegungen. Risiko und Recht greift das breite und stets im Wandel befindliche Spektrum neuartiger Risikosituationen auf und beleuchtet mit Expertenbeiträgen die rechtlichen Herausforderungen unserer Zeit.

Editorial

Sehr geehrte Leserinnen und Leser

Risiko & Recht beginnt das Jahr 2024 mit einem breiten Spektrum aktueller Themen zu Fragen der Risikogesellschaft. Eröffnet wird die Ausgabe von Alexandra Ott Müller und Sven Zimmerlin mit einer Analyse der Aufgaben und Möglichkeiten der Jugendstrafrechtspflege. Die Ausführungen gehen von statistischen Erkenntnissen zur Jugendkriminalität aus und zeigen die umfangreichen Möglichkeiten der Jugendstrafrechtspflege im Umgang mit Kindern und Jugendlichen im Umfeld von Gewalt auf, und zwar mit Fokus auf den Kanton Zürich. Praxisbeispiele veranschaulichen den stark spezialpräventiven und interdisziplinären Charakter des Jugendstrafrechts sowie das Zusammenwirken der Jugendanwaltschaften mit den Jugenddiensten der Polizeikorps, der Jugendforensik und den Zivilbehörden zur Bewältigung dieses Phänomens.

Andrea Selle befasst sich nachfolgend mit der Erfüllung sicherheitspolizeilicher Aufgaben durch Private. Der Beitrag setzt sich mit dem Vorgang einer solchen Privatisierung auseinander und analysiert die in diesem Zusammenhang vorgesehenen Staatshaftungsmodelle, und zwar mit Blick auf die Rechtsstellung der geschädigten Person und den schadensgeneigten Bereich, in dem private Sicherheitsunternehmen für den Staat tätig werden.

Monika Simmler und Giulia Canova thematisieren in ihrem Aufsatz die Nutzung öffentlich zugänglicher Informationen durch Strafverfolgungsbehörden. Die Bearbeitung von Personendaten im Rahmen von sog. „Open Source Intelligence“ (OSINT) berührt Art. 13 Abs. 2 BV; hierdurch werden strafprozessuale Fragen aufgeworfen. Bei der Beurteilung der Invasivität von OSINT-Massnahmen sind ihr Zweck, die Art der bearbeiteten Daten und zu überwindende technische Hürden zu bedenken. Die Auseinandersetzung mit den strafprozess-, verfassungs- und konventionsrechtlichen Grundlagen zeigt nach Auffassung der Autorinnen, dass das geltende Recht nur minimalinvasive Open Source-Recherchen, nicht jedoch eingriffsintensivere Massnahmen abdeckt. Eine explizite innerstaatliche Regulierung wäre in Anbetracht der Praxisrelevanz dieser Ermittlungsmethode angezeigt.

Die vorliegende Ausgabe schliesst mit einem Bericht über die Fachtagung Bedrohungsmanagement vom 2. November 2023, in deren Rahmen neue Ansätze der Prävention von Gewalt, Best Practices und Erkenntnisse aus der Wissenschaft thematisiert wurden.

Wir wünschen Ihnen, geschätzte Leserinnen und Leser, eine anregende Lektüre und erlauben uns noch auf die Möglichkeit eines Print-Abonnements hinzuweisen.

Tilmann Altwicker
Goran Seferovic
Franziska Sprecher
Stefan Vogel
Sven Zimmerlin

GRUNDLAGEN

Alexandra Ott Müller / Sven Zimmerlin*

Kinder und Jugendliche im Umfeld von Gewalt – Aufgaben und Möglichkeit der Jugendstrafrechtspflege

Der Beitrag analysiert die Aufgaben und Möglichkeiten der Jugendstrafrechtspflege. Ausgehend von statistischen Ausführungen zur Jugendkriminalität im Allgemeinen und zur Jugendgewalt im Besonderen skizzieren die Autoren die Kernelemente des Jugendstrafrechts und -strafverfahrens, um diese hernach auf die Gewaltdelinquenz und das Bedrohungsmanagement bei jugendlichen Tätern, Opfern und Gefährdern anzuwenden. Nachfolgend werden die umfangreichen Möglichkeiten der Jugendstrafrechtspflege im Umgang mit Kindern und Jugendlichen im Umfeld von Gewalt aufgezeigt, und zwar mit Fokus auf den Kanton Zürich. Zwei Praxisbeispiele veranschaulichen den stark spezialpräventiven und interdisziplinären Charakter des Jugendstrafrechts sowie das Zusammenwirken der Jugendanwaltschaften mit den Jugenddiensten der Polizeikorps, der Jugendforensik und den Zivilbehörden zur Bewältigung dieses Phänomens.

* Sven Zimmerlin ist ehem. Oberjugendanwalt des Kantons Zürich, ehem. Hauptabteilungsleiter Ermittlungen und Mitglied der Geschäftsleitung der Stadtpolizei Winterthur und Polizeibeamter BBT. Seit 2015 ist er als Lehrbeauftragter für Strafrecht und Strafprozessrecht an der UZH tätig. Ab Sommer 2024 wird er zudem als Dozent für Strafrecht und Strafprozessrecht an der ZHAW beschäftigt sein. Er hat an der UZH studiert und promoviert sowie einen Executive Master Law & Management an der HSG erworben.
Lic. iur. Alexandra Ott Müller ist Leitende Jugendanwältin der Jugendanwaltschaft Winterthur. Seit dem Jahr 2010 ist sie in der Jugendstrafrechtspflege des Kantons Zürich tätig. Zuvor arbeitete Alexandra Ott Müller ab dem Jahr 1995 in der Erwachsenenstrafverfolgung in den Kantonen Schaffhausen und Thurgau als Untersuchungsrichterin. Sie ist ehem. Dozentin Opferhilfegesetz an der Polizeischule Ostschweiz.

POLIZEI & MILITÄR

Andrea Selle*

Staatshaftung im Rahmen der Erfüllung sicherheitspolizeilicher Aufgaben durch Private

Die Haftung des Gemeinwesens für widerrechtliches schädigendes Handeln seiner Organe und Beamten im Rahmen der staatlichen Aufgabenerfüllung ist im Grundsatz unumstritten und in Bund und Kantonen weitgehend gesetzlich verankert. Damit wird der Staat auch für Schäden vermögensrechtlich verantwortlich gemacht, welche die Polizei anlässlich der Ausführung sicherheitspolizeilicher Aufgaben einer Person rechtswidrig verursacht. Handelt jedoch nicht der Staat selbst durch die Polizei, sondern wird in dessen Auftrag an seiner Stelle ein privates Sicherheitsunternehmen tätig, wird die Staatshaftung teilweise in Frage gestellt. Obwohl bei der Erfüllung staatlicher – und insbesondere sicherheitspolizeilicher – Aufgaben durch Private das Prinzip der haftungsrechtlichen Gleichstellung der geschädigten Person zu beachten ist, halten diesem Prinzip die in der Schweiz geltenden Staatshaftungsmodelle nicht immer stand. Ausgehend von der Feststellung, dass Private zunehmend in die Wahrnehmung staatlicher Sicherheitspolizeiaufgaben eingebunden werden, setzt sich der vorliegende Beitrag zum einen mit dem Vorgang einer solchen Privatisierung auseinander. Zum anderen analysiert und hinterfragt er die in diesem Zusammenhang vorgesehenen Staatshaftungsmodelle, und zwar mit Blick auf die Rechtsstellung der geschädigten Person und den schadensgeneigten Bereich, in dem private Sicherheitsunternehmen für den Staat tätig werden.
* MLaw Andrea Selle hat an der Universität Zürich Rechtswissenschaften studiert und war wissenschaftlicher Hilfsassistent von Prof. Dr. iur. Regina Kiener am Lehrstuhl für Staats‑, Verwaltungs- und Verfahrensrecht der Universität Zürich. Gegenwärtig ist er Praktikant am Bundesverwaltungsgericht (Abteilung I).

TECHNIK & INFRASTRUKTUR

Monika Simmler / Giulia Canova*

Rechtmässigkeit von Open Source-Ermittlungen durch Strafverfolgungsbehörden

Die Nutzung öffentlich zugänglicher Informationen („Open Source Information“) durch Strafverfolgungsbehörden mag auf den ersten Blick unproblematisch erscheinen, ist jedoch strafprozessrechtlich nicht unbedenklich. Die Bearbeitung von Personendaten im Rahmen von „Open Source Intelligence“ (OSINT) berührt Art. 13 Abs. 2 BV. Das Vorliegen einer Einwilligung durch die Veröffentlichung der Informationen schliesst die Qualifikation als Grundrechtseingriff nicht aus und lässt das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage nicht entfallen, reduziert die Invasivität der Massnahme aber deutlich. Wie diese Abhandlung darlegt, lässt sich allerdings nicht bei jeder OSINT-Methode auf eine Einwilligung schliessen. Einfaches und generatives Web Crawling sind von Web Scraping oder intelligenten Datenweiterberarbeitungen zu unterscheiden. Bei der Beurteilung der Invasivität von OSINT-Massnahmen sind ferner ihr Zweck, die Art der bearbeiteten Daten und zu überwindende technische Hürden einzubeziehen. Die Auseinandersetzung mit den strafprozess-, verfassungs- und konventionsrechtlichen Grundlagen zeigt, dass das geltende Recht nur minimalinvasive Open Source-Recherchen, nicht jedoch eingriffsintensivere Massnahmen abdeckt. Eine explizite innerstaatliche Regulierung wäre in Anbetracht der Praxisrelevanz dieser Ermittlungsmethode angezeigt.

* Prof. Dr. Monika Simmler ist seit April 2021 Assistenzprofessorin für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie sowie Co-Direktorin des Kompetenzzentrums für Strafrecht und Kriminologie an der Universität St. Gallen. Sie hat 2017 an der Universität Zürich promoviert und war von 2016 bis 2018 als Gastforscherin an der Columbia University, der University of Oxford und an der Universität Wien tätig.
Giulia Canova hat Law and Economics an der Universität St. Gallen studiert. Seit 2022 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Kompetenzzentrum für Strafrecht und Kriminologie an der Universität St. Gallen. Sie forscht zur strafprozessrechtlichen Regulierung digitaler Ermittlungen.

TAGUNGSBERICHT

Amos Haag / Vivian Stein / Jonathan Zeller*

7. Fachtagung Bedrohungsmanagement – Reflexion zum Stand der Entwicklungen beim Bedrohungsmanagement

In den letzten Jahren sind die Entwicklungen für den Aufbau von umfassenden, kantonalen Bedrohungsmanagement-Strukturen in der Schweiz vorangeschritten. Qualitätsstandards wurden definiert und auf politischer Ebene zur Umsetzung empfohlen. Die Handlungsfelder der Roadmap gegen Häusliche Gewalt von Bund und Kantonen sowie der Aktionsplan zur Umsetzung der Istanbul-Konvention forcieren diese Anstrengungen. Der Zürcher Regierungsrat legte Gewalt gegen Frauen und Häusliche Gewalt weiterhin als Schwerpunktthemen in der Strafverfolgung für die Legislaturperiode 2023-2026 fest (RRB Nr. 351/2023). Die 7. Fachtagung Bedrohungsmanagement, die am 2. November 2023 in Zürich unter der Leitung von Prof. Dr. Christian Schwarzenegger, Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie an der Universität Zürich, und Dr. iur. Andreas Eckert, leitender Oberstaatsanwalt des Kantons Zürich, stattfand, setzte sich zum Ziel, Einblick in ausgewählte Themen aus diesem Bereich zu geben, sowie neue Ansätze der Prävention von Gewalt, Best Practices und Erkenntnisse aus der Wissenschaft aufzeigen.
* Stud. iur. Amos Haag, BLaw Vivian Stein und MLaw Jonathan Zeller sind wissenschaftliche Assistierende am Lehrstuhl von Professor Christian Schwarzenegger für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie, Universität Zürich. MLaw Jonathan Zeller promoviert im Fachgebiet Strafrecht.