Über die EuZ
Leitartikel
Sarah Progin-Theuerkauf*
Mit Kanonen auf Spatzen: Die geplante Reform des Schengen-Systems
Die ursprüngliche Idee des Schengen-Raumes war es, keine systematischen Personenkontrollen an den Binnengrenzen mehr durchzuführen. Aber stimmt das noch? Sind Kontrollen nicht inzwischen eher die Regel, als die Ausnahme? Wie wird es mit dem Schengen-Raum weitergehen, angesichts immer neuer Krisen? Welche sind die aktuellen Möglichkeiten, Grenzkontrollen wieder einzuführen und wo bestehen hier Schwierigkeiten? Wie soll dies künftig gehandhabt werden? Und wie kann man darauf reagieren, dass bestimmte Staaten absichtlich Migrationsdruck an den Aussengrenzen erzeugen? Diese und viele weitere Fragen untersucht der Beitrag von Sarah Progin-Theuerkauf, der die Vorschläge der EU-Kommission zur Reform des Schengen-Systems von 2021 kritisch unter die Lupe nimmt.
* Sarah Progin-Theuerkauf ist seit 2009 Professorin für Europarecht und Migrationsrecht an der Universität Fribourg. Sie ist zudem Mitglied der Direktion des Zentrums für Migrationsrecht, des Instituts für Europarecht und des Schweizerischen Zentrums für Islam und Gesellschaft. Seit 2021 ist sie Präsidentin des Departements für Internationales Recht und Handelsrecht und Vize-Präsidentin des Senats der Universität Fribourg. Vor ihrer Berufung an die Universität Fribourg war sie Rechtsanwältin in einer Zürcher Wirtschaftskanzlei. Ihre Doktorarbeit verfasste sie zu einem menschenrechtlichen Thema.
Aktuelle Entwicklungen im Europarecht
Allgemeines und Institutionelles
Schweiz/EU: Zweiter Schweizer Beitrag zur Kohäsion
Die EU und die Schweiz haben am 30. Juni 2022 das Memorandum of Understanding (MoU) betreffend den zweiten Schweizer Beitrag an ausgewählte EU-Mitgliedstaaten unterzeichnet. Das MoU benennt die Höhe des Beitrags, die Aufteilung auf die Partnerländer, die thematischen Prioritäten sowie die Prinzipien für die Zusammenarbeit und die Umsetzung des Beitrags. Das MoU bildet damit den Rahmen für die laufenden Gespräche mit den Partnerländern zu den jeweiligen bilateralen Umsetzungsabkommen. Diesbezügliche Verhandlungen sollen nun rasch vorangetrieben und möglichst in diesem Jahr abgeschlossen werden.
Verzahnung von grünem und digitalem Wandel
Die Europäische Kommission hat am 29. Juni 2022 die Strategische Vorausschau 2022 veröffentlicht. Diese stellt die Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt digitaler Transformation und hat zum Ziel, grösstmögliche Synergien und Kohärenz in den Bereichen Klimaschutz und Digitalisierung zu schaffen. Der Bericht bietet eine langfristige Perspektive auf die Arbeit der Europäischen Kommission. Seit 2020 wird auf der Grundlage umfassender Prognosezyklen eine jährliche strategische Vorausschau erstellt. Sie dient als Grundlage für die Prioritäten der Kommission gemäss der jährlichen Rede zur Lage der Union, dem Arbeitsprogramm der Kommission und der mehrjährigen Programmplanung.
Tschechien übernimmt Ratsvorsitz
Zum 1. Juli 2022 hat Tschechien von Frankreich die EU-Ratspräsidentschaft für die kommenden sechs Monate übernommen (am 1. Januar 2023 folgt Schweden). Zu den fünf Prioritäten der tschechischen Präsidentschaft gehören neben der Energiesicherheit die Bewältigung der Flüchtlingskrise und der Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg, die Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeiten und die Sicherheit des Cyberspace, die strategische Widerstandsfähigkeit der europäischen Wirtschaft und die Widerstandsfähigkeit der demokratischen Institutionen. Das Motto der tschechischen Ratspräsidentschaft nimmt Bezug auf ein Zitat des ehemaligen Präsidenten Vaclav Havel: „Europa als Aufgabe“ (Rede im Jahr 1996 in Aachen). Die Tschechische Republik will sich zudem als Teil Westeuropas präsentieren – nicht als Teil Osteuropas.
Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien
Die Europäische Union hat am 19. Juli 2022 Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien aufgenommen. Nordmazedonien war bereits seit 2005 offizieller EU-Beitrittskandidat, Albanien seit 2014. Die Europäische Kommission hatte bereits 2019 bzw. 2018 empfohlen, die Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Als nächstes werden die Verhandlungsrahmen mit beiden Staaten vorgestellt bevor anschliessend das sogenannte Screening beginnen kann. Dabei prüft die Kommission, in welchen Bereichen das nationale Recht des Kandidatenlandes noch an die EU-Rechtsvorschriften (Besitzstand der EU, auch „Aquis“ genannt) angeglichen werden muss. Im nächsten Schritt kann die Kommission empfehlen, die Verhandlungen über die 35 thematischen Kapitel zu beginnen. Die Entscheidung darüber treffen die Mitgliedsstaaten, auch dafür ist wieder Einstimmigkeit nötig.
Bericht zu Vertragsverletzungsverfahren 2021
Die Europäische Kommission hat am 15. Juli 2022 ihren Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts veröffentlicht. Neben Länderberichten enthält der Bericht erstmals auch spezifische Empfehlungen für jeden Mitgliedstaat. Der Bericht untersucht die Justizsysteme, den Antikorruptionsrahmen, den Medienpluralismus und institutionelle Fragen in Zusammenhang mit der Gewaltenteilung. Er kommt zu dem Schluss, dass in der Union einerseits weiterhin positiv zu bewertende Reformen stattfinden, andererseits ernste Bedenken in Bezug auf manche Mitgliedstaaten bestehen bleiben. Darüber hinaus hat die Kommission auch ihre regelmässigen Beschlüsse über Vertragsverletzungsverfahren veröffentlicht. Im vergangenen Jahr hat die Europäische Kommission 847 neue Vertragsverletzungsverfahren gegen die EU-Staaten eingeleitet.
Arbeitsrecht
Standards zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben
Mit einer Richtlinie von 2019 zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige wurden europaweit diesbezügliche Standards vorgeschrieben. Ziel der Richtlinie ist es, die Gleichstellung von Männern und Frauen bei ihren Arbeitsmarktchancen und bei der Behandlung am Arbeitsplatz weiter zu fördern. Konkret enthalten die Vorschriften Mindeststandards für Vaterschafts-, Eltern- und Pflegeurlaub und legen zusätzliche Rechte fest, wie z. B. das Recht, flexible Arbeitsregelungen zu beantragen. Die Richtlinie war von den Mitgliedstaaten bis zum 2. August 2022 in nationales Recht umzusetzen. Insgesamt 12 Mitgliedstaaten sind indes säumig, darunter Spanien, Portugal, Polen und Deutschland.
Transparente und vorhersehnbare Arbeitsbedingungen
Per Richtlinie von 2019 wurde reglementiert, dass Arbeitnehmende umfassend, zeitnah und schriftlich in leicht zugänglicher Form über ihre wesentlichen Arbeitskonditionen zu informieren sind. Konkret sieht die Richtlinie die erweiterte der Pflicht des Arbeitgebers zur Unterrichtung über die wesentlichen Aspekte des Arbeitsverhältnisses und die Festlegung von Mindestanforderungen an die Arbeitsbedingungen in Bezug auf die Höchstdauer einer Probezeit, Mehrfachbeschäftigung, Mindestvorhersehbarkeit der Arbeit, etc. Die Richtlinie war bis zum 2. August 2022 von allen Mitgleidstaaten umzusetzen; nur 14 Mitgliedstaaten haben indes bislang nationale Gesetzgebungsmassnahmen ergriffen.
Beschäftigungsbericht 2021
Die Europäische Kommission hat am 12. Juli 2022 ihren jährlichen Bericht über die Beschäftigung und die sozialen Entwicklungen in Europa veröffentlicht. Darin stellt sie fest, dass junge Menschen (unter 30 Jahren) durch die von der COVID-19-Pandemie ausgelösten Wirtschaftskrise mit am stärksten betroffen waren und sind. Für sie ist es weiterhin schwierig, einen Arbeitsplatz zu finden oder einen Arbeitsplatz zu finden, der ihren Fähigkeiten und Erfahrungen entspricht.
Energie
Notfallplan Gas: EU-Staaten sollen Gasverbrauch freiwillig um 15 % senken
Der Rat hat am 5. August 2022 eine neue Verordnung über eine freiwillige Senkung der Erdgasnachfrage um 15 % in diesem Winter angenommen. Konkret einigten sich die Mitgliedstaaten darauf, ihren Gasverbrauch zwischen dem 1. August 2022 und dem 31. März 2023 mit Massnahmen ihrer Wahl um 15 % gegenüber ihrem Durchschnittsverbrauch der letzten fünf Jahre zu senken. Dabei gibt es allerdings auch Ausnahmen: Mitgliedstaaten, die nicht an die Gasnetze anderer Mitgliedstaaten angeschlossen sind, sind von den verpflichtenden Gasnachfragesenkungen ausgenommen. Ebenfalls ausgenommen sind Mitgliedstaaten, deren Stromnetze nicht mit dem europäischen Elektrizitätssystem synchronisiert sind und die für die Stromerzeugung in höherem Masse auf Gas angewiesen sind. Zusätzlich sieht die Verordnung die Möglichkeit vor, dass der Rat einen „Unionsalarm“ zur Versorgungssicherheit auslöst; in diesem Fall würde die Senkung der Gasnachfrage verpflichtend.
Regionalpolitik
Massnahmenpaket zur Bewältigung der Folgen des russischen Angriffs
Die Europäische Kommission hat am 29. Juni 2022 ein Massnahmenpaket zur Bewältigung der Folgen des russischen Angriffskriegs vorgelegt. Teil davon ist insbesondere ein Verordnungsvorschlag zur flexibleren Unterstützung von lokalen Behörden und Partnern bei Einsatz von Kohäsionsmitteln. Bereits im Rahmen von CARE-Programms (Cohesion’s Action for Refugees in Europe – Einsatz von Kohäsionsmitteln zugunsten von Flüchtlingen in Europa) wurden Investitionen in den Bereichen Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Übersetzungsdienste oder Ausbildung von Vertriebenen sowie zugunsten der Aufnahmeländer mobilisiert. Da der Bedarf jedoch weiter wächst, forderten der Europäische Rat, das Europäische Parlament und die Regionen der EU die Kommission auf, neue Initiativen im Rahmen des mehrjährigen Finanzrahmens vorzuschlagen, um die einschlägigen Anstrengungen der Mitgliedstaaten zu unterstützen.
Entsprechend umfasst das Massnahmenpaket Änderungen der Rechtsvorschriften der Kohäsionspolitik für die Zeiträume 2014–2020 und 2021–2027, die die Bereitstellung der Unterstützung der Mitgliedstaaten für die Integration von Drittstaatsangehörigen weiter beschleunigen und vereinfachen und gleichzeitig die Erholung der Regionen von der COVID-19-Pandemie fördern sollen.
Verbraucherschutz
EuGH: Käse aus Dänemark darf auch bei Export in Drittländer nicht „Feta“ heissen
Mit Urteil vom 14. Juli 2022 hat der EuGH festgestellt, dass Dänemark dadurch gegen seine Verpflichtungen verstossen habe, dass es die Verwendung der Bezeichnung „Feta“ für im Inland hergestellten Käse, der zur Ausfuhr in Drittländer bestimmt ist, nicht unterbunden habe. Der Schutz der Bezeichnung „Feta“ greife auch beim Export in Drittländer, so der EuGH. Die Bezeichnung „Feta“ ist eine geschützte Ursprungsbezeichnung (g. U.) und darf nur für bestimmten Käse aus einem bestimmten geografischen Gebiet in Griechenland verwendet werden.
Leitfaden zur einheitlichen Umsetzung der EU-Produktvorschriften
Die Europäische Kommission hat am 29. Juni 2022 eine überarbeitete Version ihres sogenannten „Blauen Leitfadens“ veröffentlicht. Damit sollen die Produktvorschriften (z.B. für Medizinprodukte, Spielzeug, Messinstrumente, Funkanlagen und Düngemittel) einheitlich im ganzen Binnenmarkt umgesetzt werden. Der „Blaue Leitfaden“ enthält ausserdem Erläuterungen und Ratschläge zum europäischen System der Konformitätsbewertung, zur Akkreditierung von Laboratorien, zur CE-Kennzeichnung und zur Marktüberwachung.
Zehn weitere Jahre Roaming ohne zusätzliche Kosten
Am 1. Juli 2022 ist die neue EU-Roaming-Verordnung in Kraft getreten. Sie verlängert das „Roaming zu Inlandspreisen“ bis zum Jahr 2032. Damit können Reisende in der EU und im EWR weiterhin ohne zusätzliche Gebühren aus dem Ausland anrufen, SMS schreiben und im Internet surfen.
Wettbewerb
Konsultation zu Verfahrensvorschriften im Kartellbereich
Die Europäische Kommission führt bis zum 6. Oktober 2022 zeitgleich eine Sondierung und eine öffentliche Konsultation über die EU-Verfahrensvorschriften im Kartellbereich durch. Die EU-Verfahren zur Durchsetzung des Kartellrechts sind mittlerweile 20 Jahre alt. Seither hat sich vieles geändert, was eine Anpassung der Regelungen erforderlich macht. Die Evaluation bezieht sich im Schwerpunkt auf die Verordnung (EG) Nr. 1/2003 und die zugehörige Durchführungsverordnung (EG) Nr. 773/2004, welche eine wirksame und einheitliche Anwendung der Kartellvorschriften im EU-Vertrag (Art. 101 und 102 EUV) gewährleisten sollen.
Wirtschaft und Finanzen
Neuer Rechtsrahmen zu Kryptowährungen
Das Europäische Parlament und der Rat haben sich am 1. Juli 2022 auf einen neuen Rechtsrahmen zu Kryptowährungen geeinigt. Es handelt sich um eine neue Verordnung über Märkte für Kryptowerte („MiCA“) sowie um eine Revision der Verordnung über Mittelübertragungen. Die neue Verordnung dient dem Schutz der Verbraucher, der Marktintegrität sowie der Finanzstabilität. Sie soll einen klaren Rechtsrahmen in der EU schaffen, der weitere Innovationen auf einer sicheren und soliden Grundlage ermöglicht. Die neue Verordnung gilt für Kryptowerte, die nicht bereits durch andere EU-Finanzvorschriften geregelt sind. Für „Stablecoins“ sind strenge Anforderungen an die Einrichtung, Zulassung und Verwaltung von Reserven vorgesehen, einschliesslich der EU-Aufsicht für signifikante „Stablecoins“, die systemrelevant sind. Anbieter von Krypto-Dienstleistungen müssen ebenfalls in der EU zugelassen werden und können daher ihre Dienstleistungen in der gesamten Union unter Verwendung des EU-Passes erbringen.