Über die EuZ
Leitartikel
Christina Neier *
Recht und Regieren der EU in Krisenzeiten – das Exempel „Next Generation EU“
Die Europäische Union war in den vergangenen Jahren mit zahlreichen Krisen konfrontiert, darunter die COVID-19-Pandemie. Dieser Beitrag analysiert das Recht und Regieren der EU in dieser Krise entlang zweier altbekannter Topoi. Erstens gilt der alte Topos „Not kennt kein Gebot“ in der EU nicht, denn sie kennt ein Unionsausnahmeverfassungsrecht, welches die unionalen Handlungsmöglichkeiten in Krisenzeiten regelt. Zweitens zeigt die Analyse des bislang grössten EU-Wiederaufbauprogramms „Next Generation EU“ anhand des zweiten Topos „Die Ausnahmesituation ist die Stunde der Exekutive“, dass die COVID-19-Pandemie eine Stunde der EU-Mitgliedstaaten und der EU-Kommission war, nicht aber des demokratisch stark legitimierten Europäischen Parlaments.
* Dr. iur. Christina Neier, Bsc., ist Habilitandin an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich (UZH Alumni FAN- und UZH Postdoc Stipendiatin) sowie Lehrbeauftragte der FernUni Schweiz und der Universität Luzern. Ihre Forschungsschwerpunkte sind das Recht der Europäischen Union, des Europäischen Wirtschaftsraums, der bilateralen Beziehungen Schweiz-EU sowie der europäische Menschenrechtsschutz und das vergleichende Verfassungsrecht.
Aktuelle Entwicklungen im Europarecht
Allgemeines und Institutionelles
Neue Anti-Geldwäsche-Agentur in Frankfurt
Als Teil eines Legislativpakets zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung hatte die Europäische Kommission im Juli 2021 die Errichtung einer Anti-Geldwäsche-Agentur vorgeschlagen. Am 22. Februar 2024 konnten sich das Europäische Parlament und der Rat nunmehr darauf einigen, dass diese Agentur in Frankfurt am Main errichtet wird.
Jahresbericht über den Binnenmarkt
Am 14. Februar 2024 veröffentlichte die Europäische Kommission den neuen Jahresbericht über den Binnenmarkt und die Wettbewerbsfähigkeit der EU. Berücksichtigte Faktoren bei der Beurteilung des Funktionierens des Binnenmarkts sind insb. der Zugang zu Kapital aus der Privatwirtschaft, öffentliche Investitionen und Infrastruktur, Forschung und Innovation, Digitalisierung und Bildung. Der Bericht stellt fest, dass sich viele der festgelegten Leistungsindikatoren verbessert, einige jedoch auch verschlechtert haben bzw. gleich geblieben sind. Im Hinblick auf Investitionen lautet eine Feststellung des Berichts, dass sich die öffentlichen Investitionen seit ihrem Tiefststand während der Finanzkrise erholt haben, was zum Teil der Aufbau- und Resilienzfazilität zu verdanken ist, während die privaten Investitionen nach wie vor hoch sind. Die hohen Energiepreise sind nach wie vor eine Herausforderung, doch werden im Bericht wichtige Schritte der letzten Jahre hervorgehoben, mit denen das energiepolitische Instrumentarium der EU auf den neuesten Stand gebracht und die Herstellung sauberer Technologien in der EU gefördert wurden. Auch wird die Rolle der EU als bedeutende Handelsmacht betont, auf die 16 % der weltweiten Ausfuhren entfallen, wobei der Handel weiterhin eine Stütze der Wettbewerbsfähigkeit sei.
Arbeitsrecht
EuGH: Information zu Kündigungsgründen
Der EuGH hat mit Urteil vom 20. Februar 2024 festgestellt, dass das Unionsrecht einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Arbeitgeber die ordentliche Kündigung eines befristeten Arbeitsvertrags nicht begründen muss, obwohl für die Kündigung eines unbefristeten Arbeitsvertrags eine solche Begründungspflicht besteht. In diesem Fall werde dem befristet beschäftigten Arbeitnehmer eine Information vorenthalten, die für die Beurteilung von Bedeutung ist, ob die Kündigung ungerechtfertigt ist, und ob gegebenenfalls gerichtlich dagegen vorgegangen werden soll. Da diese Ungleichbehandlung das Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf verletzt, hat das nationale Gericht, das über einen Rechtsstreit zwischen Privatpersonen zu entscheiden hat, die nationale Regelung soweit erforderlich unangewendet zu lassen, wenn es diese nicht unionsrechtskonform auslegen kann.
Beziehungen Schweiz – EU
Freihandelsabkommen Schweiz-Moldau
Der Bundesrat hat am 21. Februar 2024 die Botschaft zum Freihandelsabkommen zwischen den EFTA-Staaten und Moldau verabschiedet. Die Botschaft wird zur Genehmigung an die eidgenössischen Räte überwiesen. Moldau ist der erste Partnerstaat, mit dem die EFTA ein umfassendes Kapitel über elektronischen Handel sowie ihr neues Modellkapitel zu Handel und nachhaltigen Entwicklung vereinbart hat. Das Abkommen ist weitreichend und modern. Es entspricht den neueren mit Drittstaaten abgeschlossenen FHA der EFTA und beinhaltet einen sektoriell umfassenden Geltungsbereich. Dieser umfasst Bestimmungen zu Handel mit Industriegütern, zu verarbeiteten und unverarbeiteten Landwirtschaftsprodukten, technischen Handelshemmnissen, sanitären und phytosanitären Massnahmen, Ursprungsregeln, Handelserleichterungen, Handel mit Dienstleistungen, Investitionen, Schutz des geistigen Eigentums, zu Wettbewerb, öffentlichem Beschaffungswesen und Streitschlichtung.
Bundesrat führt Aussprache zur Entwaldungsverordnung der EU
Der Bundesrat hat am 14. Februar 2024 eine Aussprache über den Umgang mit der Entwaldungsverordnung der EU und die damit verbundenen Folgen für die Schweiz geführt. Der Bundesrat sieht vorderhand keine Anpassung des Schweizer Rechts vor. Er beauftragt jedoch die Bundesverwaltung, unterstützende Massnahmen für die betroffenen Unternehmen zu prüfen und weitere Abklärungen zu treffen.
Kommunikation und Medien
Verordnung über digitale Dienste in Kraft
Am 17. Februar 2024 ist ein weiterer Teil der Verordnung über einen Binnenmarkt für digitale Dienste (sog. „Digital Services Act“) in Kraft getreten. Die Vorschriften, die seit 2023 bereits für sehr grosse Plattformen und Suchmaschinen gelten, gelten nun für alle Plattformen und Hostingdienste. Entsprechende Dienste müssen demnächst verschiedene Nutzerschutzmassnahmen ergreifen, darunter die Bekämpfung illegaler Inhalte, der Schutz von Minderjährigen, die Aufklärung der Nutzer/innen über die ihnen angezeigte Werbung und die Unterbindung von Werbung, deren Ausrichtung auf sensiblen Daten der Nutzer/innen beruht.
Migration
EuGH: Familienzusammenführung von Flüchtlingen
Der EuGH hat in seinem Urteil vom 30. Januar 2024 in der Rechtssache C-560/20 entschieden, dass ein als Flüchtling anerkannter unbegleiteter Minderjähriger das Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern auch dann hat, wenn er während des Verfahrens auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist. Andernfalls würde dem Flüchtling de facto sein Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern genommen.
Strafrecht
EuGH: Speicherung biometrischer Daten von Straftätern
In seinem Urteil vom 30. Januar 2024 in der Rechtssache C-118/22 hat der EuGH festgestellt, dass es gegen das Unionsrecht verstösst, wenn biometrische und genetische Daten strafrechtlich verurteilter Personen ohne weitere zeitliche Einschränkung bis zum Tod der betroffenen Person gespeichert werden. Auch wenn diese allgemeine und unterschiedslose Speicherung durch die Verhütung, Ermittlung, Aufdeckung und Verfolgung von Straftaten oder die Vollstreckung strafrechtlicher Sanktionen gerechtfertigt ist, müssen die nationalen Behörden den Verantwortlichen verpflichten, regelmässig zu überprüfen, ob diese Speicherung noch notwendig ist, und der betroffenen Person das Recht auf Löschung dieser Daten zuerkennen, wenn dies nicht mehr der Fall ist.
Umwelt
Klimaneutralität bis 2050
Die Kommission peilt ein neues Etappenziel auf dem Weg der Union zur Klimaneutralität bis 2050 an. Sie empfiehlt, die Nettotreibhausgasemissionen bis 2040 um 90% gegenüber dem Stand von 1990 zu verringern, was mit den jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnissen und den EU-Verpflichtungen im Rahmen des Übereinkommens von Paris im Einklang steht. Um das 90%-Ziel bis 2040 zu erreichen, sind verschiedene Massnahmen erforderlich, u.a. die Dekarbonisierung der Industrie, der Ausbau heimischer Kapazitäten in Wachstumsbranchen sowie ein offener Dialog mit allen Betroffenen.
Neue Grenzwerte für Feinstaub
Das Europäische Parlament und der Rat haben am 21. Februar 2024 eine politische Einigung über neue Luftqualitätsnormen erzielen können. Mit der überarbeiteten Luftqualitätsrichtlinie wird der Jahresgrenzwert für den Hauptschadstoff Feinstaub um mehr als die Hälfte gesenkt. Eine regelmäßige Überprüfung der Luftqualitätsnormen, um sie im Einklang mit den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen sowie den gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen neu zu bewerten, soll dazu beitragen, die EU in Synergie mit den Bemühungen um Klimaneutralität auf einen Kurs zu bringen, um bis spätestens 2050 das Null-Schadstoff-Ziel für die Luft zu erreichen.
Wirtschaft und Finanzen
Reform des EU-Rahmens für die wirtschaftspolitische Steuerung
Das Europäische Parlament und der Rat konnten sich am 10. Februar 2024 auf eine Reform der Verordnung 1466/97 für die wirtschaftspolitische Steuerung einigen. Die Hauptziele des neuen Rahmens sind die Stärkung der Schuldentragfähigkeit der Mitgliedstaaten und die Förderung eines nachhaltigen und integrativen Wachstums in allen Mitgliedstaaten. Sie sollen durch wachstumsfördernde Reformen und vorrangige Investitionen erreicht werden. Durch Förderung des Übergangs zu einer grünen, digitalen, integrativen und widerstandsfähigen Wirtschaft soll die EU wettbewerbsfähiger und besser auf künftige Herausforderungen vorbereitet werden.
Stärkung der wirtschaftlichen Sicherheit
Vor dem Hintergrund aktueller geopolitischer Spannungen hat die Europäische Kommission zur Stärkung der wirtschaftlichen Sicherheit der EU eine Reihe von Massnahmen in Bezug auf Handel vorgeschlagen, so u.a. eine verbesserte Prüfung ausländischer Investitionen in der EU sowie eine stärkere Koordinierung der Ausfuhr von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck aus der EU. Im Bereich der Forschung prüft die Kommission, wie sie Forschung und Entwicklung in Bezug auf Technologien unterstützen kann, die für unterschiedliche Zwecke eingesetzt werden können, und wie die Forschungssicherheit in der gesamten EU verbessert werden kann.