EuZ - Zeitschrift für Europarecht

Ausgabe 02 / 2024

Recht und Regieren der EU in Krisenzeiten – das Exempel „Next Generation EU“

Christina Neier*

Die Europäische Union war in den vergangenen Jahren mit zahlreichen Krisen konfrontiert, darunter die COVID-19-Pandemie. Dieser Beitrag analysiert das Recht und Regieren der EU in dieser Krise entlang zweier altbekannter Topoi. Erstens gilt der alte Topos „Not kennt kein Gebot“ in der EU nicht, denn sie kennt ein Unionsausnahmeverfassungsrecht, welches die unionalen Handlungsmöglichkeiten in Krisenzeiten regelt. Zweitens zeigt die Analyse des bislang grössten EU-Wiederaufbauprogramms „Next Generation EU“ anhand des zweiten Topos „Die Ausnahmesituation ist die Stunde der Exekutive“, dass die COVID-19-Pandemie eine Stunde der EU-Mitgliedstaaten und der EU-Kommission war, nicht aber des demokratisch stark legitimierten Europäischen Parlaments.

* Dr. iur. Christina Neier, Bsc., ist Habilitandin an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich (UZH Alumni FAN- und UZH Postdoc Stipendiatin) sowie Lehrbeauftragte der FernUni Schweiz und der Universität Luzern (christina.neier@ius.uzh.ch)

Titelbild EuZ 02/2024

Inhalt

  1. Prolog
  2. Recht und Regieren in Krisenzeiten – Topoi
  3. Recht der EU in Krisenzeiten
    1. Not kennt kein Gebot – der Klassiker
    2. Not kennt Gebot – die Moderne
    3. Not kennt unionsrechtliche Gebote:
      das Unionsausnahmeverfassungsrecht

      1. Korpus
      2. Bedeutung
  4. Regieren der EU in Krisenzeiten
    1. Die Stunde der Exekutive
    2. Zum unionalen Organgefüge im Allgemeinen
    3. „Next Generation EU“ als Exempel
      1. Der politische Weg
      2. Die Dreifachabstützung
      3. Rückschlüsse auf das unionale Organgefüge
  5. Fazit

A. Prolog

Wie auch die ECSA Suisse Dreiländertagung 2023[1]Dieser Beitrag beruht auf einem im Oktober 2023 an der ECSA (European Community Studies Association) Suisse Dreiländertagung gehaltenen Vortrag. bewies: Es gibt eine gewisse „Lust an der Krise“[2]Heike Delitz, Über die Lust an der Krise. Bericht vom 37. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, 6.-10. Oktober 2014 in Trier, SozW 2015, S. 95–103.. In der Europäischen Union fordert die jüngste Kumulation von Krisen[3]Der Begriff „Krise“ wird hier nicht als ein rechtlicher, sondern als heuristischer Begriff verwendet; so auch Anna-Bettina Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, Tübingen 2020, S. 68–70. Erfasst … Continue reading das Unionsrecht einmal mehr heraus – so die Eurokrise, die Migrationskrise, die Coronakrise und die kürzlich aufgetretene Energiekrise. Pointiert erfasste der ehemalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker dieses Phänomen mit dem Begriff „Polykrise“[4]Jean-Claude Juncker, Rede beim Festakt des Europäischen Forums Alpbach, Alpbach am 21.08.2016, <https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/SPEECH_​16_​2863> (zuletzt … Continue reading. Von der Lust am Unionsrecht in der Krise speist sich dieser Beitrag.

Stand noch vor drei Jahrzehnten das Erschaffen von (Gemeinschafts- resp.) Unionsverfassungsrecht im Vordergrund – man denke nur an die zahlreichen Vertragsänderungen in den 1990er und 2000er Jahren –, verlangen die verschiedenen Krisen der letzten 15 Jahre nach einer Stabilisierung durch das Unionsverfassungsrecht. In Krisenzeiten wird auf das vorhandene Arsenal an Handlungsoptionen zurückgegriffen und versucht, zur „Normalität“[5]Zum Begriff der Normalität siehe Tristan Barczak, Der nervöse Staat. Ausnahmezustand und Resilienz des Rechts in der Sicherheitsgesellschaft, 2. Aufl., Tübingen 2021, S. 108–116. zurückzukehren. Dabei haben die zur Verfügung stehenden Instrumente oftmals Ausnahmecharakter: Erlaubt ist, unter den gegebenen Umständen, von der Regel abzuweichen. Das gilt für das „Ob“ und das „Wie“ gleichermassen. In Krisenzeiten ist die öffentliche Entscheidungsgewalt befugt, mit besonderen Verfahren besondere Massnahmen zu ergreifen.

Die Corona-Pandemie war hiervon keine Ausnahme. Sie erforderte rasches, unionsweites Handeln. Und während in der Eurokrise noch in grossem Umfang auf völkerrechtliche Instrumente zurückgegriffen wurde,[6]So die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) und der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM); dahingegen stützte sich der – allerdings im Umfang begrenzte – Europäische … Continue reading gelang es den Unionsorganen, diese Gesundheitskrise mit Massnahmen innerhalb des Unionsrechts zu bewältigen. Die bedeutsamste dieser Massnahmen war das Wiederaufbauprogramm Next Generation EU (kurz: NGEU). Zugleich ist es ein illustratives Beispiel für ein neuartiges EU-Instrument, das durch ein eindrückliches Zusammenspiel der Unionsorgane zustande kam.

B. Recht und Regieren in Krisenzeiten – Topoi

In der (deutschsprachigen) rechtswissenschaftlichen Literatur zu Recht und Regieren in Krisenzeiten tauchen immer wieder bestimmte Thesen bzw. Topoi auf.[7]M.w.N. Kaiser (Fn. 3), S. 24–34. Ein zentraler Topos ist schon einige Jahrhunderte alt und lautet: „Not kennt kein Gebot“ bzw. im Lateinischen „necessitas legem non habet“. Mit anderen Worten: In einer faktischen Krisensituation finden Rechtsnormen keine Anwendung mehr. Ein weiterer wichtiger Topos ist etwas jüngeren Datums. Er geht auf den ehemaligen deutschen Bundesminister Gerhard Schröder zurück, der 1960 konstatierte: „Die Not ist die Stunde der Exekutive“[8]Gerhard Schröder (CDU), Protokolle des Deutschen Bundestages, 3. Wahlperiode, 124. Sitzung, 28. September 1960, S. 7177 C..

Dieser zweite Topos steht in engem Zusammenhang mit ersterem. Das Verfassungsrecht und die ebendort verankerte Gewaltenteilung seien für die Normallage konzipiert. In Krisenzeiten müsse davon vorübergehend abgewichen werden, indem die Regierung gestärkt und die Rechte des Volkes geschwächt werden.[9]Clinton Rossiter, Constitutional Dictatorship, 6. Aufl., Princeton 2009, S. 5; hierzu auch Kaiser (Fn. 3), S. 30. Beide Topoi sind rechtsordnungsunspezifisch. Sie beanspruchen verallgemeinerungsfähige Beobachtungen und lassen sich als verfassungstheoretische Thesen an jeder Verfassung, auch jener des Unionsrechts, überprüfen.[10]Kaiser (Fn. 3), S. 24 f.

Sie dienen daher hier als Hintergrundfolie für die Analyse des Umgangs mit Recht und Regieren der EU in Krisenzeiten. Der folgende Abschnitt widmet sich unter dem ersten Topos dem Recht der EU in Krisenzeiten und etabliert das Unionsausnahmeverfassungsrecht. Anschliessend wird im Sinne des zweiten Topos der Frage nachgegangen, für wen in der Coronakrise bei der Errichtung von Next Generation EU die Stunde geschlagen hat.

C. Recht der EU in Krisenzeiten

I. Not kennt kein Gebot – der Klassiker

Der Gemeinplatz „Not kennt kein Gebot“ lässt sich bis ins Mittelalter – und weiter – zurückverfolgen.[11]M.w.N. Horst Fuhrmann, Einladung ins Mittelalter, 5. Aufl., 1997, S. 256 f. Zum Ursprung des Prinzips im Decretum Gratiani siehe Giorgio Agamben, Ausnahmezustand, Frankfurt am Main 2004, S. 33 f. Auch heute noch taucht er regelmässig in rechtswissenschaftlichen[12]Siehe beispielhaft Peter Häberle & Markus Kotzur, Die Covid-19-Pandemie aus der kulturwissenschaftlichen Perspektive einer europäischen und universalen Verfassungslehre, NJW 2021, … Continue reading und journalistischen[13]Siehe beispielhaft Thomas Allmendinger, „Not kennt kein Gebot“, NZZ vom 9.10.2008. Abhandlungen auf.

Als klassischer Vertreter dieses Topos gilt Carl Schmitt.[14]Matthias Jestaedt, Carl Schmitt (1888-1985), in: Häberle/Kilian/Wolff (Hrsg.), Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts, Berlin/Boston 2015, S. 313–336, S. 321. Seiner berühmten Schrift „Politische Theologie“ von 1922 zufolge gilt die Rechtsordnung nur in der Normallage; der über den „Ausnahmezustand“[15]Zum offenen und umstrittenen Begriff des Ausnahmezustands statt vieler Kaiser (Fn. 3), S. 49–53, und Barczak (Fn. 5), S. 74–85. entscheidende Souverän stehe „außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung“[16]Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 11. Aufl., Berlin 2021, S. 14.. Im Ausnahmefall trete das Recht zurück,[17]Ibid., S. 18. und es obliege dem Souverän, ohne rechtliche Schranken und ohne oppositionelle Instanzen, Entscheidungen zur Abwendung der Not zu treffen.[18]Ibid., S. 13 ff. (vgl. ibid. auch auf S. 9: „Es gibt keine Norm, die auf ein Chaos anwendbare wäre. Die Ordnung muß hergestellt sein, damit die Rechtsordnung einen Sinn hat.“).

So oft wie Schmitt als der „Theoretiker des Ausnahmezustands“ nach wie vor angeführt wird, so oft wird seine Theorie (und er selbst)[19]Mit zunehmendem zeitlichen Abstand verlagere sich die Auseinandersetzung hingegen von der Person zum Werk, so Jestaedt (Fn. 14), S. 327. kritisiert. Böte das Recht nicht Hand, Krisen[20]Dabei ist freilich zu berücksichtigen, dass Schmitt mit dem Ausnahmezustand, ohne hierfür eine konkrete Definition zu liefern, in erster Linie an bürgerkriegsähnliche Zustände gedacht hat (so … Continue reading zu bewältigen, würde auf dessen Steuerungspotenzial verzichtet.[21]Kaiser (Fn. 3), S. 26. Zudem könne in einem demokratischen Rechtsstaat die Staatsgewalt nicht von der Verfassung entbunden werden; sie bleibe ausnahmslos dem Recht verpflichtet.[22]Barczak (Fn. 5), S. 170 f.

Nichts anderes kann für die EU als Rechtsgemeinschaft[23]Vgl. zu dieser Charakterisierung und der damit verbundenen Diskussion Armin von Bogdandy, Jenseits der Rechtsgemeinschaft – Begriffsarbeit in der europäischen Sinn- und Rechtsstaatlichkeitskrise, … Continue reading gelten, die gerade das Recht an die Stelle der Macht treten lässt[24]So Walter Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat. Europäische Erfahrungen und Erkenntnisse, Düsseldorf/Wien 1969, S. 33.. Die Unionsorgane sind an das Unionsrecht gebunden, unabhängig davon, ob sie nun „business as usual“ betreiben oder eine Krise zu bekämpfen haben. Letztlich zeigt die – auch im Unionsrecht[25]Vgl. nur etwa die Einfügung der Solidaritätsklausel des Art. 222 AEUV mit dem Vertrag von Lissabon sowie des Art. 136 Abs. 3 AEUV im Nachgang der Eurokrise. – zunehmende rechtliche Einhegung von Notsituationen:[26]Vgl. Jens Kersten, Ausnahmezustand?, JuS 2016, S. 193–203, S. 202. Not kennt eben doch Gebot.

II. Not kennt Gebot – die Moderne

Die moderne Rechtswissenschaft bekennt sich daher zum intra-legalapproach: Krisensituationen sind, wie auch die Normallage, von der Rechtsordnung umfasst, die handelnden Staatsorgane an deren Vorschriften gebunden.[27]Siehe so u.a. Barczak (Fn. 5), S. 170 ff.; Kaiser (Fn. 3), S. 126 ff.; Günter Frankenberg, Im Ausnahmezustand, Kritische Justiz 2017, S. 3–18, S. 14–16. Vgl. aber Steffen Augsberg, Denken … Continue reading Krisenregelungen garantieren, in geordneten Bahnen die Krise zu überwinden und zur Normalität zurückzukehren.

Anna-Bettina Kaiser hat in ihrer Habilitationsschrift aus dem Jahr 2020 für das (deutsche) öffentliche Recht ein Schichtenmodell entwickelt, wobei die Zuordnung einer Verfassungsbestimmung zu den vier Schichten von deren Krisenbezug abhängt.[28]Kaiser (Fn. 3), S. 63–68. Die hier interessierende dritte Schicht erfasst das von ihr begrifflich eingeführte „Ausnahmeverfassungsrecht“. Darunter versteht sie die „Gesamtheit der verfassungsrechtlichen Regelungen, die der Bewältigung krisenhafter Situationen gelten[29]Kaiser (Fn. 3), S. 76 (Hervorhebung im Original).. Dieser neue Begriff anerkenne, dass das Verfassungsrecht auf die sich im Laufe der Zeit in ihrer Art wandelnden Krisen mit eigenen Regelungen reagiert hat.

Kaiser präsentiert zugleich, wenn auch nur in aller Kürze, ein europäisches Ausnahmeverfassungsrecht. Dieses erfasse einerseits die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)[30]Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, SR 0.101., indem sie mit Art. 15 erlaubt, im Falle eines Notstands von deren Garantien abzuweichen.[31]Kaiser (Fn. 3), S. 84, bezeichnet dies als „negatives Ausnahmeverfassungsrecht“. Andererseits widmeten sich die Verträge der Europäischen Union mit zahlreichen Bestimmungen konkreten Krisensituationen, darunter, neben Art. 122 AEUV,[32]Zu dieser Bestimmung noch ausführlicher unter C.III.1. insbesondere die Bestimmung des Art. 347 AEUV, die den Mitgliedstaaten impliziert erlaubt, in Krisenzeiten von den Binnenmarktregeln abzuweichen.[33]Mit weiteren Beispielen Kaiser (Fn. 3), S. 80–84.

III. Not kennt unionsrechtliche Gebote: das Unionsausnahmeverfassungsrecht

Dem Konzept des Ausnahmeverfassungsrechts soll hier gefolgt werden, überzeugt es in seiner Schlüssigkeit und Prägnanz. Da die nachfolgende Analyse die EMRK aussen vor lässt und sich auf das Unionsrecht beschränkt, ist hier indessen die Rede vom „Unionsausnahmeverfassungsrecht“.[34]Vgl. aus der englischsprachigen Literatur z.B. das – allerdings nur grob skizzierte – Konzept des „EU emergency law“ (Hervorhebung im Original) von Bruno De Witte, Guest Editorial: EU … Continue reading Denn: Die Not ist zwar in erster Linie Regelungsgegenstand des nationalen Rechts; doch gibt es heute zunehmend auch unionsrechtliche Gebote.[35]Was von Ernst-Wolfgang Böckenförde im Rahmen der Eurokrise noch in Frage gestellt wurde, in: Kennt die europäische Not kein Gebot?, NZZ vom 21.6.2010.

1. Korpus

Der Korpus des Unionsausnahmeverfassungsrechts[36]Vgl. zum Korpus des deutschen Ausnahmeverfassungsrechts Kaiser (Fn. 3), S. 77–79. umfasst die krisenbedingten Ausnahmeregelungen der EU-Verträge[37]Konsolidierte Fassungen des Vertrags über die Europäische Union (EUV) und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), Abl. C 202 vom 7.6.2016, S. 1.. Die Ausnahme betrifft die zur Verfügung stehenden Instrumente und Verfahren; der Grund für die Ausnahme liegt in der Bewältigung einer Krise. Ermittelt werden die krisenbedingten Ausnahmeregelungen mit dem klassischen Auslegungskanon.[38]Kaiser (Fn. 3), S. 77. Zumeist lässt der Wortlaut die Ausnahme(situation) erkennen. Sie muss sich aber auch mit Hilfe der Systematik und des Zwecks der Regelung begründen lassen. Mitunter verdeutlichen die Materialien, an welche Krisensituationen bei der verfassungsrechtlichen Verankerung der Notregelung gedacht wurde.

Mittlerweile enthalten die Verträge eine Reihe von Bestimmungen, die dem Unionsausnahmeverfassungsrecht zugerechnet werden können, was im Einzelnen noch näher zu eruieren wäre.[39]Zu denken ist beispielsweise auch an Art. 42 Abs. 7 EUV, Art. 78 Abs. 3 AEUV, Art. 136 Abs. 3 AEUV, Art. 222 AEUV und Art. 347 AEUV. Als Teilgehalt lässt sich jedenfalls Art. 122 AEUV ausmachen. Das ist auch jene Bestimmung, die für die Massnahmen der EU zur Überwindung der Coronakrise – zumindest in ihrer wirtschaftlichen Komponente – zentral war. Sie lautet:

„(1) Der Rat kann auf Vorschlag der Kommission unbeschadet der sonstigen in den Verträgen vorgesehenen Verfahren im Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten über die der Wirtschaftslage angemessenen Massnahmen beschliessen, insbesondere falls gravierende Schwierigkeiten in der Versorgung mit bestimmten Waren, vor allem im Energiebereich, auftreten.

(2) Ist ein Mitgliedstaat aufgrund von Naturkatastrophen oder aussergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht, so kann der Rat auf Vorschlag der Kommission beschliessen, dem betreffenden Mitgliedstaat unter bestimmten Bedingungen einen finanziellen Beistand der Union zu gewähren. Der Präsident des Rates unterrichtet das Europäische Parlament über den Beschluss.“

In der Regel ist die Kompetenz der Union im Bereich der Wirtschaftspolitik gemäss Art. 5 Abs. 1 AEUV[40]Siehe zudem Art. 2 Abs. 3, Art. 119 Abs. 1 und Art. 121 Abs. 1 AEUV. Vgl. hierzu EuGH, C-370/12, ECLI:EU:C:2012:675, Pringle, Rn. 51 und 64. auf den Erlass von Koordinierungsmassnahmen beschränkt. Systematisch betrachtet bilden daher die Handlungsbefugnisse des Art. 122 AEUV – Beschluss von der Wirtschaftslage angemessenen Massnahmen (Abs. 1) sowie finanzieller Beistand der Union (Abs. 2) – eine Ausnahme von dieser Regel.[41]Die Ausnahmestellung von Art. 122 AEUV im Rahmen der wirtschaftspolitischen Kompetenzverteilung auch betonend Ulrich Häde, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV – AEUV. Kommentar, Art. 122 AEUV … Continue reading Auch der Wortlaut des Abs. 1 weist mit der Formulierung „unbeschadet der sonstigen in den Verträgen vorgesehenen Verfahren“ auf den Ausnahmecharakter hin.[42]So auch der Juristische Dienst des Rates in seinem Gutachten zu den Vorschlägen zu Next Generation EU vom 24.6.2020, 9062/20, Rn. 121. Obgleich das Verweiswort „unbeschadet“ weder allgemeinsprachlich noch fachsprachlich eindeutig geklärt ist,[43]Johanna Wolff, „Unbeschadet“ – Zum praktischen Verständnis eines beliebten Wortes in deutschen und europäischen Normen und Verträgen, JZ 2012, S. 31–35. kann die Formulierung insoweit verstanden werden, als diese Norm nur zur Anwendung kommen darf, wenn damit kein „Schaden“ für andere Vertragsbestimmungen einhergeht.[44]Vgl. auch das Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates (Fn. 42), Rn. 121, wonach die Anwendung von Art. 122 Abs. 1 AEUV nicht zur Aushöhlung oder Umgehung anderer vertraglicher … Continue reading Grund und Zweck der weitreichenden Handlungsbefugnisse der Union, also der Ausnahme, ist die Überwindung wirtschaftlicher Schwierigkeiten, beispielsweise – aber nicht nur – gravierender Schwierigkeiten in der Versorgung mit bestimmten Waren (Abs. 1), bzw. die Bewältigung von Naturkatastrophen oder aussergewöhnlichen Ereignissen, die sich der Kontrolle des betroffenen Mitgliedstaates entziehen (Abs. 2). In diesem Sinne führten unter anderem auch, nun den historischen Blick einnehmend, die Schwierigkeiten in der Energieversorgung 2006 in Folge der Dispute zwischen Russland und der Ukraine dazu, dass der Lissaboner Vertragsgeber mit Art. 122 AEUV seine Vorgängerbestimmungen nur leicht modifiziert[45]So die Einfügung von „im Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten“ und der Hinweis auf den Energiebereich in Abs. 1 sowie die kosmetische Streichung des Erfordernisses einer … Continue reading beibehalten hat.[46]Vgl. die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates zur Tagung vom 21. und 22. Juni 2007, 11177/07 CONCL 2, S. 22; hierzu auch Matthias Roth, Poland as Policy Entrepreneur in European External … Continue reading

Wenngleich das Unionsverfassungsrecht keine formalisierte Kategorie des Krisenrechts kennt, lassen sich daher Bestimmungen wie Art. 122 AEUV als krisenbedingte Ausnahmeregelungen identifizieren. Ähnlich sieht es die Europäische Kommission, wenn sie schreibt: „Art. 122 TFEU allows for targeted derogations from standard rules in exceptional crisis situations.“[47]Europäische Kommission, Q & A: Next Generation EU – Legal Construction, QANDA/20/1024, 9.6.2020, Abschn. 3. Kritisch hierzu Päivi Leino-Sandberg & Matthias Ruffert, Next Generation EU … Continue reading Und auch der Rat vertritt die Auffassung, Art. 122 AEUV sollte „unter normalen Umständen“, für die andere Vertragsbestimmungen gelten, keine Anwendung finden.[48]Siehe Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates (Fn. 42), Rn. 121.

2. Bedeutung

Der Zuordnung einer Vertragsbestimmung, wie etwa jener des Art. 122 AEUV, zum Unionsausnahmeverfassungsrecht kann in einem ersten Zugriff eine normative, eine analytische und eine heuristische Bedeutung beigemessen werden.

In normativer Hinsicht ist, erstens, für eine differenzierte Anwendung des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes nach Art. 5 Abs. 4 EUV zu argumentieren, wonach Massnahmen gestützt auf solche Ausnahmeregelungen in einer strengen Konnexität zur Krise stehen müssen.[49]Auf die Bedeutung des Verhältnismässigkeitsprinzips für die Kompetenz der EU in Krisenzeiten aufmerksam machte bereits Christopher Unseld, Verhältnismässig krisensicher – Wie Gerichte auf den … Continue reading Umgekehrt widerspräche es dem Verhältnismässigkeitsgrundsatz, würden die in Krisenzeiten zugelassenen Instrumente auch in Normalzeiten verwendet werden, wären sie dann gerade nicht erforderlich und angemessen.[50]Vgl. Barczak (Fn. 5), S. 619 f. Zweitens spielt der Ausnahmecharakter bei der Auslegung der Norm eine Rolle. Unmittelbare Assoziation ist die bekannte Formel des EuGH: „Ausnahmen sind eng auszulegen“.[51]Ausführlich zu dieser Formel Marie Herberger, „Ausnahmen sind eng auszulegen“. Die Ansichten beim Gerichtshof der Europäischen Union, Berlin 2017. Früher auch schon Theodor Schilling, … Continue reading Im Grunde geht es jedoch nicht darum, die Bestimmungen des Unionsausnahmeverfassungsrechts anhand anderer Methoden zu interpretieren als die übrigen Normen des Primärrechts.[52]Vgl. auch Karl Riesenhuber, Die Auslegung, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre. Handbuch für Ausbildung und Praxis, 2. Aufl., Berlin/New York 2010, Rn. 62. Vielmehr gilt es, sie einerseits als Ausnahmen zu erkennen („Wahrnehmungsgebot“), um sie „treu und sensibel“[53]Franz Reimer, Apologie der Ausnahme. Rechtstheoretische Perspektiven, in: Kube/Reimer (Hrsg.), Ausnahmen brechen die Regel (Heidelberger Beiträge zum Finanz- und Steuerrecht, Bd. 12), Berlin 2019, … Continue reading auszulegen, und sie andererseits ihrem Zweck entsprechend nur auf die geregelte Krisensituation anzuwenden und nicht räumlich und zeitlich auszuweiten („Ausweitungsverbot“).[54]Zum Wahrnehmungs- und Ausweitungsgebot von Ausnahmen im Allgemeinen siehe Reimer (Fn. 53), S. 86; in eine ähnliche Richtung, auf das Unionsrecht bezugnehmend, Herberger (Fn. 51); vgl. auch … Continue reading Beide Ausprägungen der normativen Bedeutung des Unionsausnahmeverfassungsrechts kommen bei den einschlägigen Vertragsbestimmungen gleichwohl auch ohne dieses Konzept zum Tragen.

Dennoch erweist es sich als nützlich, wie seine beiden anderen Funktionen unterstreichen. In analytischer Hinsicht[55]Vgl. die analytische Dimension als „begrifflich-systematische Durchdringung des geltenden Rechts“ Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl., 1994, S. 23. vermag nämlich ein solcher Schlüsselbegriff, die krisenorientierten Primärrechtsbestimmungen systematisch zu bündeln. Auf diese Weise können strukturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede identifiziert sowie Inkonsistenzen aufgedeckt werden. Schliesslich erweist sich die Zuordnung einer Vertragsbestimmung zum Unionsausnahmeverfassungsrecht in ihrer heuristischen Funktion als Problemindikator[56]Reimer (Fn. 53), S. 89.: Sie macht darauf aufmerksam, dass sich Rechtssetzende und Rechtsanwendende in einem Bereich befinden, der besonderer juristischer und politischer Sensibilität bedarf. Gleichermassen mögen die Ausnahmeregeln als Vorboten künftige Regeln andeuten.[57]Ibid., S. 87. Vgl. zum bekannten Narrativ, dass aus der Ausnahme die neue Regel wird, Agamben (Fn. 11), S. 8 f. Deren regelmässige Anwendung kann ein Indiz dafür sein, dass eine Änderung der Regel selbst notwendig ist.[58]Niklas Luhmann, Kontingenz und Recht, Berlin 2013 [entstanden 1971], S. 277, siehe auch ebd., wonach „schon die einmalige Zulassung einer Ausnahme unter der Voraussetzung der Kontinuität des … Continue reading

Im Ergebnis verspricht das Konzept des Unionsausnahmeverfassungsrechts, das Recht der Europäischen Union für Krisenzeiten kohärent zu erfassen und einen Kristallisationspunkt für den wissenschaftlichen Diskurs – aber auch darüber hinaus[59]Vgl. die Aufnahme der Habilitation Kaisers (Fn. 3) in die Sachbuch-Bestenliste in Die Zeit vom 24.6.2020, unter <www.zeit.de/2020/27/leseempfehlungen-sachbuch-bestenliste-juli-august> (zuletzt … Continue reading – zu bieten. Seine normative und heuristische Bedeutung schlägt sich im nachfolgenden zweiten Teil dieser Untersuchung nieder.

D. Regieren der EU in Krisenzeiten

I. Die Stunde der Exekutive

Der zweite der Untersuchung zugrunde liegende Topos geht, wie bereits erwähnt, auf Gerhard Schröder zurück, der 1960 im Deutschen Bundestag folgende Wortmeldung abgab:

„Die Ausnahmesituation ist die Stunde der Exekutive, weil in diesem Augenblick gehandelt werden muß […] Eine akute Lungenentzündung […] wird nicht dadurch bekämpft, daß ein Ärztekongreß nach längeren Vorbereitungen einberufen wird, sondern dadurch, daß der nächsterreichbare Arzt […] Penicillin verordnet, und zwar sofort.“[60]Schröder (Fn. 8), S. 7177 C.

Der Grund für „die Stunde der Exekutive“[61]Zu dieser Formel im Kontext der Corona-Pandemie Tristan Barczak, Die „Stunde der Exekutive“. Rechtliche Kritik einer politischen Vokabel, Recht und Politik 2020, S. 458–468. wird sohin in der zeitlichen Dringlichkeit gesehen. Krisensituationen erfordern schnelles und pragmatisches Handeln, was im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens, das von langer Dauer und Komplexität geprägt ist, nur bedingt möglich ist.[62]Vgl. die Schweiz betreffend Bernhard Waldmann, Staatsrechtliche Herausforderungen, in: Uhlmann/Höfler (Hrsg.), Notrecht in der Corona-Krise. 19. Jahrestagung des Zentrums für Rechtsetzungslehre, … Continue reading Die Covid-19-Pandemie war im Verfassungsstaat denn auch nicht eine Stunde, sondern Wochen und Monate der Exekutive.[63]M.w.N. zur Schweiz und zu Deutschland Mahlmann (Fn. 12), S. 86–90.

II. Zum unionalen Organgefüge im Allgemeinen

Die EU kennt bekanntlich keine klassische, dem Verfassungsstaat entsprechende Gewaltenteilung.[64]Martin Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, München 2023, Art. 13 EUV Rn. 1. Vgl. auch Christoph Möllers, Gewaltengliederung. Legitimation und Dogmatik im nationalen … Continue reading Vielmehr ist ihre Organstruktur geprägt vom Prinzip der Funktionen(zu)teilung:[65]Nettesheim (Fn. 64), Rn. 1; Christian Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV – AEUV. Kommentar, Art. 13 EUV Rn. 9. Der Europäische Rat legt die politischen Leitlinien fest, die Kommission hält das Initiativmonopol, Rat und Parlament fungieren als Gesetzgeber, und der Europäische Gerichtshof kontrolliert die Rechtmässigkeit ihres Handelns.

Art. 10 Abs. 2 EUV statuiert die duale Legitimationsstruktur der EU, macht aber keine Vorgaben zur (Intensität der) Beteiligung der Organe am Rechtsetzungsverfahren.[66]Otto (Fn. 47), S. 101, 200 ff. A.M. wohl Christian Calliess & Moritz Hartmann, Zur Demokratie in Europa: Unionsbürgerschaft und europäische Öffentlichkeit, Tübingen 2014, S. 11, nach denen … Continue reading Handeln sie im Rahmen ihrer Kompetenzen, ist ihr Handeln positivrechtlich demokratisch legitimiert.[67]Martin Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, München 2023, Art. 10 EUV Rn. 32. Die in den Kompetenzbestimmungen vorgesehenen Rechtsetzungsverfahren mit den unterschiedlichen Beteiligungsformen der Unionsorgane lassen jedoch – oder gerade deshalb – Rückschlüsse auf die institutionelle Tiefenstruktur der Union zu.[68]Vgl. Martin Nettesheim, „Next Generation EU“: Die Transformation der EU-Finanzverfassung, Archiv des öffentlichen Rechts 2020, S. 381–437, S. 411.

Wessen Stunde schlug nun während der Covid-19-Pandemie? Die der im Europäischen Rat und im Rat vertretenen Mitgliedstaaten, die des Integrationsmotors Kommission oder die des Parlaments als Vertretung der Unionsbürger:innen? Und hatte der EuGH die Gelegenheit, deren Handlungen zu kontrollieren?

III. „Next Generation EU“ als Exempel

Das mit 750 Mrd. Euro in seinem Umfang bislang unübertroffene Wiederaufbauprogramm Next Generation EU ist ein illustratives Exempel – ob gut oder warnend[69]Durch eine solche Wertung unterscheidet sich nach Kant der Begriff des Exempels vom Begriff des Beispiels, hierzu Günther Buck, Kants Lehre vom Exempel, Archiv für Begriffsgeschichte 1967, … Continue reading soll nachfolgend aufgezeigt werden – für das komplexe Zusammenspiel der Unionsorgane in Krisenzeiten.

1. Der politische Weg

Next Generation EU wurde in erster Linie vom Europäischen Rat und der Europäischen Kommission getragen und vorangetrieben.[70]Vgl. für eine detaillierte Nachzeichnung des politischen Weges von NGEU David M. Herszenhorn, Lili Bayer & Rym Momtaz, The coronavirus recovery plan that von der Leyen built, Politico vom … Continue reading So ersuchten nur wenige Wochen nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie in Europa, am 26. März 2020, die Mitglieder des Europäischen Rates die Euro-Gruppe, Vorschläge zur Unterstützung der Wirtschaft auszuarbeiten.[71]Gemeinsame Erklärung der Mitglieder des Europäischen Rates vom 26. März 2020, Pkt. 14, abrufbar unter <www.consilium.europa.eu/media/43085/26-vc-euco-statement-de.pdf> (zuletzt abgerufen … Continue reading Die Kommission präsentierte am 15. April 2020 ihre eigene Idee eines Unterstützungsinstruments, dessen Mittel sie, – den Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) von 2010[72]Verordnung (EU) Nr. 407/2010 (Fn. 6). im institutionellen Gedächtnis[73]Politico (Fn. 70). Zudem lag zu diesem Zeitpunkt bereits der Vorschlag der Verordnung zum den Arbeitsmarkt betreffenden SURE-Programm vor, das sich ebenso auf Art. 122 AEUV stützt; siehe sodann im … Continue reading – ermächtigt durch Art. 122 AEUV, am Kapitalmarkt aufnehmen soll.[74]Erklärung der Kommissionspräsidentin von der Leyen auf der Pressekonferenz zur Reaktion der EU auf die Coronavirus-Krise vom 15.4.202l, … Continue reading Nur wenige Tage später befürwortete die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, Art. 122 Abs. 2 AEUV zu aktivieren.[75]Vgl. <www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/statement-von-bundeskanzlerin-merkel-nach-der-sitzung-des-corona-kabinetts–1745252> (zuletzt abgerufen am 22.12.2023).

Der Europäische Rat nahm kurz darauf den Ball wieder auf, billigte den in der Zwischenzeit erarbeitete Bericht der Euro-Gruppe[76]Europäischer Rat, Report on the comprehensive economic policy response to the COVID-19 pandemic, Press Release 223/20 vom 9.4.2020. und beauftragte die Kommission, einen Vorschlag für ein mit dem mehrjährigen Finanzrahmen verknüpftes[77]Während Frankreich ursprünglich für ein eigenständiges Unterstützungsprogramm plädierte, erkannte die Kommission den grösseren Verhandlungsspielraum bei einer Verbindung mit dem gerade in … Continue reading Aufbauinstrument auszuarbeiten.[78]Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 23. April 2020, abrufbar unter … Continue reading Dabei mahnte Merkel die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: „Don’t forget to talk to us“.[79]Politico (Fn. 70). Ebenso warnte das Europäische Parlament die Kommission: Das Aufbauinstrument dürfe nicht ausserhalb der Gemeinschaftsmethode angesiedelt werden; das Parlament müsse an der Definition, Verabschiedung und Umsetzung des Programms beteiligt werden und ein Mitentscheidungsrecht haben.[80]Resolution of the Parliament on the new multiannual financial framework, own resources and the recovery plan, 2020/2631(RSP), 13.5.2020.

Ende Mai 2020 veröffentlichte die Kommission ihren finalen Vorschlag zu NGEU.[81]Mitteilung der Kommission vom 27.5.2020, Der EU-Haushalt als Motor für den Europäischen Aufbauplan, COM(2020) 442 final. Unter Federführung der deutsch-französischen Allianz[82]Deutsche Bundesregierung, Deutsch-französische Initiative zur wirtschaftlichen Erholung Europas nach der Coronakrise, Pressemitteilung vom 18.5.2020, abrufbar unter … Continue reading fand er im Juli 2020 breite Unterstützung im Europäischen Rat.[83]Schlussfolgerungen des Europäischen Rates zur ausserordentlichen Tagung vom 17.-21. Juli 2020, EUCO 10/20. Die Staats- und Regierungschefs stimmten im Wesentlichen dem Umfang des Aufbauprogramms zu und änderten lediglich die Aufteilung zwischen Zuschüssen und Darlehen.[84]Zum Vergleich der Zahlen des Kommissionsvorschlags und jener der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates Jorge Núñez Ferrer, Reading between the lines of Council agreement on the MFF and Next … Continue reading Obgleich vom Europäischen Parlament aufgrund der Rechtsgrundlage und der damit fehlenden Mitentscheidung kritisiert,[85]Resolution of the Parliament on the conclusions of the extraordinary European Council meeting of 17-21 July 2020, 2020/2732(RSP), 23.7.2020, „[Members] regretted […] the legal basis chosen to … Continue reading verabschiedete der Rat als primärer Gesetzgeber die Rechtsakte schliesslich Ende 2020 bzw. Anfang 2021.

2. Die Dreifachabstützung

Damit ist bereits angedeutet: NGEU setzt sich aus verschiedenen Rechtsakten zusammen, genauer: aus drei Rechtsakten mit drei verschiedenen Rechtsgrundlagen. In der Literatur ist treffend die Rede von „skilful legal construction“[86]Leino-Sandberg & Ruffert (Fn. 47), S. 437. und „creative legal engineering“[87]De Witte (Fn. 70), S. 638., von „Legal-Hightech“[88]Frank Schorkopf, Die Europäische Union auf dem Weg zur Fiskalunion. Integrationsschritt durch den Rechtsrahmen des Sonderhaushalts „Next Generation EU“, in: Berliner Online-Beiträge zum … Continue reading und „a very innovative legal architecture“[89]Alberto de Gregorio Merino, The Recovey Plan: Solidarity and the living constitution, EU Law Live vom 6.3.2021..

Das Aufbauprogramm ist nach einem Drei-Stufen-Modell konzipiert. Die erste Stufe betrifft die Mittelbeschaffung. Mit der gemäss Art. 311 Abs. 3 AEUV erfolgten Änderung des Eigenmittelbeschlusses[90]Beschluss (EU, Euratom) 2020/2053 des Rates vom 14.12.2020 über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union und zur Aufhebung des Beschlusses 2014/335/EU, Euratom, ABl. L 424 vom 15.12.2020, S. 1. wurde die Kommission ermächtigt, bis 2026 bis zu 750 Mrd. Euro (zu Preisen von 2018; zwischenzeitlich: 806,9 Mrd. Euro) am Kapitalmarkt aufzunehmen.[91]Art. 5 Abs. 1 Beschluss (EU, Euratom) 2020/2053. Ebenso geregelt ist dort die Rückzahlung dieser Mittel: Bis spätestens Ende 2058 muss die Union die Verbindlichkeiten mit Mitteln aus ihrem Haushalt begleichen.[92]Art. 5 Abs. 2 Beschluss (EU, Euratom) 2020/2053. Reichen diese nicht aus, berechtigt der Eigenmittelbeschluss die Kommission, auf die Mitgliedstaaten zurückzugreifen – allerdings nur „als letztes Mittel“, wenn das benötigte Kapital nicht anderweitig, etwa durch kurzfristige Finanzierung am Kapitalmarkt, beschafft werden kann.[93]Art. 9 Abs. 4 Beschluss (EU, Euratom) 2020/2053.

Auf der zweiten Stufe regelt die auf Art. 122 AEUV gestützte EURI-Verordnung (European Union Recovery Instrument, EURI)[94]Verordnung (EU) 2020/2094 des Rates vom 14.12.2020 zur Schaffung eines Aufbauinstruments der Europäischen Union zur Unterstützung der Erholung nach der COVID-19-Krise, ABl. L 433 vom 22.12.2020, … Continue reading die Mittelverwendung. Als „control room“[95]Merino (Fn. 89), S. 4. verteilt die Verordnung die Anleiheerlöse auf verschiedene Programme und Massnahmen. Gleichzeitig legt der Rechtsakt die Art der finanziellen Unterstützung fest: Erstmals in der Unionsgeschichte erfolgt diese nicht nur in Form von Darlehen (borrowing for borrowing),[96]Art. 2 Abs. 2 lit. b EURI-Verordnung (EU) 2020/2094. sondern auch – etwas mehr als die Hälfte der Mittel – in Form von nicht rückzahlbaren Zuschüssen an die Mitgliedstaaten (borrowing for spending).[97]Art. 2 Abs. 2 lit. a EURI-Verordnung (EU) 2020/2094.

Erst die dritte Stufe vollendet den Zweck von NGEU, indem durch Sekundärrechtsakte zu Unionsprogrammen die Mittelverwaltung festgelegt wird. Eine prominente Rolle spielt dabei, schon ihres Umfangs wegen (fast 90% der NGEU-Mittel), die gemäss Art. 175 Abs. 3 AEUV erlassene Aufbau- und Resilienzfazilität (Recovery and Resilience Facility, RFF).[98]Verordnung (EU) 2021/241 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.2.2021 zur Einrichtung der Aufbau und Resilienzfazilität, ABl. L 57 vom 18.2.2021, S. 17 (RFF-Verordnung). Die RFF-Verordnung verteilt die durch die EURI-Verordnung zugewiesenen Mittel an die Mitgliedstaaten unter der Voraussetzung, dass diese die geplanten Reformen und Investitionen in Fazilitäts- und Resilienzplänen ausweisen,[99]Art. 14 und Art. 17 RFF-Verordnung (EU) 2021/241. die vom Rat vorab zu genehmigen sind[100]Art. 20 RFF-Verordnung (EU) 2021/241..

Während bei den bisherigen unionalen Aufbauprogrammen EFSM und SURE einzig Art. 122 AEUV als Rechtsgrundlage herangezogen wurde,[101]Beachte: Als Rechtsgrundlage für die EFSM-Verordnung (EU) Nr. 407/2010 diente ausschliesslich Abs. 1 des Art. 122 AEUV, für die SURE-Verordnung (EU) 2020/672 hingegen sowohl dessen Abs. 1 als … Continue reading kam demnach bei NGEU eine Dreifachabstützung zum Einsatz. War diese „Art. 311-​Art. 122-Art. 175-Dramaturgie“[102]Ulrich Hufeld, Europäische Wirtschafts- und Währungsunion: Das System, in: Broemel (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht. Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, … Continue reading rechtlich zwingend?

Zunächst der Blick auf die Einnahmenseite von NGEU: Art. 122 AEUV schliesst seinem Wortlaut nach die Ausgabe von Anleihen durch die Union nicht aus.[103]Vgl. zudem Nettesheim (Fn. 68), S. 392 f., wonach in der Praxis der letzten Jahrzehnten ein Einverständnis über eine ungeschriebene Kompetenz der Union zur Anleiheemission gesehen werden kann. … Continue reading Ein finanzieller Beistand nach Abs. 2 setzt denknotwendig die Verfügung über finanzielle Mittel voraus, was für eine implied power spricht. Wie bei EFSM[104]Vgl. 2 Abs. 1 EFSM-Verordnung (EU) Nr. 407/2010. und SURE[105]Vgl. 4 SURE-Verordnung (EU) 2020/672. hätte sich daher die Mittelaufnahme am Kapitalmarkt auf Art. 122 Abs. 2 AEUV stützen lassen, zumal NGEU wie das erstgenannte Programm[106]Deshalb auch die Begrenzung der Anleiheemission durch die Eigenmittel-Obergrenze, vgl. Art. 2 Abs. 2 EFSM-Verordnung (EU) Nr. 407/2010. Demgegenüber wurde in Art. 11 SURE-Verordnung (EU) … Continue reading durch den Unionshaushalt abgesichert ist. Der Rückgriff auf den Eigenmittelbeschluss hatte daher weniger rechtliche als politische Gründe. Dieser erfordert die Ratifikation durch alle EU-Mitgliedstaaten,[107]Vgl. Art. 311 Abs. 3 S. 3 AEUV. was nicht nur die Akzeptanz und demokratische Legitimation dieses umfangreichen Aufbauprogramms erhöht, sondern auch künftige Abänderungen der Mittelbeschaffung und -rückzahlung erschwert.[108]De Witte (Fn. 70), S. 663; Nettesheim (Fn. 68), S. 388 und S. 393 mit Fn. 41. Mayer & Lütkemeyer (Fn. 41), S. 336, sind darüber hinaus der Auffassung, dass es bei NGEU im Gegensatz zum … Continue reading

Deckt Art. 122 AEUV die Ausgabenseite von NGEU?[109]Im Übrigen wäre weiter zu diskutieren, ob eine Doppelabstützung der EURI-Verordnung auf Abs. 1 und Abs. 2 des Art. 122 AEUV notwendig war oder der Rückgriff auf den zweiten Absatz genügt … Continue reading Als krisenbedingte Ausnahmeregel ist eine Konnexität zwischen dem finanziellen Beistand und der zu bekämpfenden Krise erforderlich. Gerade dieser Punkt kann kritisch gesehen werden: Die über NGEU erhaltenen Mittel können die Mitgliedstaaten auch für Reformen in Richtung einer nachhaltigen, klimaneutralen und digitalen Wirtschaft einsetzen[110]Vgl. Art. 1 Abs. 2 EURI-Verordnung (EU) 2020/2094; Art. 3 und Art. 4 RFF-Verordnung (EU) 2021/241. – was ökologisch und ökonomisch sinnvoll ist, aber nicht zwangsläufig notwendig, um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie zu meistern.[111]Kritisch auch Leino-Sandberg & Ruffert (Fn. 47), S. 450; Nettesheim (Fn. 68), S. 410–411; Schorkopf (Fn. 88), S. 12, sowie auch BVerfG, Urteil vom 6.12.2022, 2 BvR 547/21 und 2 BvR 798/21, … Continue reading Es fehlt an der Dringlichkeit solcher Massnahmen, um sie zwingend auf Art. 122 AEUV abzustützen.[112]Vgl. hierzu auch EuGH, C-5/73, ECLI:EU:C:1973:109, Balkan Import Export GmbH, Rn. 14 f., der darauf hinweist, dass Art. 103 EWGV – die Vorläufernorm von Art. 122 Abs. 1 AEUV – herangezogen … Continue reading Das Verhältnismässigkeitsprinzip wird ebenso wie das Ausweitungsverbot, wenn nicht verletzt, so doch tangiert.

Der Rückgriff auf die Krisenregelung des Art. 122 AEUV ist auch deshalb problematisch, weil das Parlament hier nur eine geringe Rolle spielt:[113]So auch Nettesheim (Fn. 68), S. 409 f.; in diese Richtung auch Leino-Sandberg & Ruffert (Fn. 47), S. 447. Es muss vom Rat lediglich über seinen Beschluss unterrichtet werden.[114]Eine Unterrichtungspflicht statuiert nur Art. 122 Abs. 2 AEUV, wohingegen dessen Abs. 1 überhaupt keine Mitwirkung des Parlaments vorsieht. Bei einer Doppelabstützung auf beide Absätze, wie bei … Continue reading Im Rahmen von NGEU konnte das Parlament letztlich zwar doch noch ein Wörtchen mitreden, indem es als Co-Gesetzgeber die RFF-Verordnung gemäss Art. 175 Abs. 3 AEUV verabschiedete. Doch wird dort die Verwaltung der Mittel nur näher konkretisiert, so wie sie in der EURI-Verordnung bereits verteilt worden sind[115]Vgl. Art. 1 Abs. 2 EURI-Verordnung (EU) 2020/2094.. Letztgenannter Rechtsakt verdeutlicht mit seiner Rechtsgrundlage in Art. 122 AEUV, dass es sich um ein einmaliges, vorübergehendes Kriseninstrument handelt.[116]Dieser Aspekt sei ein besonderes Anliegen Deutschlands und der sog. „frugal four“ gewesen, so De Witte (Fn. 70), S. 641; vgl. auch ders. (Fn. 34), S. 10. Auch die Kommission vertrat die Ansicht, dass ein solch umfangreiches Finanzpaket zusätzlich zum Unionshaushalt und ausserhalb des jährlichen Budgetverfahrens nur unter Rückgriff auf diese Ausnahmeregelung möglich ist.[117]Europäische Kommission (Fn. 47). Schliesslich hätte auch die Bestimmung zur Kohäsionspolitik (Art. 175 Abs. 3 AEUV) einer neuen – weiten – Interpretation bedurft, wenn sie allein die Verteilung dieses umfangreichen Finanzpakets hätte absichern sollen.[118]Vgl. De Witte (Fn. 70), S. 658, 680; Leino-Sandberg & Ruffert (Fn. 47), S. 444.

3. Rückschlüsse auf das unionale Organgefüge

Im Grossen und Ganzen vermag die Dreifachabstützung – ebenjene Kombination – das NGEU-Wiederaufbauprogramm zu tragen. Die EU-Organe handelten im Rahmen der ihnen durch die Verträge übertragenen Kompetenzen und gemäss den dort festgelegten Rechtsetzungsverfahren. Das institutionelle Gleichgewicht, das zentrale Kennzeichen des organisatorischen Aufbaus der Union,[119]EuGH, C-409/13, ECLI:EU:C:2015:217, Rat / Kommission, Rn. 64; EuGH, C-425/13, ECLI:EU:C:2015:483, Kommission / Rat, Rn. 69. blieb gewahrt.[120]Hierzu auch De Witte (Fn. 70), S. 668 f., 674. Nichtsdestoweniger illustriert dieses Beispiel, wer das Zepter in der Hand hat, wenn es darum geht, politisch, sozial und wirtschaftlich gewichtige Reaktionsmassnahmen in unsicheren Zeiten zu ergreifen – auf den oben genannten Topos zurückkommend, wessen Stunde in der Pandemie schlug.

Zuvörderst schlug – auf den verschiedenen Mitwirkungsebenen – die Stunde der Mitgliedstaaten. Die entscheidenden Impulse – die Beauftragung der Euro-Gruppe und der Kommission mit der Ausarbeitung von Vorschlägen sowie die detaillierten Schlussfolgerungen vom Juli 2020[121]Nach De Witte (Fn. 70), S. 672, wirke die 65-seitige Schlussfolgerung „very much like legislative drafting“. – setzte der Europäische Rat. Wie schon in anderen Krisen[122]M.w.N. De Witte (Fn. 34), S. 15. Vgl. aus politikwissenschaftlicher Sicht die Rolle des Europäischen Rates als Krisenmanager Lucas Schramm & Wolfgang Wessels, The European Council as a crisis … Continue reading verkörperte dieser eindrücklich seine Rolle als federführendes Organ (Art. 15 Abs. 1 EUV).[123]Ähnlich Elena Waigel, „Next Generation EU“. Aufbau, Rechtsgrundlage und Refinanzierung der eigenen Verschuldung der Europäischen Union im Eigenmittelsystem, Baden-Baden 2023, S. 28. Die gesellschaftlich und politisch schwierige Krisenzeit, aber auch die gerade laufenden Verhandlungen über den mehrjährigen Finanzrahmen erforderten von den Staats- und Regierungschefs ein rasches und einvernehmliches Vorgehen. Dafür sorgten einmal mehr die beiden Gründungsstaaten Deutschland und Frankreich.

Die Mitgliedstaaten in ihrer Vertretung im Rat waren denn auch die primären Rechtsetzer von NGEU. Die Änderung des Eigenmittelbeschlusses bedurfte nach Art. 311 Abs. 3 AEUV ihrer Einstimmigkeit, der Erlass der EURI-Verordnung nach Art. 122 AEUV ihrer qualifizierten Mehrheit. Bei der RFF-Verordnung fungierte der Rat gemeinsam mit dem Parlament als Co-Gesetzgeber. Und schliesslich hatten die Mitgliedstaaten ein gewichtiges Mitspracherecht dadurch, dass die Mittelbeschaffung nicht in der EURI-Verordnung, sondern im Eigenmittelbeschluss geregelt wurde, was nicht nur Einstimmigkeit, sondern eben auch Ratifikation auf nationaler Ebene voraussetzte.

Desgleichen hatte die Kommission ihre Stunde. Sie war mit ihrer ersten Idee zu einem frühen Zeitpunkt, Mitte April 2020, ebenfalls eine massgebliche Impulsgeberin, nicht zuletzt, weil gerade sie über die notwendigen personellen und fachlichen Ressourcen für ein rasches Handeln verfügt.[124]Vgl. De Witte (Fn. 34), S. 15 f. Ende Mai machte sie – dann bereits mit Merkels und Macrons Rückhalt – von ihrem Initiativmonopol Gebrauch, und ihr Vorschlagstext diktierte die anschliessende Diskussion und Rechtsetzung.

Das Parlament hingegen sah sich überwiegend mit Wartezeiten konfrontiert. Weder beim Verabschieden des Eigenmittelbeschlusses noch beim Erlass der EURI-Verordnung hatte es ein Entscheidungsrecht. Bei ersterem wurden seine Mitglieder lediglich angehört, bei letzteren gar nur nachträglich unterrichtet. Man mag das fehlende parlamentarische Mitspracherecht des Art. 122 AEUV grundsätzlich – im Sinne des zweiten Topos – mit der Dringlichkeit von Reaktionsmassnahmen in Krisenzeiten begründen können.[125]Das könnte nach De Witte (Fn. 34), S. 10, ein Gedanke des Vertragsgebers gewesen sein. Jedoch dauerte das Rechtsetzungsverfahren zur EURI-Verordnung nicht nur wenige Tage wie damals bei der EFSM-Verordnung,[126]Am 9.5.2010 veröffentlichte die Kommission ihren Vorschlag, COM(2010) 2010 final; am 11.5.2010 nahm der Rat die EFSM-Verordnung (EU) Nr. 407/2010 an, die sodann am 12.5.2010 publiziert wurde und am … Continue reading sondern mehrere Monate.[127]Hierauf verweisend De Witte (Fn. 70), S. 668 f. Die dritte Stufe von NGEU, die RFF-Verordnung, trat sogar erst im Februar 2021 in Kraft. Es wäre demnach ausreichend Zeit geblieben, eine andere rechtliche Struktur zu implementieren und dabei ein oder zwei Runden im Plenarsaal zu drehen. Das Parlament durfte dem NGEU-Programm nur noch nachträglich und indirekt mit der Annahme der RFF-Verordnung zustimmen. Bedauerlicherweise konnte die einzig direkte Vertretung der Unionsbürger:innen, obgleich ihre Entscheidungsbefugnisse in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich ausgebaut wurden bis hin zur Kompetenz als Haushalts(co)gesetzgeberin, bei einem solch wichtigen Schritt in Richtung „Fiskalunion“[128]Dirk Meyer, Next Generation EU. Neues Eigenmittelsystem weist in eine Fiskalunion, EuZW 2021, S. 16–22; Schorkopf (Fn. 88); hierzu bereits früher u.a. Hermann-Josef Blanke & Stefan Pilz … Continue reading lediglich eine Nebenrolle einnehmen.[129]Vgl. auch De Witte (Fn. 70), S. 668 f.; Nettesheim (Fn. 68), S. 396.

Der EuGH als judikative Gewalt im EU-Organgefüge wird voraussichtlich keine Gelegenheit mehr erhalten, sich zu den Rechtsgrundlagen des NGEU und den damit verbundenen Verbands- und Organkompetenzen zu äussern. Seine Stunde hat in diesem Zusammenhang nicht geschlagen. Damit bleibt das unionale Gerichtssystem, „das zur Gewährleistung der Kohärenz und der Einheitlichkeit bei der Auslegung des Unionsrechts dient“[130]EuGH, Gutachten 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454, Beitritt der EU zur EMRK, Rn. 174., bei der rechtlich neuartigen und politisch aufgeladenen Konstruktion des NGEU schlichtweg „zahnlos“[131]Leino-Sandberg & Ruffert (Fn. 47), S. 463 (eigene Übersetzung).. Abschliessend sei darauf hingewiesen, dass sich aber das deutsche Bundesverfassungsgericht mit dem NGEU-Programm befasst hat: Anfang Dezember 2022 erkannte es im Eigenmittelbeschluss keinen Ultra-vires-Akt, und stellte gleichzeitig fest, Art. 122 AEUV sei als Rechtsgrundlage für die EURI-Verordnung „jedenfalls nicht unvertretbar“.[132]BVerfG, Urteil vom 6.12.2022, 2 BvR 547/21 und 2 BvR 798/21. Siehe hierzu die Kommentierungen von Peter Hilpold, Next Generation EU und die „Einnahmensouveränität“: Das EU-Eigenmittelsystem vor … Continue reading

E. Fazit

Das Wiederaufbauprogramm Next Generation EU ist nicht das erste finanzielle Unterstützungsinstrument der EU, aber das bislang grösste und einzigartigste. Es ist zugleich ein gutes und ein warnendes Exempel[133]Vgl. oben Fn. 69.: gut, weil es ein erfolgreiches Zusammenspiel der mitgliedstaatlichen Kräfte in Krisenzeiten demonstriert; warnend, weil das demokratisch stark legitimierte Parlament in den zentralen Punkten nicht mitentscheiden konnte. Letztlich offenbart sich hier einmal mehr die gegenwärtige Tiefenstruktur des unionalen Organgefüges.[134]Vgl. Nettesheim (Fn. 68), S. 411.

Dennoch oder gerade deshalb sind die Bestimmungen des Unionsausnahmeverfassungsrechts mit Bedacht auszulegen und anzuwenden. Auf sie sollten nur solche Massnahmen gestützt werden, die zur Bewältigung einer Krise erforderlich und angemessen sind. Denn jedes neue Kriseninstrument ist ein Wegbereiter, ein Vorbote[135]Vgl. oben Fn. 57. für künftige Massnahmen in gleichgelagerten Fällen, die ihrerseits das unionale Organgefüge in Krisenzeiten zementieren, d.h. die mitgliedstaatliche Einflusssphäre stärken und das direkt gewählte Europäische Parlament schwächen.

Fussnoten

Fussnoten
1 Dieser Beitrag beruht auf einem im Oktober 2023 an der ECSA (European Community Studies Association) Suisse Dreiländertagung gehaltenen Vortrag.
2 Heike Delitz, Über die Lust an der Krise. Bericht vom 37. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, 6.-10. Oktober 2014 in Trier, SozW 2015, S. 95–103.
3 Der Begriff „Krise“ wird hier nicht als ein rechtlicher, sondern als heuristischer Begriff verwendet; so auch Anna-Bettina Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, Tübingen 2020, S. 68–70. Erfasst werden mit diesem Begriff „Zeiten von Ungewissheit, Gefahr und Not“, so wie Jasper Finke, Krisen. Ein Erklärungsversuch dynamischer Rechtsentwicklungen in Krisenzeiten, Tübingen 2020, S. 3.
4 Jean-Claude Juncker, Rede beim Festakt des Europäischen Forums Alpbach, Alpbach am 21.08.2016, <https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/SPEECH_​16_​2863> (zuletzt abgerufen am 22.12.2023).
5 Zum Begriff der Normalität siehe Tristan Barczak, Der nervöse Staat. Ausnahmezustand und Resilienz des Rechts in der Sicherheitsgesellschaft, 2. Aufl., Tübingen 2021, S. 108–116.
6 So die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) und der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM); dahingegen stützte sich der – allerdings im Umfang begrenzte – Europäische Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) ebenfalls auf die Unionsverträge, in concreto Art. 122 Abs. 2 AEUV, siehe Verordnung (EU) Nr. 407/2010 des Rates vom 11. Mai 2010 zur Einführung eines europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus, ABl. L 118 vom 12.5.2010, S. 1.
7 M.w.N. Kaiser (Fn. 3), S. 24–34.
8 Gerhard Schröder (CDU), Protokolle des Deutschen Bundestages, 3. Wahlperiode, 124. Sitzung, 28. September 1960, S. 7177 C.
9 Clinton Rossiter, Constitutional Dictatorship, 6. Aufl., Princeton 2009, S. 5; hierzu auch Kaiser (Fn. 3), S. 30.
10 Kaiser (Fn. 3), S. 24 f.
11 M.w.N. Horst Fuhrmann, Einladung ins Mittelalter, 5. Aufl., 1997, S. 256 f. Zum Ursprung des Prinzips im Decretum Gratiani siehe Giorgio Agamben, Ausnahmezustand, Frankfurt am Main 2004, S. 33 f.
12 Siehe beispielhaft Peter Häberle & Markus Kotzur, Die Covid-19-Pandemie aus der kulturwissenschaftlichen Perspektive einer europäischen und universalen Verfassungslehre, NJW 2021, S. 132–137, S. 134; Kaiser (Fn. 3), S. 25 und S. 207 ff.; Andreas Kley, „Ausserordentliche Situationen verlangen nach ausserordentlichen Lösungen.“ – Ein staatsrechtliches Lehrstück zu Art. 7 EpG und Art. 185 Abs. 3 BV, ZBl 2020, S. 268–276, S. 275; Matthias Mahlmann, Demokratie im Notstand? Rechtliche und epistemische Bedingungen der Krisenresistenz der Demokratie, in: Walter (Hrsg.), Staat und Gesellschaft in der Pandemie, Berlin 2021, S. 69–104, S. 74 mit Fn. 9.
13 Siehe beispielhaft Thomas Allmendinger, „Not kennt kein Gebot“, NZZ vom 9.10.2008.
14 Matthias Jestaedt, Carl Schmitt (1888-1985), in: Häberle/Kilian/Wolff (Hrsg.), Staatsrechtslehrer des 20. Jahrhunderts, Berlin/Boston 2015, S. 313–336, S. 321.
15 Zum offenen und umstrittenen Begriff des Ausnahmezustands statt vieler Kaiser (Fn. 3), S. 49–53, und Barczak (Fn. 5), S. 74–85.
16 Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 11. Aufl., Berlin 2021, S. 14.
17 Ibid., S. 18.
18 Ibid., S. 13 ff. (vgl. ibid. auch auf S. 9: „Es gibt keine Norm, die auf ein Chaos anwendbare wäre. Die Ordnung muß hergestellt sein, damit die Rechtsordnung einen Sinn hat.“).
19 Mit zunehmendem zeitlichen Abstand verlagere sich die Auseinandersetzung hingegen von der Person zum Werk, so Jestaedt (Fn. 14), S. 327.
20 Dabei ist freilich zu berücksichtigen, dass Schmitt mit dem Ausnahmezustand, ohne hierfür eine konkrete Definition zu liefern, in erster Linie an bürgerkriegsähnliche Zustände gedacht hat (so Barczak [Fn. 5], S. 154), während der hier verwendete Krisenbegriff offener ist für andere, weniger gewaltsame Notsituationen – wie etwa eine Wirtschaftskrise, eine Pandemie oder eine Naturkatastrophe.
21 Kaiser (Fn. 3), S. 26.
22 Barczak (Fn. 5), S. 170 f.
23 Vgl. zu dieser Charakterisierung und der damit verbundenen Diskussion Armin von Bogdandy, Jenseits der Rechtsgemeinschaft – Begriffsarbeit in der europäischen Sinn- und Rechtsstaatlichkeitskrise, EuR 2017, S. 487–511; Martin Nettesheim, „Gegründet auf Werten…“: Das Narrativ der Wertegemeinschaft und der Sanktionsmechanismus des Art. 7 EUV, in: Franzius/Mayer/Neyer (Hrsg.), Die Neuerfindung Europas – Bedeutung und Gehalt von Narrativen für die europäische Integration, Baden-Baden 2019, S. 91–110, S. 99–103.
24 So Walter Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat. Europäische Erfahrungen und Erkenntnisse, Düsseldorf/Wien 1969, S. 33.
25 Vgl. nur etwa die Einfügung der Solidaritätsklausel des Art. 222 AEUV mit dem Vertrag von Lissabon sowie des Art. 136 Abs. 3 AEUV im Nachgang der Eurokrise.
26 Vgl. Jens Kersten, Ausnahmezustand?, JuS 2016, S. 193–203, S. 202.
27 Siehe so u.a. Barczak (Fn. 5), S. 170 ff.; Kaiser (Fn. 3), S. 126 ff.; Günter Frankenberg, Im Ausnahmezustand, Kritische Justiz 2017, S. 3–18, S. 14–16. Vgl. aber Steffen Augsberg, Denken vom Ausnahmezustand her. Über die Unzulässigkeit der anormalen Konstruktion und Destruktion des Normativen, in: Arndt et al. (Hrsg.), Freiheit – Sicherheit – Öffentlichkeit, Baden-Baden 2009, S. 17–39, S. 30, wonach die Verrechtlichung des Ausnahmezustands diesen in die Normalität übersetze.
28 Kaiser (Fn. 3), S. 63–68.
29 Kaiser (Fn. 3), S. 76 (Hervorhebung im Original).
30 Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, SR 0.101.
31 Kaiser (Fn. 3), S. 84, bezeichnet dies als „negatives Ausnahmeverfassungsrecht“.
32 Zu dieser Bestimmung noch ausführlicher unter C.III.1.
33 Mit weiteren Beispielen Kaiser (Fn. 3), S. 80–84.
34 Vgl. aus der englischsprachigen Literatur z.B. das – allerdings nur grob skizzierte – Konzept des „EU emergency law“ (Hervorhebung im Original) von Bruno De Witte, Guest Editorial: EU emergency law and its impact on the EU legal order, CMLR 2022, S. 3–18, S. 4 ff.
35 Was von Ernst-Wolfgang Böckenförde im Rahmen der Eurokrise noch in Frage gestellt wurde, in: Kennt die europäische Not kein Gebot?, NZZ vom 21.6.2010.
36 Vgl. zum Korpus des deutschen Ausnahmeverfassungsrechts Kaiser (Fn. 3), S. 77–79.
37 Konsolidierte Fassungen des Vertrags über die Europäische Union (EUV) und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), Abl. C 202 vom 7.6.2016, S. 1.
38 Kaiser (Fn. 3), S. 77.
39 Zu denken ist beispielsweise auch an Art. 42 Abs. 7 EUV, Art. 78 Abs. 3 AEUV, Art. 136 Abs. 3 AEUV, Art. 222 AEUV und Art. 347 AEUV.
40 Siehe zudem Art. 2 Abs. 3, Art. 119 Abs. 1 und Art. 121 Abs. 1 AEUV. Vgl. hierzu EuGH, C-370/12, ECLI:EU:C:2012:675, Pringle, Rn. 51 und 64.
41 Die Ausnahmestellung von Art. 122 AEUV im Rahmen der wirtschaftspolitischen Kompetenzverteilung auch betonend Ulrich Häde, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV – AEUV. Kommentar, Art. 122 AEUV Rn. 2; Doris Hattenberger, in: Schwarze/Becker/Hatje/Scho (Hrsg.), EU-Kommentar, 4. Aufl., Baden-Baden 2019, Art. 122 AEUV Rn. 1; Franz C. Mayer & Philipp Lütkemeyer, Hamilton in Brüssel? Europa- und verfassungsrechtliche Aspekte der Reform des EU-Eigenmittelsystems und des Next Generation-Programms der EU, KritV 2020, S. 317–350, S. 328.
42 So auch der Juristische Dienst des Rates in seinem Gutachten zu den Vorschlägen zu Next Generation EU vom 24.6.2020, 9062/20, Rn. 121.
43 Johanna Wolff, „Unbeschadet“ – Zum praktischen Verständnis eines beliebten Wortes in deutschen und europäischen Normen und Verträgen, JZ 2012, S. 31–35.
44 Vgl. auch das Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates (Fn. 42), Rn. 121, wonach die Anwendung von Art. 122 Abs. 1 AEUV nicht zur Aushöhlung oder Umgehung anderer vertraglicher Rechtsgrundlagen führen dürfe.
45 So die Einfügung von „im Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten“ und der Hinweis auf den Energiebereich in Abs. 1 sowie die kosmetische Streichung des Erfordernisses einer qualifizierten Mehrheit im Rat in Abs. 2, was sich bereits aus Art. 16 Abs. 3 EUV ergibt.
46 Vgl. die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates zur Tagung vom 21. und 22. Juni 2007, 11177/07 CONCL 2, S. 22; hierzu auch Matthias Roth, Poland as Policy Entrepreneur in European External Energy Policy: Towards Greater Energy Solidarity vis-à-vis Russia?, Geopolitics 2011, S. 600–625, S. 616–618.
47 Europäische Kommission, Q & A: Next Generation EU – Legal Construction, QANDA/20/1024, 9.6.2020, Abschn. 3. Kritisch hierzu Päivi Leino-Sandberg & Matthias Ruffert, Next Generation EU and its Constitutional Ramifications: A Critical Assessment, CMLR 2022, S. 433–472, S. 446, nach denen sich diese Ansicht nicht aus dem Wortlaut ergebe, sondern aus der klassischen Theorie zum Ausnahmezustand, wonach die normalen verfassungsrechtlichen Verfahren verlassen werden könnten. Dagegen ist vorzubringen, dass auch Art. 122 AEUV ein verfassungsrechtliches Verfahren bietet, namentlich ein Nicht-Gesetzgebungsverfahren, in dem der Rat als alleiniger Gesetzgeber auftritt; zu Art. 122 AEUV als Nicht-Gesetzgebungsverfahren siehe Nicholas Otto, Die Vielfalt unionaler Rechtsetzungsverfahren. Eine verfassungs- und verfahrenstheoretische Rekonstruktion der Funktions- und Organisationslogiken des Rechtsetzungsverfahrensrechts der Europäischen Union, Tübingen 2022, S. 112 f.
48 Siehe Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates (Fn. 42), Rn. 121.
49 Auf die Bedeutung des Verhältnismässigkeitsprinzips für die Kompetenz der EU in Krisenzeiten aufmerksam machte bereits Christopher Unseld, Verhältnismässig krisensicher – Wie Gerichte auf den Ausnahmezustand reagieren, in: Bauerschmidt et al. (Hrsg.), Konstitutionalisierung in Zeiten globaler Krise, Baden-Baden 2015, S. 141–187, S. 168 f.
50 Vgl. Barczak (Fn. 5), S. 619 f.
51 Ausführlich zu dieser Formel Marie Herberger, „Ausnahmen sind eng auszulegen“. Die Ansichten beim Gerichtshof der Europäischen Union, Berlin 2017. Früher auch schon Theodor Schilling, Singularia non sunt extendenda. Die Auslegung der Ausnahme in der Rechtsprechung des EuGH, EuR 1996, S. 44–57.
52 Vgl. auch Karl Riesenhuber, Die Auslegung, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre. Handbuch für Ausbildung und Praxis, 2. Aufl., Berlin/New York 2010, Rn. 62.
53 Franz Reimer, Apologie der Ausnahme. Rechtstheoretische Perspektiven, in: Kube/Reimer (Hrsg.), Ausnahmen brechen die Regel (Heidelberger Beiträge zum Finanz- und Steuerrecht, Bd. 12), Berlin 2019, S. 71–89, S. 86.
54 Zum Wahrnehmungs- und Ausweitungsgebot von Ausnahmen im Allgemeinen siehe Reimer (Fn. 53), S. 86; in eine ähnliche Richtung, auf das Unionsrecht bezugnehmend, Herberger (Fn. 51); vgl. auch Riesenhuber (Fn. 52), Rn. 62. Siehe im Übrigen das BVerfG, Urteil vom 6.12.2022, 2 BvR 547/21 und 2 BvR 798/21, Rn. 174, das in Art. 122 AEUV „eine grundsätzlich eng auszulegende Ausnahmevorschrift“ erkennt.
55 Vgl. die analytische Dimension als „begrifflich-systematische Durchdringung des geltenden Rechts“ Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl., 1994, S. 23.
56 Reimer (Fn. 53), S. 89.
57 Ibid., S. 87. Vgl. zum bekannten Narrativ, dass aus der Ausnahme die neue Regel wird, Agamben (Fn. 11), S. 8 f.
58 Niklas Luhmann, Kontingenz und Recht, Berlin 2013 [entstanden 1971], S. 277, siehe auch ebd., wonach „schon die einmalige Zulassung einer Ausnahme unter der Voraussetzung der Kontinuität des Systems Konsequenzen für die künftige Behandlung gleichartiger Fälle hat und so einen ersten Schritt zur Änderung der Regel impliziert.“
59 Vgl. die Aufnahme der Habilitation Kaisers (Fn. 3) in die Sachbuch-Bestenliste in Die Zeit vom 24.6.2020, unter <www.zeit.de/2020/27/leseempfehlungen-sachbuch-bestenliste-juli-august> (zuletzt abgerufen am 22.12.2023).
60 Schröder (Fn. 8), S. 7177 C.
61 Zu dieser Formel im Kontext der Corona-Pandemie Tristan Barczak, Die „Stunde der Exekutive“. Rechtliche Kritik einer politischen Vokabel, Recht und Politik 2020, S. 458–468.
62 Vgl. die Schweiz betreffend Bernhard Waldmann, Staatsrechtliche Herausforderungen, in: Uhlmann/Höfler (Hrsg.), Notrecht in der Corona-Krise. 19. Jahrestagung des Zentrums für Rechtsetzungslehre, Zürich 2021, S. 3–29, S. 9 f. M.w.N. zur Beteilung des (Schweizer) Parlaments während der Corona-Pandemie Mahlmann (Fn. 12), S. 70–76.
63 M.w.N. zur Schweiz und zu Deutschland Mahlmann (Fn. 12), S. 86–90.
64 Martin Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, München 2023, Art. 13 EUV Rn. 1. Vgl. auch Christoph Möllers, Gewaltengliederung. Legitimation und Dogmatik im nationalen und internationalen Rechtsvergleich, Tübingen 2005, S. 209 ff.
65 Nettesheim (Fn. 64), Rn. 1; Christian Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV – AEUV. Kommentar, Art. 13 EUV Rn. 9.
66 Otto (Fn. 47), S. 101, 200 ff. A.M. wohl Christian Calliess & Moritz Hartmann, Zur Demokratie in Europa: Unionsbürgerschaft und europäische Öffentlichkeit, Tübingen 2014, S. 11, nach denen die demokratische Legitimation der EU von einer paritätischen Beteiligung von Parlament und Rat an der Gesetzgebung ausgeht.
67 Martin Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, München 2023, Art. 10 EUV Rn. 32.
68 Vgl. Martin Nettesheim, „Next Generation EU“: Die Transformation der EU-Finanzverfassung, Archiv des öffentlichen Rechts 2020, S. 381–437, S. 411.
69 Durch eine solche Wertung unterscheidet sich nach Kant der Begriff des Exempels vom Begriff des Beispiels, hierzu Günther Buck, Kants Lehre vom Exempel, Archiv für Begriffsgeschichte 1967, S. 148–183, insbes. S. 156.
70 Vgl. für eine detaillierte Nachzeichnung des politischen Weges von NGEU David M. Herszenhorn, Lili Bayer & Rym Momtaz, The coronavirus recovery plan that von der Leyen built, Politico vom 16.7.2020. M.w.N. auch Bruno De Witte, The European Union’s Covid-19 Recovery Plan. The Legal Engineering of an Economic Policy Shift, CMLR 2021, S. 635–682, S. 638 ff.
71 Gemeinsame Erklärung der Mitglieder des Europäischen Rates vom 26. März 2020, Pkt. 14, abrufbar unter <www.consilium.europa.eu/media/43085/26-vc-euco-statement-de.pdf> (zuletzt abgerufen am 22.12.2023).
72 Verordnung (EU) Nr. 407/2010 (Fn. 6).
73 Politico (Fn. 70). Zudem lag zu diesem Zeitpunkt bereits der Vorschlag der Verordnung zum den Arbeitsmarkt betreffenden SURE-Programm vor, das sich ebenso auf Art. 122 AEUV stützt; siehe sodann im Mai 2020 in Kraft tretend die Verordnung (EU) 2020/672 des Rates vom 19. Mai 2020 zur Schaffung eines Europäischen Instruments zur vorübergehenden Unterstützung bei der Minderung von Arbeitslosigkeitsrisiken in einer Notlage (SURE) im Anschluss an den COVID‐19‐Ausbruch, ABl. L 159 vom 20.5.2020, S. 1.
74 Erklärung der Kommissionspräsidentin von der Leyen auf der Pressekonferenz zur Reaktion der EU auf die Coronavirus-Krise vom 15.4.202l, <https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/statement_20_664> (zuletzt abgerufen am 22.12.2023).
75 Vgl. <www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/statement-von-bundeskanzlerin-merkel-nach-der-sitzung-des-corona-kabinetts–1745252> (zuletzt abgerufen am 22.12.2023).
76 Europäischer Rat, Report on the comprehensive economic policy response to the COVID-19 pandemic, Press Release 223/20 vom 9.4.2020.
77 Während Frankreich ursprünglich für ein eigenständiges Unterstützungsprogramm plädierte, erkannte die Kommission den grösseren Verhandlungsspielraum bei einer Verbindung mit dem gerade in Diskussion stehenden mehrjährigen Finanzrahmen, hierzu Politico (Fn. 70).
78 Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 23. April 2020, abrufbar unter <www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2020/04/23/conclusions-by-president-charles-​michel-following-the-video-conference-with-members-of-the-european-council-on-23-april-2020/> (zuletzt abgerufen am 22.12.2023).
79 Politico (Fn. 70).
80 Resolution of the Parliament on the new multiannual financial framework, own resources and the recovery plan, 2020/2631(RSP), 13.5.2020.
81 Mitteilung der Kommission vom 27.5.2020, Der EU-Haushalt als Motor für den Europäischen Aufbauplan, COM(2020) 442 final.
82 Deutsche Bundesregierung, Deutsch-französische Initiative zur wirtschaftlichen Erholung Europas nach der Coronakrise, Pressemitteilung vom 18.5.2020, abrufbar unter <www.bundesregierung.de/breg-de/service/archiv/deutsch-franzoesische-initiative-zur-wirtschaftlichen-erholung-europas-nach-der-coronakrise-1753760> (zuletzt abgerufen am 22.12.2023); hierzu auch Politico (Fn. 70) und De Witte (Fn. 70), S. 641.
83 Schlussfolgerungen des Europäischen Rates zur ausserordentlichen Tagung vom 17.-21. Juli 2020, EUCO 10/20.
84 Zum Vergleich der Zahlen des Kommissionsvorschlags und jener der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates Jorge Núñez Ferrer, Reading between the lines of Council agreement on the MFF and Next Generation EU, CEPS Policy Insights No. 2020-18, Juli 2020.
85 Resolution of the Parliament on the conclusions of the extraordinary European Council meeting of 17-21 July 2020, 2020/2732(RSP), 23.7.2020, „[Members] regretted […] the legal basis chosen to set up the recovery instrument which does not give a formal role to elected Members of the European Parliament.“
86 Leino-Sandberg & Ruffert (Fn. 47), S. 437.
87 De Witte (Fn. 70), S. 638.
88 Frank Schorkopf, Die Europäische Union auf dem Weg zur Fiskalunion. Integrationsschritt durch den Rechtsrahmen des Sonderhaushalts „Next Generation EU“, in: Berliner Online-Beiträge zum Europarecht Nr. 121 vom 9.10.2020, S. 11.
89 Alberto de Gregorio Merino, The Recovey Plan: Solidarity and the living constitution, EU Law Live vom 6.3.2021.
90 Beschluss (EU, Euratom) 2020/2053 des Rates vom 14.12.2020 über das Eigenmittelsystem der Europäischen Union und zur Aufhebung des Beschlusses 2014/335/EU, Euratom, ABl. L 424 vom 15.12.2020, S. 1.
91 Art. 5 Abs. 1 Beschluss (EU, Euratom) 2020/2053.
92 Art. 5 Abs. 2 Beschluss (EU, Euratom) 2020/2053.
93 Art. 9 Abs. 4 Beschluss (EU, Euratom) 2020/2053.
94 Verordnung (EU) 2020/2094 des Rates vom 14.12.2020 zur Schaffung eines Aufbauinstruments der Europäischen Union zur Unterstützung der Erholung nach der COVID-19-Krise, ABl. L 433 vom 22.12.2020, S. 23 (EURI-Verordnung).
95 Merino (Fn. 89), S. 4.
96 Art. 2 Abs. 2 lit. b EURI-Verordnung (EU) 2020/2094.
97 Art. 2 Abs. 2 lit. a EURI-Verordnung (EU) 2020/2094.
98 Verordnung (EU) 2021/241 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.2.2021 zur Einrichtung der Aufbau und Resilienzfazilität, ABl. L 57 vom 18.2.2021, S. 17 (RFF-Verordnung).
99 Art. 14 und Art. 17 RFF-Verordnung (EU) 2021/241.
100 Art. 20 RFF-Verordnung (EU) 2021/241.
101 Beachte: Als Rechtsgrundlage für die EFSM-Verordnung (EU) Nr. 407/2010 diente ausschliesslich Abs. 1 des Art. 122 AEUV, für die SURE-Verordnung (EU) 2020/672 hingegen sowohl dessen Abs. 1 als auch dessen Abs. 2.
102 Ulrich Hufeld, Europäische Wirtschafts- und Währungsunion: Das System, in: Broemel (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht. Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, Baden-Baden/Zürich-St. Gallen/Wien 2022, S. 71 ff., Rn. 194.
103 Vgl. zudem Nettesheim (Fn. 68), S. 392 f., wonach in der Praxis der letzten Jahrzehnten ein Einverständnis über eine ungeschriebene Kompetenz der Union zur Anleiheemission gesehen werden kann. Dahingegen negiert Caroline Heber, Europarechtliche Grenzen für den Wiederaufbaufonds, EuR 2021, S. 416–453, S. 437 f., Art. 122 AEUV als Rechtsgrundlage für Fremdmittelbeschaffung der Union; diese Bestimmung betreffe nur die Ausgabenseite.
104 Vgl. 2 Abs. 1 EFSM-Verordnung (EU) Nr. 407/2010.
105 Vgl. 4 SURE-Verordnung (EU) 2020/672.
106 Deshalb auch die Begrenzung der Anleiheemission durch die Eigenmittel-Obergrenze, vgl. Art. 2 Abs. 2 EFSM-Verordnung (EU) Nr. 407/2010. Demgegenüber wurde in Art. 11 SURE-Verordnung (EU) 2020/672 ein von den Mitgliedstaaten einzurichtendes Garantiesystem geschaffen.
107 Vgl. Art. 311 Abs. 3 S. 3 AEUV.
108 De Witte (Fn. 70), S. 663; Nettesheim (Fn. 68), S. 388 und S. 393 mit Fn. 41. Mayer & Lütkemeyer (Fn. 41), S. 336, sind darüber hinaus der Auffassung, dass es bei NGEU im Gegensatz zum EFSM aufgrund der nicht rückzahlbaren Zuschüsse zu einem Finanzierungsdefizit kommen werde, der Rückgriff auf den Eigenmittelbeschluss deshalb geboten sei.
109 Im Übrigen wäre weiter zu diskutieren, ob eine Doppelabstützung der EURI-Verordnung auf Abs. 1 und Abs. 2 des Art. 122 AEUV notwendig war oder der Rückgriff auf den zweiten Absatz genügt hätte.
110 Vgl. Art. 1 Abs. 2 EURI-Verordnung (EU) 2020/2094; Art. 3 und Art. 4 RFF-Verordnung (EU) 2021/241.
111 Kritisch auch Leino-Sandberg & Ruffert (Fn. 47), S. 450; Nettesheim (Fn. 68), S. 410–411; Schorkopf (Fn. 88), S. 12, sowie auch BVerfG, Urteil vom 6.12.2022, 2 BvR 547/21 und 2 BvR 798/21, Rn. 176–178.
112 Vgl. hierzu auch EuGH, C-5/73, ECLI:EU:C:1973:109, Balkan Import Export GmbH, Rn. 14 f., der darauf hinweist, dass Art. 103 EWGV – die Vorläufernorm von Art. 122 Abs. 1 AEUV – herangezogen werden kann, um „notwendige[] Dringlichkeitsmaẞnahmen“ zu erlassen.
113 So auch Nettesheim (Fn. 68), S. 409 f.; in diese Richtung auch Leino-Sandberg & Ruffert (Fn. 47), S. 447.
114 Eine Unterrichtungspflicht statuiert nur Art. 122 Abs. 2 AEUV, wohingegen dessen Abs. 1 überhaupt keine Mitwirkung des Parlaments vorsieht. Bei einer Doppelabstützung auf beide Absätze, wie bei der EURI-Verordnung, ist das Parlament daher zwingend zu unterrichten. Vgl. hierzu die Rechtsprechung des EuGH, wonach bei einer Doppelabstützung die Mitwirkung des Parlaments nicht umgangen werden darf, EuGH, C-130/10, ECLI:EU:C:2012:472, Parlament / Rat, Rn. 45–77.
115 Vgl. Art. 1 Abs. 2 EURI-Verordnung (EU) 2020/2094.
116 Dieser Aspekt sei ein besonderes Anliegen Deutschlands und der sog. „frugal four“ gewesen, so De Witte (Fn. 70), S. 641; vgl. auch ders. (Fn. 34), S. 10.
117 Europäische Kommission (Fn. 47).
118 Vgl. De Witte (Fn. 70), S. 658, 680; Leino-Sandberg & Ruffert (Fn. 47), S. 444.
119 EuGH, C-409/13, ECLI:EU:C:2015:217, Rat / Kommission, Rn. 64; EuGH, C-425/13, ECLI:EU:C:2015:483, Kommission / Rat, Rn. 69.
120 Hierzu auch De Witte (Fn. 70), S. 668 f., 674.
121 Nach De Witte (Fn. 70), S. 672, wirke die 65-seitige Schlussfolgerung „very much like legislative drafting“.
122 M.w.N. De Witte (Fn. 34), S. 15. Vgl. aus politikwissenschaftlicher Sicht die Rolle des Europäischen Rates als Krisenmanager Lucas Schramm & Wolfgang Wessels, The European Council as a crisis manager and fusion driver: assessing the EU’s fiscal response to the COVID-19 pandemic, Journal of European Integration 2023, S. 257–273.
123 Ähnlich Elena Waigel, „Next Generation EU“. Aufbau, Rechtsgrundlage und Refinanzierung der eigenen Verschuldung der Europäischen Union im Eigenmittelsystem, Baden-Baden 2023, S. 28.
124 Vgl. De Witte (Fn. 34), S. 15 f.
125 Das könnte nach De Witte (Fn. 34), S. 10, ein Gedanke des Vertragsgebers gewesen sein.
126 Am 9.5.2010 veröffentlichte die Kommission ihren Vorschlag, COM(2010) 2010 final; am 11.5.2010 nahm der Rat die EFSM-Verordnung (EU) Nr. 407/2010 an, die sodann am 12.5.2010 publiziert wurde und am 13.5.2010 in Kraft trat.
127 Hierauf verweisend De Witte (Fn. 70), S. 668 f.
128 Dirk Meyer, Next Generation EU. Neues Eigenmittelsystem weist in eine Fiskalunion, EuZW 2021, S. 16–22; Schorkopf (Fn. 88); hierzu bereits früher u.a. Hermann-Josef Blanke & Stefan Pilz (Hrsg.), Die „Fiskalunion“. Voraussetzungen einer Vertiefung der politischen Integration im Währungsraum der Europäischen Union, Tübingen 2014; Christian Calliess & Christopher Schoenfleisch, Auf dem Weg in die europäische „Fiskalunion“? – Europa- und verfassungsrechtliche Fragen einer Reform der Wirtschafts- und Währungsunion im Kontext des Fiskalvertrags, JZ 2012, S. 477–487.
129 Vgl. auch De Witte (Fn. 70), S. 668 f.; Nettesheim (Fn. 68), S. 396.
130 EuGH, Gutachten 2/13, ECLI:EU:C:2014:2454, Beitritt der EU zur EMRK, Rn. 174.
131 Leino-Sandberg & Ruffert (Fn. 47), S. 463 (eigene Übersetzung).
132 BVerfG, Urteil vom 6.12.2022, 2 BvR 547/21 und 2 BvR 798/21. Siehe hierzu die Kommentierungen von Peter Hilpold, Next Generation EU und die „Einnahmensouveränität“: Das EU-Eigenmittelsystem vor dem BVerfG. Zugleich Bspr. von BVerfG 6.12.2022 – 2 BvR 547/21, 2 BvR 798/21, EuZW 2023, S. 169–175; Dirk Meyer, EU-Gemeinschaftskredite NextGeneration EU. Urteil des Bundesverfassungsgerichts ermöglicht Fiskalunion ohne Vertragsänderung, EuZW 2023, S. 221–226; Matthias Ruffert, Nikolaus 2.0, Verfassungsblog vom 9.12.2022.
133 Vgl. oben Fn. 69.
134 Vgl. Nettesheim (Fn. 68), S. 411.
135 Vgl. oben Fn. 57.