Risiko & Recht

Ausgabe 03 / 2024

Buchrezension: Gefahr im Verzug bei der vorläufigen Festnahme durch die Polizei (Art. 217 StPO) von Sandra Francesca Lazzarini*

Gian-Flurin Steinegger**

* Lazzarini, Sandra Francesca: Gefahr im Verzug bei der vorläufigen Festnahme durch die Polizei (Art. 217 StPO), Schulthess Juristische Medien AG, Zürich/Genf 2023.

** Gian-Flurin Steinegger, Dr. iur., war von September 2021 bis Juni 2024 Jugendanwalt in der Jugendstrafrechtspflege des Kantons Zürich. Seit Juli 2024 ist er Behördenmitglied im Spruchkörper der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Thun/BE.

Das Promotionsprojekt von Sandra Francesca Lazzarini gilt einer äusserst spannenden Fragestellung, sozusagen einem „Evergreen“, nämlich der Frage nach den Voraussetzungen selbständiger polizeilicher Zwangsmassnahmen im Vorverfahren. Konkret untersucht es, unter welchen Bedingungen die Polizei im Vorverfahren Personen im Sinne von Art. 217 Strafprozessordnung vorläufig festnehmen darf. Die Autorin macht sich bei ihrer Analyse die „Gesetzeslücke“ zunutze, dass die polizeiliche Zwangsmassnahme der vorläufigen Festnahme – im Unterschied zu anderen polizeilichen Zwangsmassnahmen – im Gesetzeswortlaut die Situation von „Gefahr im Verzug“ nicht erwähnt. Das ebnet ihr den Weg, die Fragestellung ihres Promotionsprojekts darauf auszurichten, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Polizei nach Untersuchungseröffnung Personen festnehmen darf.

Ihre Arbeit gliedert sie fortan in drei Teile: rechtliche Grundlagen der strafprozessualen Polizeihaft; Voraussetzungen der vorläufigen Festnahme; Fazit.

Im ersten Teil ihres Buches, überschrieben mit Grundlagen der strafprozes­su­alen Polizeihaft erörtert die Autorin die Grundlagen der Polizeihaft in den einschlägigen Konventionen sowie in der Bundesverfassung (BV). Sie verweist dabei zunächst auf Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), unter dessen Schutzbereich der Freiheitsentzug falle und nach dessen Rechtmässigkeit im jeweiligen Mitgliedstaat er sich bestimme, wobei die Bestimmungen im schweizerischen Recht diese Normierungsanforderungen spätestens seit Einführung der Zwangsmassnahmengerichte ohne Weiteres erfülle. Mit Blick auf die Bundesverfassung sei der Freiheitsentzug ein Grundrechtseingriff in die Bewegungsfreiheit, wobei gestützt auf die einschlägige Rechtsprechung von einem schweren Eingriff auszugehen sei. Im Sinne des Dreisatzes Gesetzlichkeit, öffentliches Interesse und Verhältnismässigkeit ergebe sich die Legitimation des Grundrechtseingriffs durch die vorläufige Festnahme – unter Berücksichtigung der entsprechenden Einschränkungen – aus dem Zweck der Zwangsmassnahmen selbst (Beweissicherung). Zudem würde der Grundrechtseingriff des Freiheitsentzugs mit Art. 31 Bundesverfassung mit einem weiteren Verfassungsartikel abgesichert.

Bevor in den zweiten Teil übergeleitet wird, widmet sich Lazzarini in einem separaten Abschnitt der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kanton im Bereich der Sicherheit im Sinne von Art. 57 Bundesverfassung, wobei Besonderheiten in der Organisation der Polizei in einzelnen Kantonen nicht unbeachtet bleiben. Abschliessend folgt eine rein deskriptive Darstellung des polizeilichen Ermittlungsverfahrens, in welcher der Leser durch gezielte Bezugnahmen auf wichtige Schnittstellen zwischen den polizeilichen und staatsanwaltschaftlichen Zuständigkeiten im Vorverfahren eingestimmt wird, die alsdann in den Folgekapiteln der Arbeit in den Fokus der Untersuchung rücken.

Im zweiten Teil des Werkes, Voraussetzungen der vorläufigen Festnahme, nimmt die Autorin zunächst darstellend die Voraussetzungen der vorläufigen polizeilichen Festnahme als eigenständiger polizeilicher Zwangsmassnahme in den Blick. Dabei konkretisiert sie die vorläufige polizeiliche Festnahme im engeren Sinne als die auf 24 Stunden beschränkte Festnahme durch die Polizei. Es folgen alsdann Ausführungen zu der wichtigen Abgrenzung der polizeilichen Festnahme von der polizeilichen Vorführung gemäss Art. 207 Strafprozessordnung, die einen dringenden Tatverdacht sowie Haftgründe voraussetzt und von der Verfahrensleitung angeordnet werden muss. Dies nutzt Lazzarini zu einem ersten Zwischenfazit, nämlich dass die selbständige vorläufige Festnahme durch die Polizei hauptsächlich dann zum Tragen komme, wenn noch kein Untersuchungsverfahren eröffnet sei und kein dringender Tatverdacht auf die Begehung eines Verbrechens oder Vergehens und keine Haftgründe vorlägen. Nach diesen grundlegenden Ausführungen schwenkt die Autorin „in medias res“ in die Kernfrage ihres Promotionsprojekts ein. Im Sinne eines Analogismus verweist sie zunächst auf diejenigen Stellen in der Strafprozessordnung, bei welchen bei polizeilichen Zwangsmassnahmen tatsächlich auf „Gefahr im Verzug“ verwiesen werde, was einerseits beim Betreten von Räumlichkeiten und andererseits bei Durch- und Untersuchungen sowie bei vorläufigen Sicherstellungen der Fall sei. Unter Bezugnahme auf die vorerwähnten Zwangsmassnahmen wendet sich Lazzarini nun im Sinne einer Begriffsbestimmung dem Begriff „Gefahr im Verzug“ zu und beschreibt ihn als einen Moment der höchsten Stufe von Dringlichkeit, in welchem die vorgängige Einholung einer Anordnung durch die Verfahrensleitung die Beweissicherung erheblich gefährden würde. Mit Verweis auf die einschlägige Literatur kommt sie zu dem Schluss, dass das Kriterium der „Gefahr im Verzug“ auch für die polizeiliche Festnahme herangezogen werden könne, mithin auch nach Verfahrenseröffnung eine polizeiliche Notkompetenz zur vorläufigen Festnahme bestehe, auch wenn diese im Gesetzestext nicht explizit erwähnt sei.

Nach diesen Ausführungen widmet sich Lazzarini nun dem eigentlichen Art. 217 Strafprozessordnung und führt den Leser Schritt für Schritt durch den Gesetzestext. Im Blick auf den ersten Absatz beschreibt sie, dass bei „Flagranz“ (Täter auf frischer Tat ertappt) und „Quasi-Flagranz“ (Täter unmittelbar nach einer Begehung angetroffen) die polizeiliche Festnahmekompetenz in jedem Falle bestehe, also losgelöst von der Frage, ob bereits eine Strafuntersuchung eröffnet wurde. Dies sei ganz grundsätzlich auf den Verfolgungszwang von Art. 7 Abs. 1 Strafprozessordnung zurückzuführen. Eine Relativierung dieser Festnahmepflicht ergebe sich lediglich dann, wenn eine Festnahme unverhältnismässig wäre, etwa wenn der Sachverhalt und die Identität festgestellt werden konnten und keine Haftgründe bestünden. Sodann geht die Autorin auf Absatz 2 von Art. 217 Strafprozessordnung ein, der eine polizeiliche Festnahmekompetenz dann vorsieht, wenn gestützt auf Ermittlungen oder andere zuverlässige Informationen eine Person einer Tat verdächtigt werde. Sie beschreibt den Terminus der „Ermittlungen“ im Wesentlichen unter Bezugnahme auf das polizeiliche Ermittlungsverfahren gemäss Art. 306 Strafprozessordnung, während sie die Begriffsfolge „andere zuverlässige Informationen“ im Kern mit Strafanzeigen beziehungsweise Strafanträgen erläutert. Hinzu komme die Notwendigkeit eines „hinreichenden“ Tatverdachts im Sinne hinreichender Anhaltspunkte, dass tatsächlich eine Straftat begangen wurde, wobei lediglich auf einen „Prima-Facie-Beweis“ abzustellen sei. An diesem Punkt ihrer Arbeit nimmt Lazzarini ihre eigentliche Kernfrage wieder auf, wobei sie ihre bereits zuvor abgeleiteten Ergebnisse nun im Kontext des eigentlichen Gesetzesartikels weiter ausführt und sich mit dem gewichtigen Einwand eines Teils der Lehre auseinandersetzt. Dieser Einwand besagt, dass die Konstellation der Gefahr im Verzug bei der vorläufigen Festnahme lediglich eine untergeordnete praktische Relevanz habe, da heute moderne Kommunikationsmittel vorlägen und die Pikettorganisationen der Staatsanwaltschaft 24 Stunden erreichbar seien. Dem setzt die Autorin entgegen, dass nicht allein die (Nicht-)Erreichbarkeit der Verfahrensleitung massgebend sei, sondern auch der Umstand, dass diese womöglich gar nicht entscheiden könne, weil beispielsweise die Voraussetzungen für einen Vorführungsbefehl mangels eines dringenden Tatverdachts und mangels Haftgründe (noch) nicht gegeben seien oder die Straftat in keinem Zusammenhang mit einem bereits eröffneten Strafverfahren stehe.

Separate Ausführungen werden sodann zu Art. 1 Abs. 1 lit. b von Art. 217 Strafprozessordnung gemacht, wonach die Ausschreibung zur Verhaftung ausschliesslich von der Staatsanwaltschaft angeordnet werden könne und mithin für die Frage der Kompetenzverteilung nicht relevant sei. Der Systematik des Artikels gemäss folgt die Beschreibung der Umstände einer vorläufigen Festnahme bei Übertretungen im Sinne von Art. 217 Abs. 3. Dazu hält die Autorin fest, dass diese nicht grundsätzlich ausgeschlossen sei, indessen im Sinne des Verhältnismässigkeitsprinzips regelmässig mildere Zwangsmassnahmen (beispielsweise die Vorladung) Vorrang hätten. Weil eine Untersuchungshaft bei Übertretungen ohnehin ausgeschlossen sei, spielten hier Abgrenzungs- und Zuständigkeitsfragen mit der Staatsanwaltschaft keine Rolle.

Diese Resultate fasst die Autorin in ihrem Fazit nochmals eins zu eins zusammen, ohne daraus weitere Schlussfolgerungen abzuleiten.

Im Sinne einer Würdigung kann festgehalten werden, dass die Dissertation von Sandra Francesca Lazzarini einen bedeutenden Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion um die polizeilichen Zwangsmassnahmen und insbesondere zur anspruchsvollen Frage nach den Kriterien polizeilicher und staatsanwaltschaftlicher Zuständigkeiten im Vorverfahren darstellt. Während ihre weitreichenden grundlegenden Ausführungen zur vorläufigen polizeilichen Festnahme an sich im Vorverfahren vor allem deskriptiver Natur sind, liegen die Meriten dieses Forschungsteils in einer systematisch und umfassend erarbeiteten Übersicht. In ihrem genuinen Forschungsteil, den sich die Autorin auch im Titel ihres Buches zuschreibt – nämlich der brisanten Frage, ob die Polizei bei Gefahr im Verzug auch nach eröffneter Strafuntersuchung durch die Verfahrensleitung Personen vorläufig festnehmen darf –, gelingen ihr hingegen originäre Einsichten. So liefert Lazzarini eine wissenschaftlich fundierte Begründung, weshalb das Kriterium der Gefahr im Verzug in Analogie zu anderen polizeilichen Zwangsmassnahmen als Kompetenzkriterium polizeilicher Zuständigkeit nach erfolgter Untersuchungseröffnung herangezogen werden darf. Sie muss sich hier indessen der von ihr selbst dargestellten Kritik aus der Lehre stellen, dass diese Situation Ausnahme- und Einzelfälle betreffe, da moderne Kommunikationsmittel und Pikettbereitschaftsdienste der Staatsanwaltschaften grundsätzlich die Erreichbarkeiten sicherstellten. Auch wenn die Autorin im Kern ihrer Fragestellung die Nicht-Erreichbarkeit der Verfahrensleitung bei Gefahr im Verzug nicht als einzige Variante polizeilicher Zuständigkeit nach erfolgter Verfahrenseröffnung beschreibt und aufzeigt, dass die Polizei auch dann zuständig bleibe, wenn die Straftat in keinem Zusammenhang mit einem bereits eröffneten Strafverfahren stehe und daher – mangels dringenden Tatverdachts und Haftgründen – zweifelhaft sei, ob die Voraussetzungen für eine polizeiliche Vorführung gegeben seien, dürften solche Situationen im Strafrechtsalltag die Ausnahme bleiben. Als (ehemaliger) Strafrechtspraktiker hätte sich der Rezensent zur Plausibilisierung dieser (Ausnahme-)Situationen in der Promotionsarbeit noch das eine oder andere praktische Beispiel gewünscht. Im Ergebnis schmälert dieser Hinweis die Bedeutung der vorliegenden wissenschaftlichen Analyse jedoch in keiner Weise, hält man sich die einschneidenden Folgen eines solchen Grundrechtseingriffs vor Augen. In diesem Sinne wird das Buch Lazzarinis sowohl der Wissenschaft als auch den Strafrechtspraktikern wärmstens empfohlen.