Risiko & Recht

Ausgabe 02 / 2024

Anstieg der Kriminalität in der Schweiz: Zur Bedeutung des Faktors Staatsangehörigkeit

Dirk Baier*

Aus Anlass der Vorstellung der Polizeilichen Kriminalstatistik des Jahres 2023 und der Diskussion um den Kriminalitätsanstieg und die „Ausländerkriminalität“ werden in diesem Beitrag verschiedene differenzierende Auswertungen dieser Statistik vorgestellt. Zusätzlich werden die Konstruktionsbedingungen der Statistik beleuchtet, die zur Folge haben, dass die Kriminalität von Ausländerinnen und Ausländern überschätzt wird. Die Auswertungen zeigen, dass es in verschiedenen Kriminalitätsbereichen keinen Anstieg gegeben hat; Zahlen zu Beschuldigten mit ausländischer Herkunft nehmen vor allem im Diebstahlsbereich zu.

* Prof. Dr. Dirk Baier ist seit 2024 Professor für Kriminologie an der Universität Zürich und seit 2015 Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Vorher war er wissenschaftlicher Mitarbeiter und stellvertretender Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen in Hannover/Deutschland.

Inhalt

  1. Einleitung
  2. Kriminalitätsentwicklung in der Schweiz im letzten Jahrzehnt
    1. Entwicklung verschiedener Straftaten
    2. Entwicklung der Aufklärungsrate
  3. Die Konstruktionsbedingungen der Kriminalstatistik
    1. Konstruktionsbedingungen zulasten ausländischer Beschuldigter
    2. Verurteilungen
  4. Entwicklung ausländischer Beschuldigter in der Kriminalstatistik
  5. Kriminalität nach Herkunftsgruppen
  6. Diskussion
  7. Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Nach der Vorstellung der Polizeilichen Kriminalstatistik 2023 am 25. März 2024 wurde vor allem über zwei Themen intensiv diskutiert[1]Z.B. <https://www.20min.ch/story/loesungen-gesucht-maghreb-kriminelle-treiben-politik-um-sp-frau-fuer-ausschaffung-103071407>.: Erstens war der im Vergleich der letzten Jahre überproportionale Kriminalitätsanstieg erklärungsbedürftig. Zweitens wurde der Anstieg ausländischer Beschuldigter thematisiert, der sogleich als eine Erklärung des Kriminalitätsanstiegs insgesamt diente. Die Ausländerthematik ist dabei hochumstritten: Während einerseits das Narrativ des Tabus bemüht wird, welches endlich gebrochen werden müsse, um Kriminalität wirksam bekämpfen zu können, wird andererseits darauf hingewiesen, dass ein Ausländerstatus allein nicht als Ursache kriminellen Verhaltens betrachtet werden könne. Die Rede von einem Tabu, welches gebrochen werden müsse, ist dabei stark überzogen, als in der Schweiz seit Jahrzehnten über Ausländerkriminalität geforscht wird.[2]Vgl. U.a. u.a. Kunz, Bauhofer/Queloz, Killias, Eisner et al., Jann, Schwarzenegger/Studer, Simmler/Schär, Baier Migration. Die höhere Kriminalitätsbelastung der ausländischen Bevölkerung wird dabei weitestgehend nicht bezweifelt; die zentrale Frage ist jedoch, inwieweit sich diesbezüglich Änderungen im Zeitverlauf ergeben, welche Faktoren für die Höherbelastung verantwortlich sind und welche Folgerungen sich aus entsprechenden Analysen ableiten. Die Diskussionen um die Polizeiliche Kriminalstatistik 2023 sollen im Folgenden zum Anlass genommen werden, aktuelle Zahlen zu dieser Thematik zu präsentieren und zu interpretieren, um eine sachliche Grundlage zur Thematik zu schaffen.

II. Kriminalitätsentwicklung in der Schweiz im letzten Jahrzehnt

1. Entwicklung verschiedener Straftaten

Zunächst soll ein Blick auf die Entwicklung der registrierten Kriminalität in der Schweiz geworfen werden. Bei der Veröffentlichung der Kriminalstatistik 2023 wurde u.a. von einem Anstieg der Straftaten um 14.0% gesprochen.[3]Vgl. <https://www.bfs.admin.ch/asset/de/30566151>. Dies ist, wird die absolute Anzahl an Straftaten betrachtet, korrekt, wie Tabelle 1 zeigt. Wurden im Jahr 2022 458’549 Straftaten registriert, waren es 2023 bereits 522’558. Dies ist in den letzten zehn Jahren der stärkste Anstieg: Zwischen 2013 und 2021 hat es jährlich einen Rückgang der Straftaten gegeben, wobei dieser Rückgang zwischen 0.2% (von 2018 auf 2019) und 8.1% lag (von 2013 auf 2014). Der Anstieg von 2022 auf 2023 fällt dabei noch einmal höher aus als im Jahr zu vor (+10.5%).

Allerdings wird der Anstieg überschätzt, soweit zwischen 2022 und 2023 die Schweizer Bevölkerung um 0.9% angewachsen ist (hauptsächlich durch Zuwanderung). Bei der Interpretation der Entwicklungen der registrierten Straftaten sollte immer die Bevölkerungsentwicklung mitberücksichtigt werden, da unter sonst gleichen Bedingungen ein Anstieg der Bevölkerung mit einem Anstieg der Straftatenanzahl einhergeht. Wird dies getan und die sog. Häufigkeitszahl berechnet (Straftaten pro 100’000 der Bevölkerung) liegt der Anstieg bei 13.0%, wobei dieser ebenfalls höher ausfällt als im Jahr vorher (+9.6%). Obwohl es wichtig ist, die Bevölkerungsentwicklung bei der Betrachtung von Kriminalitätstrends zu berücksichtigen, kann dadurch ein weiteres Problem nicht behoben werden: Berücksichtigt werden kann nur die Bevölkerung, die in der Schweiz wohnhaft ist; kriminelle Delikte werden aber nicht allein von diesen Personen verübt, sondern auch von vielen anderen hier anwesenden Personengruppen, wie bspw. Touristen, illegal Anwesenden, Durchreisenden usw. In die Kriminalstatistiken gehen die von diesen Personen verübten Delikte ein, in der Bevölkerungsstatistik werden diese Gruppen hingegen nicht ausgewiesen.

Da sich dieses Problem nicht lösen lässt – es kann hier nur darauf hingewiesen werden – ist zumindest die Betrachtung von Häufigkeitszahlen (also an der Bevölkerungsentwicklung relativierten Kriminalitätszahlen) bei Betrachtung von Entwicklungstrends geboten. Werden verschiedene Deliktkategorien betrachtet, ergeben sich dabei keineswegs gleichartige Trends, wie Tabelle 1 anhand von drei Deliktkategorien der Kriminalstatistik zeigt. Vermögensdelikte (insbesondere Diebstähle, Sachbeschädigungen und Betrugsdelikte) machen mehr als zwei Drittel aller Straftaten aus (2023: 67.9%); bei diesen Delikten ergibt sich ein Anstieg der Häufigkeitszahl von 2022 auf 2023 um 16.6%. Delikte gegen Leib und Leben (zu drei Viertel einfache Körperverletzungen und Tätlichkeiten) bleiben weitestgehend konstant (+1.1%); im Jahr vorher waren diese noch um 5.9% gestiegen. Bei Delikten gegen die sexuelle Integrität (mehrheitlich Pornografiedelikte und sexuelle Belästigungen) zeigt sich im Vergleich der Jahre 2022 und 2023 sogar ein Rückgang um 8.1%; auch hier gab es im Jahr vorher noch einen Anstieg um 5.2%.

Diese Auswertungen zeigen, dass die Entwicklungen sehr heterogen sind und meist nur jene Delikte in den Fokus der Öffentlichkeit geraten, bei denen sich Anstiege zeigen. Dabei fällt die Heterogenität in den Trends noch viel grösser aus, als dies in Tabelle 1 dargestellt ist. Zusätzlich durchgeführt wurden für 96 Einzeldelikte Berechnungen zur Veränderung der Häufigkeitszahl zwischen 2022 und 2023. Ausgewählt wurden dabei jene Delikte, in denen in der Kriminalstatistik beider Jahre im Durchschnitt mindestens 100 Straftaten registriert wurden. Bei 60 Delikten findet sich ein Anstieg der Häufigkeitszahl zwischen 0.1% und 436.8%; die stärksten Anstiege sind bei den Delikten „In Umlaufsetzen falschen Geldes (Art. 242 StGB)“ und „Amtsanmassung (Art. 287 StGB)“ festzustellen. Daneben zeigen sich bei 36 Delikten und damit bei über einem Drittel Rückgänge von bis zu 97.7%. Die stärksten Rückgänge sind dabei für die Delikte „Störung des öffentlichen Verkehrs (Art. 237 StGB)“, „Störung des Eisenbahnverkehrs (Art. 238 StGB)“ und „Einführen, Erwerben, Lagern falschen Geldes (Art. 244 StGB)“ vorhanden.

Bei Betrachtung der Einzeldelikte fällt zudem auf, dass zwischen 2022 und 2023 insbesondere Cybercrime- und Diebstahlsdelikte stärker angestiegen sind. So haben der Diebstahl ab/aus Fahrzeugen, der Fahrzeugeinbruchdiebstahl, der Entreissdiebstahl, der Taschendiebstahl, der Einschleichdiebstahl und der Ladendiebstahl jeweils um über 20% zugenommen (Häufigkeitszahl). Bei einigen Delikten des Bereichs Leib und Leben sind ebenfalls Anstiege feststellbar. So sind vollendete Tötungsdelikte von 42 auf 53 registrierten Straftaten gestiegen – ein Anstieg um 25.1% (bezogen auf die Häufigkeitszahl). Allerdings ist bei generell niedrigen Fallzahlen immer von einer Schwankung auszugehen: 2013 und 2015 gab es, bei einer geringeren Bevölkerungszahl, 57 vollendete Tötungsdelikte. Auch Fälle schwerer Körperverletzungen sind angestiegen, und zwar von 762 auf 880 registrierte Taten (+14.5%). Dies klingt dramatisch; allerdings bedeutet dies, dass es pro Tag in der gesamten Schweiz zwei- bis dreimal zu schweren Körperverletzungen kommt. Zudem kann für einen Anstieg der schweren Körperverletzungsdelikte durchaus auch eine ansteigende Anzeigebereitschaft mitverantwortlich sein. Gerade im Häuslichen Bereich sind die schweren Körperverletzungen von 123 auf 147 Fälle gestiegen; im Häuslichen Bereich ist die Anzeigebereitschaft aber traditionell noch gering, ansteigende Zahlen stehen daher eher für eine zunehmende Anzeigebereitschaft als für reale Veränderungen des Gewaltverhaltens. Einfache Körperverletzungen, die zum Bereich Leib und Leben gezählt werden, haben zugleich abgenommen (-1.9%), d.h. es ergibt sich mit Blick auf den Gewaltbereich kein klarer Trend im Vergleich der Jahre 2022 und 2023. Bei den Delikten gegen die sexuelle Integrität ist zu konstatieren, dass sexuelle Nötigungen um 10.9%, Vergewaltigungen um 4.1%, sexuelle Belästigungen um 3.8% zurückgegangen sind. Da es keinen Grund gibt, anzunehmen, dass die Anzeigebereitschaft in diesen Bereich fällt, dürften dies reale Rückgänge darstellen.

Tabelle 1: Entwicklung verschiedener Kriminalitätszahlen (Polizeiliche Kriminalstatistik, eigene Berechnungen)

2. Entwicklung der Aufklärungsrate

In Tabelle 1 ist zusätzlich die Aufklärungsrate dargestellt. Als aufgeklärt gilt eine Straftat dann, wenn von der Polizei zumindest eine Person als Urheber oder Urheberin dieser Straftat identifiziert wurde. Die Aufklärungsrate ist seit 2013 kontinuierlich von 28.9% auf 41.9% bis 2021 gestiegen; in den beiden darauffolgenden Jahren ist sie gefallen, im Jahr 2023 auf 38.5%. Die Aufklärungsrate korreliert dabei mit der Deliktzusammensetzung: Wenn bspw. der Anteil an Vermögensdelikten zunimmt, nimmt die Aufklärungsrate ab, weil zu Vermögensdelikten generell selten Beschuldigte ermittelt werden. Im Jahr 2023 wurden bspw. nur 24.3% der Vermögensdelikte aufgeklärt, während es bei den Delikten des Bereichs Leib und Leben 86.5% waren und bei den Delikten gegen die sexuelle Integrität 86.0%. Unter den Einzeldelikten mit niedriger Aufklärungsrate befanden sich 2023 vor allem Cybercrime- und Diebstahlsdelikte. Beim Fahrzeugdiebstahl beträgt die Aufklärungsrate bspw. nur 5.3% – dies ist die niedrigste Rate im Vergleich aller Einzeldelikte, die im Jahr 2023 mindestens 100-mal registriert wurde. Auch beim Taschendiebstahl fällt die Rate mit 8.8% sehr niedrig aus; bei anderen Diebstahlsdelikten liegt sie bei ca. 20 Prozent. Die einzige Ausnahme stellt der Ladendiebstahl mit einer Aufklärungsrate von 86.8% dar. Dies ist deshalb der Fall, weil beim Ladendiebstahl eine Anzeige i.d.R. dann erfolgt, wenn ein Ladendieb bzw. eine Ladendiebin überführt wurde.

Warum ist die Information zur Aufklärungsrate wichtig? Dies ist deshalb der Fall, weil nur zu aufgeklärten Taten Informationen zu den Beschuldigten vorliegen, d.h. Informationen wie das Alter, das Geschlecht oder der Aufenthaltsstatus/die Staatsangehörigkeit. Wenn nun, wie beim Diebstahl, nur jede fünfte Tat aufgeklärt wird, ist bei vier von fünf Taten nicht bekannt, welche Merkmale die Tatperson hatte. Es kann dabei nicht einfach angenommen werden, dass sich die Täterschaft bei unaufgeklärten Straftaten identisch zusammensetzt wie bei aufgeklärten Straftaten. Folgerungen, welche Personengruppen für Kriminalitätsentwicklungen verantwortlich sind, können bei Straftaten mit geringer Aufklärungsrate daher nur begrenzt gezogen werden – genau dies wurde aber bei der Vorstellung der Kriminalstatistik 2023 wiederholt getan, als auf Ausländerinnen und Ausländer bzw. Asylsuchende verwiesen wurde. Zu beachten ist dabei zusätzlich, dass die Beschuldigung noch nicht mit der Verurteilung gleichzusetzen ist; d.h. die Beschuldigtenzahlen sind doppelt unsicher. Erstens deshalb, weil sie teilweise (wie bei Diebstahlsdelikten) nur einen kleinen Teil der Täterschaft abbilden, und zweitens deshalb, weil sich die Beschuldigung im Laufe des weiteren Strafverfahrens als falsch erweisen kann. Polizeiliche Kriminalstatistiken für sich genommen sind daher nur begrenzt geeignet, die Hintergründe für die darin deutlich werdenden Entwicklungen zu benennen.

III. Die Konstruktionsbedingungen der Kriminalstatistik

1. Konstruktionsbedingungen zulasten ausländischer Beschuldigter

Es ist an dieser Stelle daher geboten, die Konstruktionsbedingungen der Kriminalstatistiken noch einmal im Detail zu benennen. Zentral an dieser Stelle ist dabei der Aspekt, dass die Konstruktionsbedingungen zur Folge haben, dass Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit in der Statistik systematisch überrepräsentiert werden und die Statistik damit ein verzerrtes Bild der „Ausländerkriminalität“ liefert.

Erfasst werden in der Kriminalstatistik nur Straftaten, die gegen geltendes Recht verstossen. In der Schweiz, aber selbstverständlich auch in vielen anderen Ländern, gibt es Gesetze, gegen die weitestgehend nur Personen ohne Schweizer Staatsangehörigkeit verstossen können. Gemeint ist das Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG), welches Straftaten umfasst, wie die rechtswidrige Ein- oder Ausreise, die illegale Erwerbstätigkeit bzw. Beschäftigung, die Verletzung der An- und Abmeldepflichten u.a.m. Im Jahr 2023 hatten hierbei 96.7% der Beschuldigten eine ausländische Staatsangehörigkeit. Personen mit Schweizer Staatsangehörigkeit treten bspw. bei der Förderung der rechtswidrigen Ein- oder Ausreise in Erscheinung. Würden die Beschuldigten der Straftaten gegen das AIG in die Kriminalstatistik eingehen, wären die Beschuldigtenzahlen zu Ausländerinnen und Ausländern künstlich erhöht – im Jahr 2023 wurden immerhin 26’440 ausländische Beschuldigte des AIG gezählt (bei 90’403 Beschuldigten von Straftaten gegen das Strafgesetzbuch). Im Gegensatz zu Deutschland werden in der Schweiz aber Straftaten gegen das AIG gesondert ausgewiesen und nicht in die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik integriert; gleiches gilt im Übrigen für die Delikte der Betäubungsmittelkriminalität, die in der Schweiz nicht, in Deutschland hingegen schon, in die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik einfliessen.

Ist daher die Kriminalstatistik der Schweiz um diesen Verzerrungsfaktor bereinigt, gilt dies für einen anderen Faktor nicht: die Anzeigerate. Die Polizeiliche Kriminalstatistik ist in der Schweiz, aber ebenso in anderen Ländern, primär eine Anzeigestatistik. Der Grossteil der darin registrierten Straftaten kommt durch Privatpersonen zur Anzeige; dieser Anteil wird auf 90% geschätzt.[4]Neubacher, 37. Die Bereitschaft, Straftaten zur Anzeige zu bringen, variiert dabei mit verschiedenen Merkmalen des Opfers, der Tatperson und der Straftat selbst. Die letzte schweizweite Opferbefragung hat gezeigt, dass die Anzeigerate bei den in dieser Befragung erfassten Delikten zwischen 5.3% (Hate-Crime-Delikte) und 82.0% (Autodiebstahl) variiert.[5]Markwalder et al., Hate-Crime-Opfererfahrungen, Markwalder et al., Opfererfahrungen. Verschiedene, insbesondere Jugendstudien aus dem Ausland, belegen, dass die wahrgenommene Herkunft der Tatperson die Bereitschaft zur Anzeige beeinflusst. So wird auf Basis einer umfangreichen, repräsentativen Jugendbefragung in Deutschland berichtet, dass die Anzeigerate bei Gewaltdelikten 19.5% beträgt, wenn ein deutsches Opfer von einer deutschen Tatperson angegriffen wurde. Wurde ein deutsches Opfer aber von einer nichtdeutschen Tatperson angegriffen, beträgt die Anzeigerate 29.3% und liegt demnach 50% höher.[6]Baier et al., Jugendliche, 46. Zu beachten ist dabei erstens, dass die Differenz in der Anzeigerate sinkt, je schwerer ein Delikt ist; bei Raubtaten oder schweren Körperverletzungen fällt der Unterschied geringer aus. Zweitens liegen vergleichbare Befunde für die Schweiz nur in begrenztem Umfang vor. So wird auf Basis einer schweizweiten Erwachsenenbefragung berichtet, dass Tatpersonen von Körperverletzungen häufiger angezeigt wurden, wenn sie als Person mit Migrationshintergrund wahrgenommen wurden, als wenn dies nicht der Fall war (30.8% zu 13.8% Anzeigerate)[7]Baier, Kriminalitätsopfererfahrungen, 33.; allerdings beruhten diese Ergebnisse auf geringen Befragtenzahlen. Warum sich eine erhöhte Anzeigebereitschaft gegenüber Personen mit fremder Herkunft zeigt, ist bislang nicht abschliessend beantwortet: Hierin kann sich bspw. niederschlagen, dass die Möglichkeiten der informellen Beilegung von Konflikten aufgrund sprachlicher Schwierigkeiten eingeschränkt sind; denkbar ist auch, dass sich Vorurteile und fremdenfeindliche Einstellungen in diesem Verhalten zeigen. Und auch wenn die Anzeigebereitschaft bei der Viktimisierung durch Fremde nicht 50%, sondern in geringerem Ausmass höher liegt als bei einer Viktimisierung durch Schweizer Tatpersonen, hat dies dennoch zur Folge, dass von den Tatpersonen mit Migrationshintergrund überproportional viele in der Statistik auftauchen, diese also zuungunsten ausländischer Personen verzerrt ist.

Wenn der Grossteil der Straftaten über Anzeigen von Privatpersonen in der Kriminalstatistik registriert werden, bleibt ein Anteil von ca. 10% an Straftaten, die über polizeiliche Kontrolltätigkeiten aufgedeckt werden und ins Hellfeld gelangen. Die Polizeilichen Kontrolltätigkeiten hängen wiederum ebenfalls von verschiedenen Faktoren ab. In Bezug auf das hier betrachtete Thema ist vor allem von Bedeutung, inwieweit sich diese an der Herkunft des polizeilichen Gegenübers ausrichten. Hiermit ist das Thema des racial profiling angesprochen. Wenn Personen mit ausländischer Herkunft häufiger aufgrund ihrer äusserlichen Merkmale kontrolliert werden, wären sie in der Kriminalstatistik überrepräsentiert, vorausgesetzt, die Kontrollen führen zu einem relevanten Ergebnis (Feststellung eines Verstosses, Bestätigung eines Tatverdachts o.ä.). Eine Befragungsstudie aus Deutschland konnte dies kürzlich zeigen[8]Müller/Wittlif.: Befragte, die im Erscheinungsbild (Körper, Gesicht, Kleidung) von Deutschen abweichen, berichteten doppelt so häufig vom Erleben einer polizeilichen Kontrolle im öffentlichen Raum als Befragte, die als Deutsche wahrgenommen werden. Der „Erfolg“ der Kontrollen unterschied sich zwischen beiden Gruppen hingegen nicht, insofern jeweils ca. jede dritte Kontrolle zu einer Sanktion (Anzeige, Bussgeld, Verwarnung) führte. Für die Schweiz wurde diese Studie repliziert, mit vergleichbarem Ergebnis[9]Baier, Racial profiling: Befragte, die sich als phänotypisch different zu Schweizerinnen und Schweizern einstufen, berichten zu 11.6% vom Erleben einer Polizeikontrolle im öffentlichen Raum, Befragte ohne Differenzwahrnehmung hingegen nur zu 3.9%. Es ist also davon auszugehen, dass Ausländerinnen und Ausländer einerseits deshalb häufiger in der Kriminalstatistik als Beschuldigte ausgewiesen werden, weil sie häufiger angezeigt werden; andererseits ist davon auszugehen, dass dies der Fall ist, weil sie häufiger polizeilich kontrolliert werden.

Zudem ist bezüglich der Konstruktionsbedingungen der Kriminalstatistik ein Aspekt zu beachten, der bereits angesprochen wurde: die Bevölkerungszahlen. Von Bedeutung sind hier mindestens drei Aspekte, die sich zu Ungunsten der ausländischen Bevölkerung auswirken. Der erste Aspekt wurde schon ausgeführt: Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit, die sich in der Schweiz aufhalten, können zur Wohnbevölkerung zählen oder nicht. Wenn Personen beider Gruppen (nicht zur Wohnbevölkerung zählende Personen wie Touristen, illegale Anwesende usw. und zur Wohnbevölkerung zählende Personen) als Beschuldigte einer Straftat registriert werden, können sie nur zur Wohnbevölkerung ins Verhältnis gesetzt werden. Insofern werden in der Kriminalstatistik auch Ausländergruppen ausgewiesen, die in der Bevölkerungsstatistik nicht berücksichtigt werden. Ein zweiter Aspekt, der zu beachten ist, ist die sozio-demografische Struktur der ausländischen Bevölkerung. Ausländische Personen sind bspw. häufiger männlich und durchschnittlich etwas jünger; sie gehören häufiger unteren Einkommens- und Bildungsschichten an und leben vermehrt in (gross‑) städtischen Gebieten. Diese Merkmale stehen mit einem höheren Risiko des Begehens (und Registrierens) von Straftaten in Beziehung – auch bei der einheimischen Schweizer Bevölkerung. Merkmale wie das Geschlecht und das Alter werden in der Kriminalstatistik ausgewiesen, d.h. hier können Vergleiche zur Schweizer Bevölkerung entlang spezifischer Gruppen erfolgen; weitere Merkmale wie die Schichtzugehörigkeit werden aber nicht erfasst, weshalb keine passenden Vergleiche vorgenommen werden können, was letztlich wieder die Kriminalitätsbelastung der ausländischen Bevölkerung überschätzt. Schliesslich drittens ist gerade bei Vergleichen von Beschuldigtenzahlen über die Zeit hinweg die Bevölkerungsentwicklung zu berücksichtigen: In Jahren mit starken Zuwanderungsbewegungen, wie dies bspw. 2015/2016 durch Geflüchtete aus Syrien oder 2020 durch Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine der Fall war, sind ansteigende Zahlen ausländischer Beschuldigter erwartbar, einfach weil sich mehr ausländische Personen in der Schweiz aufhalten, und nicht, weil die ausländischen Personen krimineller geworden wären.

2. Verurteilungen

Vor dem Hintergrund dieser Konstruktionsbedingungen der Kriminalstatistik, die sich zuungunsten der ausländischen Bevölkerung auswirken, sollte mit den Zahlen der Statistik überlegt umgegangen werden. Sie weisen nicht Kriminalität und Straftäter insgesamt aus, sondern nur das selektive Hellfeld. Werden zudem die Ergebnisse aus Tabelle 2 betrachtet, erhält die Einschätzung, dass Kriminalstatistiken nur bedingt geeignet sind, Kriminalität und Kriminalitätsentwicklung valide darzustellen, weitere Argumente. Zwar können bei der Auswertung die genannten Verzerrungsfaktoren nicht behoben werden; es wird aber gezeigt, dass überhaupt nur für einen sehr kleinen Teil der Straftaten verlässliche Aussagen über Tatpersonen, die auch verurteilt wurden, vorliegen. Aus den drei in Tabelle 1 benannten Bereichen wurde jeweils eine Straftat ausgewählt. Ausgangspunkt sind dabei die registrierten Delikte des Jahres 2023. Auf Basis der von Markwalder et al. (2023) ermittelten Anzeigeraten lässt sich die Anzahl der Straftaten im Dunkelfeld bestimmen. Mit Blick auf den Diebstahl, bei dem von einer Anzeigerate von ca. 50% auszugehen ist, kann bspw. vermutet werden, dass im Jahr 2023 schweizweit 311’000 Delikte stattgefunden haben. Zu diesen wurden aufgrund der insgesamt niedrigen Aufklärungsrate nur 30’223 Beschuldigte polizeilich festgestellt, darunter 21’528 Beschuldigte ausländischer Herkunft. Verurteilt wegen eines Diebstahls wurden 6’184 Beschuldigte ausländischer Herkunft. Herangezogen werden können nur die Verurteiltenzahlen des Jahres 2022, weil die Verurteiltenstatistik später veröffentlicht wird als die Kriminalstatistik. Dabei stellt im Fall des Diebstahls die Anzahl an Verurteilten eine Überschätzung dar, weil in dieser Statistik Fahrzeugdiebstähle mitgezählt werden, in der Kriminalstatistik hingegen nicht. Bezogen auf alle Diebstahls-Delikte kann daher gesagt werden, dass mit Sicherheit ca. 2% der Tatpersonen eine ausländische Herkunft hatten; bei einfachen Körperverletzungen sind es 6%, bei sexuellen Nötigungen/Vergewaltigungen 1%.

Ein Problem der in Tabelle 2 dargestellten Statistiken ist, dass unterschiedliche Gruppen miteinander in Beziehung gesetzt werden; d.h. bspw., dass die aufgeführten Verurteilten nicht Teil der aufgeführten Beschuldigten sind und diese auch nicht unbedingt Teil der registrierten Straftaten sein müssen, insofern sich Beschuldigungen auf Delikte aus vorangegangenen Jahren beziehen können. Bislang existiert in der Schweiz keine sog. Verlaufsstatistik, die es erlauben würde, dieselben Personen über die verschiedenen Schritte der Strafverfolgung bis hin zu einer möglichen Verurteilung zu betrachten. Die Darstellung beruht daher auf Schätzungen, die illustrieren sollen, dass über den grössten Teil der Tatpersonen keine gesicherten Erkenntnisse vorliegen, und damit auch nicht, ob es sich um Personen mit Schweizer oder ausländischer Staatsangehörigkeit handelt.

Tabelle 2: Delikte, Beschuldigte und Verurteilte für verschiedene Straftaten (Polizeiliche Kriminalstatistik, Verurteiltenstatistik, eigene Berechnungen)

IV. Entwicklung ausländischer Beschuldigter in der Kriminalstatistik

Die bisherigen Ausführungen machen deutlich, dass die Polizeiliche Kriminalstatistik nur sehr bedingt geeignet ist, Aussagen derart zu begründen, dass eine Bevölkerungsgruppe, speziell die Gruppe der Ausländerinnen und Ausländer, verantwortlich für Kriminalitätsanstiege ist. Vor diesem Hintergrund könnte ganz auf weitere Auswertungen verzichtet werden. Es sollen im Folgenden dennoch verschiedene Zahlen präsentiert werden, auch wenn auf deren Begrenztheit hinzuweisen ist.

Wenn zu Straftaten Beschuldigte ermittelt werden, liegen Angaben zur Staatsangehörigkeit vor. In der Schweiz werden in der Polizeilichen Kriminalstatistik dann drei Gruppen ausländischer Beschuldigter unterschieden. In Tabelle 3 sind diese Gruppen und die Beschuldigtenzahlen zu den Straftaten insgesamt abgebildet. Von den 90’403 Beschuldigten des Jahres 2023 hatten demnach 50’327 und damit 55.7% eine ausländische Herkunft. Bei einem Ausländeranteil von 26% im selben Jahr, ist dieser Anteil überproportional gross. Allerdings waren 16’161 beschuldigte Personen, die nicht zur Wohnbevölkerung zählen, d.h. diese dürften beim Vergleich der Beschuldigten- und Wohnbevölkerungsanteile nicht mitberücksichtigt werden. Auch die Asylbevölkerung zählt nicht zur Wohnbevölkerung in der Bevölkerungsstatistik. Werden diese beiden Gruppen daher bei der Berechnung des Ausländeranteils ausgeschlossen, beträgt dieser nur noch 41.3%.

Wie Tabelle 3 weiterhin zeigt, sind für alle ausländischen Gruppen die höchsten Beschuldigtenzahlen im Jahr 2023 festzustellen. Allerdings wird dabei ausser Acht gelassen, dass sich die ausländische Bevölkerung seit 2013 zahlenmässig erhöht hat, zumindest bei den Gruppen, bei denen Bevölkerungsdaten vorliegen. Wird daher die Beschuldigtenzahl an der Bevölkerungszahl relativiert, zeigt sich, dass das Jahr 2023 gar kein Ausreisserjahr darstellt.[10]Bei der Gruppe der ausländischen Bevölkerung wurden die Zahlen der Bevölkerungsstatistik zur Berechnung der Belastungszahlen herangezogen (jeweils zum 31. Dezember des Vorjahrs); bei der … Continue reading So lag die Belastungszahl bei der ständigen ausländischen Bevölkerung im Jahr 2013 höher als im Jahr 2023; auch für die Asylbevölkerung ergibt sich in verschiedenen Jahren eine deutlich erhöhte Belastungszahl. Es lässt sich aber auch nicht ignorieren, dass bei der Asylbevölkerung die Belastungszahl innerhalb eines Jahres um 50% gestiegen ist, wobei die absolute Zahl (von 3’651 auf 5’945) weiterhin niedriger liegt als bei den anderen Gruppen. Zu den übrigen ausländischen Beschuldigten lässt sich keine Belastungszahl berechnen, weil keine Bevölkerungszahlen zu dieser Gruppe vorliegen. Aber auch hier ist kontinuierlich seit 2020 eine ansteigende absolute Anzahl festzustellen, was sicherlich auch mit der von Jahr zu Jahr zunehmenden Mobilität nach der Corona-Pandemie in Zusammenhang steht. Letztlich kann auf Basis der Auswertungen gefolgert werden: Die Zahl ausländischer Beschuldigter steigt, besonders bei der Asylbevölkerung. Diese ist aber weiterhin nur für einen kleinen Teil der aufgeklärten Kriminalität verantwortlich, wie es auch schon Jahre mit höherer Kriminalitätsbelastung der Asylbevölkerung gegeben hat.

Tabelle 3: Entwicklung Beschuldigte Straftaten insgesamt (Polizeiliche Kriminalstatistik, eigene Berechnungen; fett: höchster Wert)

Tabelle 4 präsentiert zusätzlich die Auswertung für verschiedene Delikte, wobei aus dem Bereich „Leib und Leben“ schwere und leichte Körperverletzungen, aus dem Bereich „Vermögen“ die häufigsten Diebstähle und aus dem Bereich „Sexuelle Integrität“ sexuelle Nötigungen und Vergewaltigungen ausgewählt wurden. Zusätzlich ist für die Wohnbevölkerung und die Asylbevölkerung die Veränderung der Bevölkerungszahl ausgewiesen, die im Vergleich 2022 und 2023 um 2.3% bzw. sogar um 8.3% steigt. Vor dem Hintergrund steigender Bevölkerungszahlen sind steigende Beschuldigtenzahlen erwartbar. Für die übrige ausländische Bevölkerung lässt sich wiederum keine Bevölkerungszahl berichten, insofern diese nicht vorliegt.

Zentrale Befunde der Auswertung sind folgende:

  1. Ansteigende Zahlen sind vor allem bei der Asylbevölkerung und der übrigen ausländischen Bevölkerung festzustellen, die bei der Asylbevölkerung, mit Ausnahme der sexuellen Nötigungen, über das Ausmass der Bevölkerungsentwicklung hinausreichen. Bei allen Delikten sind die Beschuldigtenzahlen des Jahres 2023 bei der übrigen ausländischen Bevölkerung höher als bei der Asylbevölkerung; absolut betrachtet ist die Asylbevölkerung, die stark im Fokus der Debatten steht, also nicht die Gruppe der Ausländer, auf die die meisten Straftaten zurückgehen; insbesondere bei Diebstahlsdelikten stellt die übrige ausländische Bevölkerung die Täterschaft aufgeklärter Straftaten, nicht die Asylbevölkerung.
  2. Bei der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung ergeben sich ansteigende Zahlen primär bei der schweren Körperverletzung und beim Taschendiebstahl.
  3. Werden beide Körperverletzungen sowie sexuelle Nötigungen und Vergewaltigungen betrachtet, ergeben sich die höchsten absoluten Zahlen bei der ständigen ausländischen Bevölkerung; die beiden Gruppen der Asylbevölkerung und der übrigen ausländischen Bevölkerung sind hier also von geringerer Bedeutung.
  4. Würden zudem noch die absoluten Zahlen zu Beschuldigten mit Schweizer Staatsangehörigkeit dargestellt, so würde sich für das Jahr 2023 zeigen, dass diese bei beiden Körperverletzungen, beim Ladendiebstahl, beim Fahrzeugdiebstahl, bei der sexuellen Belästigung und bei der Vergewaltigung die höchste Anzahl an Beschuldigten darstellen. Dies ist vor dem Hintergrund der Bevölkerungszahl nicht überraschend, sollte aber Erwähnung finden, insofern Straftaten eben nicht nur von ausländischen Personen begangen werden.
Tabelle 4: Entwicklung Beschuldigte verschiedener Straftaten (Polizeiliche Kriminalstatistik, eigene Berechnungen)

V. Kriminalität nach Herkunftsgruppen

In Tabelle 3 wurde von Belastungszahlen berichtet. Eine Belastungszahl von 614.7 der Schweizer Bevölkerung 2023 bedeutet dabei, dass 0.6% der Bevölkerung mit Schweizer Staatsangehörigkeit des Begehens einer Straftat beschuldigt wurde. Bei der ausländischen ständigen Wohnbevölkerung beträgt der Anteil 1.2% (Beschuldigtenzahl: 1’229.1). Hier könnte nun gesagt werden: Diese Gruppe ist doppelt so häufig kriminell wie die Schweizer Bevölkerung. Man kann aber auch sagen: 98.8% der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung ist nicht wegen des Begehens krimineller Taten beschuldigt worden. Bei der Asylbevölkerung beträgt die Rate 4.4% (Beschuldigtenzahl: 4’423.8). Auch hier: Die Rate ist höher als bei anderen Bevölkerungsgruppen; zugleich sind 95.6% nicht mit kriminellen Taten in Erscheinung getreten. Für die übrige ausländische Bevölkerung lässt sich keine Rate berechnen, weil keine Daten bzgl. der sich hier aufhaltenden Touristinnen und Touristen, illegal Anwesenden usw. gesamthaft vorliegen.

Freilich handelt es sich noch immer um eine recht grobe Unterscheidung. Wünschenswert wäre, derartige Belastungszahlen oder Kriminalitätsraten für einzelne Nationalitäten zu berechnen, um differenzierte Aussagen treffen zu können. Derartigen Auswertungen sind aber Grenzen gesetzt: Zwar ist auf Basis der Kriminalstatistik bekannt, dass im Jahr 2023 bspw. 3’990 Beschuldigte mit italienischer Staatsangehörigkeit registriert wurden (3’189 ständige Wohnbevölkerung, 801 übrige Ausländerinnen und Ausländer, 0 Asylbevölkerung); da aber nicht bekannt ist, wie viele Personen mit italienischer Staatsangehörigkeit sich 2023 in der Schweiz aufgehalten haben, ist die Berechnung einer Rate nicht möglich. Insofern ist verwunderlich, wenn in den Medien über enorm hohe Raten berichtet wird. Für den Kanton Zürich wurde bei der Vorstellung der Kriminalstatistik bspw. darauf verwiesen, dass eine Kriminalitätsrate von 91% bei algerischen Personen zu konstatieren sei.[11]Vgl. <https://www.blick.ch/schweiz/berner-polizeikommandant-ueber-deutliche-zunahme-der-diebstaehle-bei-maghrebinern-die-taeter-wissen-dass-sie-kaum-etwas-zu-befuerchten-haben-id19573528.html>. Allerdings ist die konkrete Berechnung dieser Rate unklar. Wenn sie auf alle Personen mit algerischer Staatsangehörigkeit im Kanton Zürich bezogen wird, scheint die Rate zu hoch. Wenn sie aber auf alle männlichen, jungen, algerischen Geflüchteten mit abgelehnten Asylbescheid usw. bezogen wird, d.h. auf eine sehr spezifische (und sehr kleine) Gruppe, wäre eine so hohe Rate denkbar, wenngleich hier wichtig zu wissen wäre, wie gross die Grundgesamtheit tatsächlich ist; bei einer kleinen Grundgesamtheit kann es eher einmal hohe Raten geben. Dennoch kann vermutet werden, dass es auf allgemeinerer Ebene keine nationale Gruppe gibt, bei welcher die Mehrheit der dazugehörigen Personen mit Kriminalität in Erscheinung tritt.

Zugleich erlaubt die Kriminalstatistik zwei nach einzelnen Nationalitäten differenzierende Auswertungen. In Abbildung 1 sind zunächst für die drei Gruppen ausländischer Beschuldigter die sechs häufigsten Nationalitäten der Jahre 2022 und 2023 aufgeführt (Straftaten insgesamt). Die sechs Nationalitäten bilden dabei ca. die Hälfte aller Beschuldigten ab. Bei der ständigen Wohnbevölkerung ergeben sich nur leichte Veränderungen der Zahlen. Bei den anderen beiden Gruppen ergeben sich hingegen teilweise stärkere Veränderungen der Beschuldigtenzahlen. So haben bei der Asylbevölkerung vor allem bei marokkanischen und bei ukrainischen Beschuldigten die Zahlen stark zugenommen – die ukrainischen Beschuldigten standen dabei in der öffentlichen Diskussion bislang nicht im Mittelpunkt. In dieser wurden vielmehr die algerischen Beschuldigten in den Blick genommen, für die sich geringere Anstiege insbesondere bei der übrigen ausländischen Bevölkerung zeigen. Bei dieser Gruppe ergeben sich zudem wiederum für marokkanische Beschuldigte stärker ansteigende Zahlen. Zugleich sind es aber auch rumänische und französische Beschuldigte, bei denen die Zahlen sichtbar steigen. Letztlich gibt es laut Kriminalstatistik in beiden Jahren deutlich mehr italienische, französische, portugiesische oder deutsche Beschuldigte als algerische oder marokkanische Beschuldigte.

Abbildung 1: Entwicklung der Anzahl ausländischer Beschuldigter (Polizeiliche Kriminalstatistik, eigene Berechnungen)

Natürlich wäre auch hier wieder der Vergleich mit der Bevölkerungszahl wichtig, da zu vermuten ist, dass sich mehr Menschen mit italienischer, französischer usw. Staatsangehörigkeit in der Schweiz aufhalten. Aus den genannten Gründen ist eine solche Relativierung aber nicht möglich. Nur für die ständige Wohnbevölkerung können entsprechende Auswertungen vorgenommen werden. In Abbildung 2 ist dies für 41 Nationalitäten, für die in den Jahren 2022 und 2023 im Durchschnitt mindestens 100 Beschuldigte irgendeiner Straftat registriert wurden, geschehen.[12]Es wurde der Durchschnitt der Beschuldigten wie der Bevölkerungszahl aus zwei Jahren gebildet, um eine stabilere Schätzung der Kriminalitätsbelastung zu ermöglichen. Die unterschiedlichen Belastungsraten sollen an dieser Stelle nicht weiter gedeutet werden. Von Bedeutung sind zwei Befunde: Erstens ist für die Schweizer Bevölkerung nicht die geringste Kriminalitätsbelastung festzustellen, sondern für Personen mit den Staatsangehörigkeiten Vereinigtes Königreich und China. Zweitens beträgt die grösste beobachtbare Belastungszahl 3’870 bei der Bevölkerung mit Staatsangehörigkeit Kamerun. Diese liegt zwar sechsmal höher als die Belastungszahl der Schweizer Bevölkerung; sie bedeutet aber zugleich, dass in dieser Bevölkerungsgruppe auch nur 3.9% polizeilich des Begehens einer Straftat beschuldigt (und wiederum: nicht verurteilt) wurden; 96.1% und damit die grosse Mehrheit dieser Nationalitätengruppe ist also nicht polizeilich in Erscheinung getreten. Es gibt damit nachweislich in der ständigen Wohnbevölkerung keine Nationalität, bei der eine Mehrheit Straftaten ausführt, was ein Argument gegen die Annahme darstellt, dass die Staatsangehörigkeit irgendeinen Stellenwert als Ursache kriminellen Verhaltens hätte.

Abbildung 2: Beschuldigtenbelastungszahl für Straftaten insgesamt nach Nationalität (ständige Wohnbevölkerung; Durchschnitt 2022/2023; Polizeiliche Kriminalstatistik, eigene Berechnungen)

VI. Diskussion

Der vorliegende Beitrag stützte sich weitestgehend auf die Kriminalstatistiken. Diese weisen Konstruktionsbedingungen auf, die zur Folge haben, dass Aussagen zu Ausmass und Entwicklung kriminellen Verhaltens limitiert sind. Noch wichtiger ist, dass mit ihnen die Kriminalität ausländischer Personen überschätzt wird, d.h. Folgerungen bzgl. der Verantwortlichkeit dieser Gruppe für Veränderungen nur mit grosser Vorsicht gezogen werden sollten.

Die Auswertungen haben zunächst sichtbar gemacht, dass im Vergleich der Jahre 2022 und 2023 zwar ein Anstieg der Kriminalität zu beobachten ist; dieser ist aber in verschiedener Hinsicht zu relativieren: So fällt dieser bereits etwas geringer aus, wenn der Bevölkerungsanstieg berücksichtigt wird. Es gibt zudem nicht wenig Delikte, die im Vergleich beider Jahre gesunken sind; und der Anstieg betrifft die Straftaten aus dem Diebstahls- und Cybercrime-Bereich und damit im Durchschnitt weniger folgenreiche Straftaten im Sinne der längerfristigen Schädigung der Betroffenen.

Die Ausgangsfrage des Beitrags, ob für diesen Anstieg spezifischer Straftaten die Ausländerinnen und Ausländer verantwortlich sind, kann dabei nur begrenzt beantwortet werden. Zwar ist es richtig, dass bei den aufgeklärten Diebstahlsdelikten feststellbar ist, dass die Beschuldigten im Vergleich zum Vorjahr häufiger aus der Asylbevölkerung und der nicht-ständigen, ausländischen Wohnbevölkerung kommen. Bei verschiedenen Diebstahlsdelikten stellen diese beiden Gruppen die Mehrheit der Beschuldigten dar. Allerdings muss auch konstatiert werden, dass wir über die Personengruppen, die verantwortlich für die Anstiege im Diebstahlsbereich sind, zum Grossteil nichts wissen. Nur etwa jeder zweite Diebstahl wird angezeigt, nur jede fünfte Tat wird überhaupt aufgeklärt. Nur bei etwa 2% der Tatpersonen des Diebstahls wissen wir aufgrund einer Verurteilung, dass sie nachweislich einen Diebstahl begangen hat und ausländischer Staatsangehörigkeit ist.

Generell ist an dieser Stelle darauf zu verweisen, dass die Fokussierung auf das Thema Staatsangehörigkeit kriminologisch weitestgehend uninteressant ist. Die Staatsangehörigkeit ist nie eine Ursache für kriminelles Verhalten. Sie kann mit Merkmalen assoziiert sein, die kriminologisch relevant sind und die mit Kriminalität in Verbindung stehen. So kann die Höherbelastung vieler Nationalitäten der ständigen Wohnbevölkerung, die in den Auswertungen einmal mehr konstatiert werden konnte, auf Merkmale wie den sozialen Status, auf die Bildungsintegration, auf Muster der familiären Erziehung und auf normative Orientierungen zurückgeführt werden, die einerseits mit delinquentem Verhalten in Beziehung stehen und die andererseits in bestimmten Gruppen der ausländischen Bevölkerung verbreiteter sind.[13]vgl. z.B. Baier, Migration. Zugleich treffen diese Merkmale aber auch auf (weniger) Schweizerinnen und Schweizer zu und stehen hier ebenso in Beziehung mit Kriminalität. Bei der Gruppe der Asylbewerbenden sind noch eine Reihe weiterer Faktoren zu benennen, die ihre noch einmal über der Kriminalitätsbelastung der ausländischen Wohnbevölkerung liegende Involviertheit in kriminelles Verhalten erklären können. Zu nennen sind hier u.a. fehlende Bleibeperspektiven, Männlichkeitsnormen, Unterbringungsbedingungen, fehlende Tagesstrukturen, psychische Traumata u.a.m.[14]Pfeiffer et al., 80ff. Diese Faktoren sind daher zu adressieren, wenn dem kriminellen Verhalten dieser Personen präventiv begegnet werden soll.

Auf einen letzten, bislang nicht beachteten Aspekt soll an dieser Stelle noch eingegangen werden. Ausländerinnen und Ausländer sind nicht nur Täterinnen und Täter, sondern ebenso Opfer von Kriminalität und Gewalt, und dies z.T. auch in überproportionaler Weise. Diese Perspektive geht in der öffentlichen Diskussion, die sich stark auf die Täterperspektive fokussiert, bisweilen verloren. Tabelle 5 kann dies illustrieren: Bezogen auf alle Straftaten ergibt sich für die Asylbevölkerung eine unterdurchschnittliche Geschädigtenzahl (2’354.4); dies ist aber damit zu erklären, dass sie weniger Opfer von Diebstahlsdelikten werden, weil sich Diebstähle bei dieser Gruppe weniger lohnen bzw. weil sie wegen einer Opferwerdung im Bereich Diebstahls aufgrund des durchschnittlich niedrigeren Schadens noch seltener Anzeige erstatten. Werden hingegen die Geschädigtenzahlen im Bereich Leib und Leben betrachtet, ergeben sich sowohl für die ausländische Wohnbevölkerung als auch die Asylbevölkerung deutlich erhöhte Geschädigtenzahlen im Vergleich zur Schweizer Bevölkerung; auch im Bereich der Delikte gegen die sexuelle Integrität gilt dies zumindest für die Asylbevölkerung. Ein umfassender Blick auf das Kriminalitätsgeschehen sollte dies mitberücksichtigen. Eine mögliche Forschungsperspektive könnte diesbezüglich dann sein, zu untersuchen, ob ausländische Opfer besondere Nachsorgeangebote benötigen bzw. inwieweit sie überhaupt Zugang zu den verschiedenen Opferhilfeangeboten in der Schweiz erhalten.

Tabelle 5: Geschädigte verschiedener Straftaten im Jahr 2023 (Polizeiliche Kriminalstatistik, eigene Berechnungen)

Literaturverezeichnis

Baier Dirk, Kriminalitätsopfererfahrungen und Kriminalitätswahrnehmungen in der Schweiz. Ergebnisse einer Befragung, ZHAW, Zürich 2019.

Baier Dirk, Migration und Kriminalität in der Schweiz: Befunde aus Hell- und Dunkelfeld, ZHAW, Zürich 2020.

Baier Dirk, Racial profiling bei Polizeikontrollen – auch in der Schweiz? Kriminalistik 2024.

Baier Dirk et al., Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt, Forschungsbericht Nr. 107, KFN, Hannover 2009.

Bauhofer Stefan/Queloz Nicolas (Hrsg.), Ausländer, Kriminalität und Strafrechtspflege, Chur, Zürich 1993.

Eisner Manuel et al., Asylmissbrauch durch Kriminelle oder kriminelle Asylsuchende. Zahlen, Fakten und Erklärungsansätze zur Kriminalität unter Asylsuchenden in der Schweiz, Bern 1999.

Jann Ben, Herkunft und Kriminalität – Ergebnisse der polizeilichen Kriminalstatistik, in: Fink Daniel et al. (Hrsg.), Migration, Kriminalität und Strafrecht – Fakten und Fiktion, Bern 2013, 101 ff.

Killias Martin, Immigrants, crime, and criminal justice in Switzerland, Crime and Justice 1997, 375 ff.

Kunz Karl-Ludwig, Ausländerkriminalität in der Schweiz – Umfang, Struktur und Erklärungsversuch, Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht 1989, 75 ff.

Markwalder Nora et al., Hate-Crime-Opfererfahrungen in der Schweiz: Ergebnisse des Crime Survey 2022, ZHAW, Zürich 2023.

Markwalder Nora et al., Opfererfahrungen und sicherheitsbezogene Einschätzungen der Schweizer Bevölkerung: Ergebnisse des Crime Survey 2022, ZHAW, Zürich 2023.

Müller Maximilian/Wittlif Alex, Racial Profiling bei Polizeikontrollen. Indizien aus dem SVR-Integrationsbarometer, SVR-Policy Brief 2023-3, Berlin 2023

Neubacher, Frank, Kriminologie, 4. A, Baden-Baden 2020.

Pfeiffer Christian et al., Zur Entwicklung der Gewalt in Deutschland: Schwerpunkte: Jugendliche und Flüchtlinge als Täter und Opfer, ZHAW, Zürich 2018.

Schwarzenegger Christian/Studer David, Kriminalität nach Nationalität und Aufenthaltsstatus. Eine Analyse der Strafurteilsstatistik 1984–2011, in: Fink Daniel et al. (Hrsg.), Migration, Kriminalität und Strafrecht – Fakten und Fiktion, Bern 2013, 117 ff.

Simmler Monika/Schär Noëmie, Chancen und Risiken der aktuellen Flüchtlingsbewegung für die Schweizer Kriminalitätsentwicklung – Ergebnisse einer Befragung von Asylsuchenden in der Ostschweiz, Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 2017, 45 ff.

Fussnoten

Fussnoten
1 Z.B. <https://www.20min.ch/story/loesungen-gesucht-maghreb-kriminelle-treiben-politik-um-sp-frau-fuer-ausschaffung-103071407>.
2 Vgl. U.a. u.a. Kunz, Bauhofer/Queloz, Killias, Eisner et al., Jann, Schwarzenegger/Studer, Simmler/Schär, Baier Migration.
3 Vgl. <https://www.bfs.admin.ch/asset/de/30566151>.
4 Neubacher, 37.
5 Markwalder et al., Hate-Crime-Opfererfahrungen, Markwalder et al., Opfererfahrungen.
6 Baier et al., Jugendliche, 46.
7 Baier, Kriminalitätsopfererfahrungen, 33.
8 Müller/Wittlif.
9 Baier, Racial profiling
10 Bei der Gruppe der ausländischen Bevölkerung wurden die Zahlen der Bevölkerungsstatistik zur Berechnung der Belastungszahlen herangezogen (jeweils zum 31. Dezember des Vorjahrs); bei der Asylbevölkerung wurden die Zahlen der Asylstatistik des jeweiligen Jahres herangezogen (Personen im Asylprozess in der Schweiz; die Zahlen zu Personen mit Rückkehrunterstützung und zu anerkannten Flüchtlingen wurden nicht berücksichtigt).
11 Vgl. <https://www.blick.ch/schweiz/berner-polizeikommandant-ueber-deutliche-zunahme-der-diebstaehle-bei-maghrebinern-die-taeter-wissen-dass-sie-kaum-etwas-zu-befuerchten-haben-id19573528.html>.
12 Es wurde der Durchschnitt der Beschuldigten wie der Bevölkerungszahl aus zwei Jahren gebildet, um eine stabilere Schätzung der Kriminalitätsbelastung zu ermöglichen.
13 vgl. z.B. Baier, Migration.
14 Pfeiffer et al., 80ff.