Risiko & Recht

Ausgabe 01 / 2023

Radikalisierung im Bereich des islamistischen Extremismus: Allgemeine Beobachtungen und ausgewählte Modelle

Thomas Noll / David Hans / Michael Weber*

Islamistische Attentate sind seltene, aber für Betroffene und Gesellschaft sehr einschneidende Ereignisse. Im Interesse von Forschung und Praxis steht insbesondere die „radikalisierte“ Täterschaft. Im vorliegenden Beitrag werden einige der wichtigsten Radikalisierungsmodelle vorgestellt. Begriffe wie Radikalisierung, Extremismus und Jihadismus werden erläutert und verschiedene Annahmen wie diejenige, dass bei islamistischen Anschlägen religiöse Ideologien handlungsleitend seien, kritisch diskutiert.

* PD Dr. iur. Dr. med. Thomas Noll; ist Arzt und Strafrechtler. Er hat als Allgemein- und Gefängnispsychiater gearbeitet, war Chef Vollzug der JVA Pöschwies und Direktor des Schweizerischen Ausbildungszentrums für das Strafvollzugspersonal. Heute ist er Forscher im JuWe (Justizvollzug und Wiedereingliederung des Kantons Zürich). BSc David Hans ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Forschung und Entwicklung (F&E) im JuWe, wo er zu Themen wie Extremismus und Sicherheit forscht. Vor seiner Tätigkeit bei F&E arbeitete er rund 10 Jahre als Fachberufsoffizier im Kommando Spezialkräfte der Schweizer Armee. MSc Michael Weber ist Psychologe mit Vertiefungen im Bereich Klinische Psychologie und Neurowissenschaften sowie Forensische Psychologie. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung F&E im JuWe und an der Klinik für Forensik der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel.

Inhalt

  1. Einleitung
  2. Allgemeine Beobachtungen
    1. Inzidenz islamistischer Anschläge
    2. Terminologie
    3. Radikalisierung als Zusammenspiel von Individuum, Ideologie
      und Umwelt
  3. Spezifische Radikalisierungsmodelle
    1. Social Identity Perspective
    2. Attitudes-Behavioral Corrective Model
    3. Two Pyramids Model
    4. Four Stage Model
    5. Staircase Model
    6. Significance Quest Model
  4. Präzisierungen
    1. Radikalisierungsmodelle und Rational Choice Theory:
      Ein Widerspruch?
    2. Einordnung bestehender Radikalisierungsmodelle
  5. Zusammenfassung
  6. Literatur

I. Einleitung

In seinem jüngsten Lagebericht beurteilt der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) die Terrorbedrohung für die Schweiz als erhöht. Die Bedrohung wird primär vom islamistischen Extremismus geprägt, insbesondere durch Personen, die von jihadistischer Propaganda inspiriert werden.[1]NDB, Sicherheit Schweiz 2022, Lagebericht des Nachrichtendienstes des Bundes, 39, abrufbar unter: … Continue reading Das Problem der Radikalisierung ist also real. Es darf andererseits aber auch nicht überschätzt werden, da eine solche Haltung rasch zu überschiessenden Reaktionen seitens des Staats und zu unverhältnismässigen Freiheitsbeschränkungen für bestimmte Teile der Bevölkerung führen kann.[2]Silber/Bhatt, 1 ff. Wichtig für die staatlichen Stellen, die sich mit jihadistischer Radikalisierung beschäftigen, ist eine umfassende Kenntnis des aktuellen Forschungsstandes. Terminologische Präzision bei den Begriffen Radikalisierung, Extremismus und Terrorismus ist von zentraler Bedeutung. Gewissen Experten zufolge ist Radikalisierung „what goes on before the bomb goes off“.[3]Neumann, 4. Dass dies zu kurz greift, wird im folgenden Text dargelegt. Es werden zunächst zentrale Erkenntnisse zu jihadistischen Anschlägen in Europa und zur Radikalisierung im Allgemeinen präsentiert. Dabei wird auf typischerweise benutzte Begrifflichkeiten wie Terrorismus, gewalttätigen Extremismus oder politisch motivierte Gewalt eingegangen. Es werden einige der verbreitetsten theoretischen Modelle zur Radikalisierung im Kontext des islamistischen Extremismus vorgestellt und kritisch diskutiert. In einer allgemeinen Kritik an bestehenden Radikalisierungsmodellen wird erläutert, dass die Modelle prototypische Entwicklungen zu erklären vermögen, sich aber aufgrund der geringen Spezifität ihrer Merkmale wenig für Risikoeinschätzung bzgl. gewalttätigem Extremismus eignen.

II. Allgemeine Beobachtungen

1. Inzidenz islamistischer Anschläge

In Europa haben im vergangenen Jahrzehnt bereits in verschiedenen Grossstädten – Madrid, London, Berlin, Brüssel, Paris, Nizza, Wien – islamistisch motivierte Anschläge mit zahlreichen Todesopfern stattgefunden. Während z.B. die Bombenanschläge auf Madrider Vorort-Züge am 11. März 2004 das Ergebnis einer konzertierten Aktion der Terrororganisation al Qaida waren, ist die überwiegende Mehrheit der aktuelleren Gewaltdelikte im öffentlichen Raum, die in Europa durch Personen mit islamistischem Hintergrund begangenen worden sind, mit einfachsten Mitteln wie z.B. dem Einsatz von Messern erfolgt. Derartige Attacken werden als „jihadistisch inspiriert“ bezeichnet, da häufig keine formale Anbindung der Täter an eine extremistische Organisation bestand[4]NDB, 2022, 39 f. und zugleich das eigentliche Ziel des gewalttätigen Jihadismus (dem sog. „kleinen“ Jihad), das islamische Herrschaftsgebiet mit Gewalt auszudehnen und zu verteidigen, nicht immer im Fokus der handelnden Personen gestanden hat.[5]NDB, 2022, 43. Nach der Definition von Europol sind aber auch derartige Delikte, darunter ein tödlicher Messerangriff auf eine Verwaltungsbeamtin in einer französischen Polizeistation am 23. April 2021 oder eine Messerattacke auf Reisende in einem deutschen Fernverkehrszug am 6. November 2021 mit fünf Verletzten, als jihadistische Terroranschläge zu werten.[6]Europol, European Union Terrorism Situation and Trend Report 2022, 21 ff., abrufbar unter: … Continue reading

Unabhängig von der dahinterliegenden Ideologie ist in Europa die Wahrscheinlichkeit für eine Einzelperson, einem terroristischen Attentat zum Opfer zu fallen, sehr gering. So hat etwa in England im vergangenen Jahrzehnt das Risiko, bei einem terroristischen Anschlag getötet zu werden, 1:11,4 Millionen pro Jahr betragen.[7]Nowrasteh. Zum Vergleich: Die jährliche Wahrscheinlichkeit, bei einem Strassenunfall zu sterben, hat in England in der Periode 2020-2021 1:48’000 betragen,[8]Gov.Uk, National statistics. Reported road casualties in Great Britain, provisional estimates: year ending June 2021, abrufbar unter: … Continue reading war also ca. 240-mal höher. Das Risiko, in Europa einem islamistischen Anschlag zum Opfer zu fallen, ist nochmals deutlich reduziert: Lediglich 15% der zwischen 2015 und 2021 in der Europäischen Union begangenen terroristischen Anschläge hatten einen islamistischen Hintergrund – durchschnittlich 19 Attentate pro Jahr in diesem Zeitraum.[9]Europol, European Union Terrorism Situation and Trend Report 2019, 13; abrufbar unter: … Continue reading Im jüngsten Berichtszeitraum 2021 sind dadurch zwei Personen ums Leben gekommen (2020: 12 Todesopfer).[10]Europol, 2022, 22. In der Schweiz hat es in der jüngeren Vergangenheit genau ein islamistisch motiviertes Gewaltdelikt gegeben, infolgedessen ein Todesopfer zu beklagen war, nämlich am 12. September 2020 in Morges.[11]NDB, Sicherheit Schweiz 2020, Lagebericht des Nachrichtendienstes des Bundes, 38 <https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-80848.html> (zit. NDB, 2020); … Continue reading Insofern ist die Wahrscheinlichkeit, in der Schweiz einem islamistischen Terroranschlag zum Opfer zu fallen, sehr gering.

Dass die Gefahr terroristischer Handlungen, und hierbei insbesondere die Furcht vor islamistischem Terrorismus, in der Wahrnehmung der Bevölkerung dennoch so präsent ist,[12]In einer Umfrage des PEW Research Center aus dem Jahr 2017 bezeichneten 62% der Personen aus einer Stichprobe aus 38 Ländern den Islamischen Staat (IS) als die grösste aktuelle Gefahr. Dass in … Continue reading hat unter anderem mit der sog. Verfügbarkeitsheuristik zu tun. Dabei handelt es sich um die Tendenz von Menschen, bei Entscheidungen Informationen zu verwenden, die schnell und einfach verfügbar sind.[13]Die Verfügbarkeitsheuristik ist eine kognitive Verzerrung, bei der man eine Entscheidung auf der Grundlage eines Beispiels, einer Information oder einer kürzlich gemachten Erfahrung trifft, die … Continue reading In der Presse ist das Thema Terrorismus unverhältnismässig häufig repräsentiert, da die Medien um aufmerksamkeitsstarke Schlagzeilen konkurrieren.[14]Ein weiterer Grund für die prominente Darstellung des Themas in der Presse besteht in der Vermischung unterschiedlicher Phänomene: Personen, die terroristische Organisationen ideologisch … Continue reading In der Folge erscheint das Risiko, Opfer eines terroristischen Anschlags zu werden, unverhältnismässig hoch. Das Thema gewinnt an politischer Bedeutung, weil es in aller Munde ist. Die Reaktion des politischen Systems richtet sich nach der Intensität der öffentlichen Stimmung. Zusammengenommen können diese Tendenzen in der Bevölkerung eine irrationale Sensibilität auslösen, die bis hin zu Forderungen nach Abschaffung oder Einschränkungen von bestimmten Grundrechten verdächtiger Bevölkerungsgruppen führen kann. Die Verfügbarkeitsheuristik hat damit die Prioritäten neu gesetzt.[15]Kahneman, 142. In der heutigen Welt sind Terroristen „die bedeutendsten Praktiker in der Kunst der Verfügbarkeitsheuristik“.[16]Kahneman, 144; Marc Sageman hat festgehalten: „Engagierte Journalisten haben sich bei mir darüber beschwert, dass ihre Berichte (von der Redaktion) so bearbeitet wurden, dass sie ein negatives … Continue reading

Diese Überlegungen ändern aber wohlverstanden nichts daran, dass terroristische Anschläge vorkommen, immenses Leid verursachen und bestmöglich verhindert werden müssen.

2. Terminologie

Als Konsequenz diverser Anschlagsgeschehen sind Schlagwörter wie Radikalisierung, Extremismus und Terrorismus zu prägenden Begriffen des medialen, politischen und gesellschaftlichen Diskurses geworden. Eine allgemeingültige oder uneingeschränkt akzeptierte Definition dieser Begriffe existiert jedoch nicht.[17]Weber/Rossegger/Endrass, 833; Bötticher, 73; Schmid, 158.

Als kleinster gemeinsamer Nenner der zahlreichen verschiedenen Definitionen[18]Für eine Liste verschiedener Definitionen: s. Borum, I, 12 f. kann Radikalisierung als ein Prozess definiert werden, bei dem sich jemand zunehmend zu einer revolutionären, militanten oder extremistischen Person wandelt.[19]McGilloway/Ghosh/Bhui, 39. Meist ist eine bestimmte Ideologie in der Definition enthalten. Radikalisierung im Kontext des Islamismus wäre demnach die Hinwendung zu (möglicherweise gewalttätigem) Extremismus in (zumindest vordergründiger) Verbindung mit einer islamistischen bzw. jihadistischen Interpretation des Islam.[20]Demichelis/Mezzetti, 266. Jihadismus kann hierbei als Unter-Variante von islamistischem Extremismus verstanden werden, deren primäres Ziel in der kriegerischen/ gewaltsamen Ausweitung und Verteidigung des islamischen Herrschaftsgebiets besteht (der sog. „kleine“ Jihad, in Abgrenzung zum sog. „grossen“ Jihad, welcher das übergeordnete geistig-religiöse Bemühen der Gläubigen mit dem Ziel eines gottgefälligen, moralisch einwandfreien Lebens meint).[21]Pfahl-Traughber, 68. In der jüngeren Vergangenheit wird Jihadismus oft in Verbindung gebracht mit Jihad-Reisenden in syrische oder irakische Krisengebiete, die sich dort dem bewaffneten Kampf gegen die örtlichen Regierungen anschliessen. Die Rolle derartiger auch geopolitisch geprägter Bestrebungen ist häufig jedoch unklar bei den oben genannten niederschwellig durchgeführten Attentaten durch Einzeltäter, die sich in der Regel durch eine komplexe Motivlage auszeichnen.[22]NDB, 2022, 43.

Das Ergebnis des Radikalisierungsprozesses besteht somit zunächst in einer mehr oder weniger feststehenden extremistischen Überzeugung. Diese ist normativ definiert als Abweichung von einer innerhalb einer bestimmten Zeit und innerhalb einer bestimmten Population als „normal“ geltenden Geisteshaltung; im Fall des Islamismus umfasst eine solche abweichende Haltung z.B. das Höhersetzen religiöser über staatliche Gesetze, die Ablehnung „westlicher“ Werte wie Liberalismus, das Etablieren von Feindbildern wie Feministinnen und Feministen, Juden und Jüdinnen, Christinnen und Christen und rivalisierende islamische Glaubensrichtungen sowie die Ablehnung der universellen Menschenrechte. Je nach Definition beinhaltet eine extremistische Überzeugung auch das Befürworten von Gewaltanwendung oder das willentliche Ausleben normabweichenden Verhaltens.[23]Khalil/Horgan/Zeuthen, ABC, 1 ff.; Crettiez/Duclos, 52 f.

Von Terrorismus hingegen wird nach gängiger wissenschaftlicher Definition erst dann gesprochen, wenn im Rahmen einer fest strukturierten und arbeitsteilig organisierten Struktur Gewaltdelikte im öffentlichen Raum durchgeführt werden, die einen Botschaftscharakter haben und in der Regel stellvertretend gegen Zivilpersonen gerichtet sind, um auf diese Weise Verunsicherung und Panik in der Bevölkerung auszulösen.[24]Schmid, 158 f. Dass diese enge Definition nicht auf sämtliche als islamistische Terroranschläge bezeichneten Angriffe der jüngsten Zeit zutrifft, dürfte bereits beim Lesen des vorigen Abschnitts aufgefallen sein.

Mangels klarer Definitionen erscheint es umso wichtiger, möglichst exakt zu beschreiben, mit welchen Prozessen und mit welchen Personen man sich befasst. So führt nicht zuletzt das Vermischen von Personen, die die Handlungen einer extremistischen Organisation gutheissen, mit Personen, die im Ausland kämpfen wollen, aber niemals eine terroristische Operation im Inland durchführen würden (Ausreisende in Kriegs- und Krisengebieten) sowie mit den wenigen Personen, die tatsächlich Gewalt anwenden, zu vollkommen anderen Zahlen bezüglich dieser unterschiedlichen Gruppen an „radikalisierten“ bzw. „extremistischen“ Personen.[25]Giustozzi, 33 ff.; Merari et al., 89; Sageman, Political Violence, 21; In einer Umfrage in 35 mehrheitlich islamischen Ländern mit 50’000 befragten Moslems, die statistisch repräsentativ … Continue reading

Um das Risiko einer Fehldeutung von gewalttätigem Verhalten als zwangsläufiges Ergebnis von radikaler, Gewalt rechtfertigender Ideologie zu verringern, wird statt von „Radikalisierung“ zum Teil auch von der „Hinwendung zu politischer Gewalt“ gesprochen.[26]Crettiez/Duclos, 1 ff. Die Hinwendung zu politischer Gewalt ist das, was man gemeinhin unter dem Begriff „Terrorist werden“ versteht,[27]Sageman, Political Violence, 9 f. und demnach die Bereitschaft umfasst, ideologisch motivierte Gewalt auszuüben. Gleichwohl berührt eine solche Auffassung zeitgeschichtlich geprägte Interpretationen dessen, was gerechtfertigte und nicht gerechtfertigte politische Gewalt darstellt.[28]Das aus den 1970er Jahren stammende und dem US-amerikanischen Terrorismusforscher Brian Jenkins zugeschriebene Bonmot „Der Terrorist des einen ist der Freiheitskämpfer des anderen“ … Continue reading

Im vorliegenden Phänomenbereich z.B. wird in der Öffentlichkeit streng islamisches Gedankengut (z.B. Salafismus) oft automatisch mit gewalttätigem islamistischem Handeln (Jihadismus) gleichgesetzt.[29]Amghar, 95 ff. Aus einer forensischen, präventiven Sichtweise ist genau diese Unterscheidung zentral: Ein Hauptziel des Handelns von Sicherheitsbehörden besteht letztlich im Verhindern von Gewalt, sodass Risikomerkmalen ein besonderes Gewicht zukommt, die unmittelbar der Einschätzung der Wahrscheinlichkeit des Überschreitens der Handlungsschwelle dienen. Für den vorliegenden Text wird für die spezifische Art der Gewalt (Zieldelikt) der Begriff des gewalttätigen Extremismus (sofern ideologie-übergreifend) bzw. des gewalttätigen Islamismus (spezifisch für das Thema der vorliegenden Arbeit) verwendet. Auch in der englischsprachigen Fachliteratur ist der Begriff des „violent extremism“ gebräuchlich und wird zum Teil synonym zu den Begriffen „Terrorismus“ oder „politisch motivierte Gewalt“ verwendet. Entsprechend ist im Verständnis des vorliegenden Texts die Ausübung von Gewalt vor dem Hintergrund einer islamistischen Ideologie der seltene, aber mögliche Endpunkt einer Radikalisierung, den zu erreichen es zu verhindern gilt.

Bevor spezifische Radikalisierungsmodelle vorgestellt und deren Inhalte eingeordnet werden, soll an dieser Stelle eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff der „Radikalisierung“ als solcher erfolgen. Dieser kann eine Art Indoktrination, Manipulation und Gehirnwäsche durch Dritte insinuieren. Eine solche kommt in der Realität allerdings nur höchst selten vor.[30]Dass ein Effekt durch Hirnwäsche intuitiv rasch einleuchtet, hängt möglicherweise mit ihrer übermässigen Repräsentation in Büchern und Filmen zusammen: Siehe beispielsweise den … Continue reading Insbesondere im Radikalisierungsmodell der Social Identity Perspective (SIP, siehe unten  III.1.) wird betont: „There is no brainwashing or mysterious process of radicalization. These group members just carry out their social identity, like soldiers carrying out violence because that is who they are and what they do, and not because of their need for approval, fear of sanction, or group pressure to conform“.[31]Sageman, Political Violence, 22. Eine eigentliche Rekrutierung islamistischer Terroristen mit gezielter Sensibilisierung und Indoktrination komme in Wirklichkeit nicht vor. Tatsächlich ist die Vorstellung realitätsfremd, dass Personen durch Gehirnwäsche dazu gebracht würden, sich in extremistischen Kleingruppen mit definierten „Infrastrukturen“ zu organisieren.[32]Atran, Enemy, 50. Dass es sich bei extremistischen Gewalttätern gar um reduziert urteilsfähige oder sogar willenslose Tatinstrumente handelt, wird in der Literatur dezidiert abgelehnt.[33]Introvigne, 1 ff.; Nuraniyah, 890; Bloom, 1 ff.; Gambetta, 1 ff.; Hafez, 1 ff.; Merari, 1 ff.; Pape, 1 ff.; Pedahzur, 1 ff.

3. Radikalisierung als Zusammenspiel von Individuum, Ideologie und Umwelt

Der folgende Abschnitt soll einen kursorischen Überblick liefern, welche Eigenschaften und Entwicklungsprozesse bei Personen berichtet werden, die in Europa ein islamistisch motiviertes Gewaltdelikt begangen haben. Wie im vorhergehenden Abschnitt im Hinblick auf die öffentliche Darstellung beschrieben, besteht auch in der Fachliteratur zu Merkmalen von Gewalttätern mit einer bestimmten Ideologie eine Herausforderung darin, dass häufig Gewalttäter mit unterschiedlichen extremistischen Ideologien[34]Z.B. Thijssen et al., Background Characteristics. oder gewalttätige und nicht gewalttätige Personen mit islamistischer Einstellung gemeinsam betrachtet werden.[35]Doering/Garth/Corrado, 1 ff.; Thijssen et al., Motivational Classes. Dies führt dazu, dass vermeintliche Indikatoren für gewalttätigen Islamismus tatsächlich lediglich Indikatoren der im Allgemeinen gewaltfreien islamistischen Protestgesellschaft sind.[36]Sageman, Misunderstanding, 167 f.; Bartlett/Miller, 16.

Beim Versuch, die individuelle Motivlage eines extremistisch eingestellten Menschen zu eruieren, ist es von zentraler Bedeutung, auf die Person selbst und nicht ausschliesslich auf die Ideologie ihrer Gruppe zu fokussieren. In der öffentlichen Wahrnehmung und auch unter Fachpersonen ist eine Neigung zu beobachten, die ursächliche Rolle der – vermeintlich – einem Gewaltakt zugrundeliegenden islamistischen Ideologie zu stark zu gewichten – auf Kosten politischer, wirtschaftlicher, sozialer oder in der Persönlichkeit liegender Ursachen.[37]Sageman, Misunderstanding, 80; Sageman, Political Violence, 44; Demichelis/Mezzetti, 227. Umgekehrt wird von Fällen islamistisch anmutender Gewalt berichtet, in denen z.B. materiellen Motiven, einem Gefühl der Zugehörigkeit, dem Abenteuer, dem Status etc. eine zentrale Rolle auf dem Weg zur Gewalt zugekommen ist.[38]Khalil/Horgan/Zeuthen, ABC, 2; Khalil, 198. Kurzum: Einstellungen und Verhalten müssen sich keineswegs entsprechen, sondern müssen als zwei unterschiedliche Dimensionen des Extremismus verstanden werden.

Die Absichten von Extremisten lassen sich eher aus Worten und Taten ableiten als aus einer (religiösen) Ideologie per se.[39]Rapport, 1 ff. Als Handlungserklärung ist die Ideologie zu allgemein und zu unbestimmt.[40]McCauley/Moskalenko, Them and us, 280. Hinzu kommt ein grosser Anteil an Gewalttätern im öffentlichen Raum, deren Ideologie als „composite violent extremism“ bezeichnet wird, da sie durch eine individuell ausgestaltete Verschmelzung unterschiedlicher Überzeugungen oder Anliegen gekennzeichnet ist.[41]Gartenstein-Ross et al., 1.

Bezogen auf den gewalttätigen Islamismus wird berichtet, dass die überwiegende Mehrheit von aus Europa sowie den USA stammenden Islamisten im Tatvorfeld weder eine Einrichtung (z.B. Trainingslager), die eine gewalttätige Ideologie lehrt, noch Moscheen oder Gebetsräume besucht hatten. Vielmehr wiesen sie keinerlei Anzeichen von Religiosität auf.[42]Demichelis/Mezzetti, 227; Sageman, Misunderstanding, 80. In einer longitudinalen, prospektiven Studie konnte die Entwicklung von 150 Personen über ein Jahr beobachtet werden, die in einem staatlichen französischen Präventionsprogramm betreut wurden, weil sie wegen islamistischer Aktivitäten (grossmehrheitlich wegen des Versuchs, sich dem IS anzuschliessen) bei den Sicherheitsbehörden auffällig geworden waren.[43]Campelo et al., 1 ff. Am Ende der Beobachtungsperiode hatten sich – trotz Intervention – 10% der Personen dem IS angeschlossen und 13% galten als weiterhin radikalisiert. Es konnte gezeigt werden, dass folgende Eigenschaften prädiktiv für einen in diesem Sinn ungünstigen Radikalisierungsverlauf waren: männliches Geschlecht, verheiratet, verheiratete Eltern, von Geburt an Muslim zu sein (im Gegensatz zu Konvertiten), Tod eines Verwandten vor der Radikalisierung, eigene Radikalisierungsversuche bei Verwandten sowie die Inhaftierung eines Freundes oder Verwandten vor der Radikalisierung.[44]Campelo et al., 5. Ebenfalls aus Frankreich stammt eine Untersuchung zu 88 zwischen 2015 und 2018 von Islamisten begangenen Gewaltdelikten.[45]Crettiez/Barros, 1 ff. An den Delikten waren 163 Personen beteiligt, davon 14% Frauen. Die Autoren arbeiten als hauptsächlichen Antreiber für die Beteiligung an Gewalt in dieser Stichprobe die Wichtigkeit eines radikalen Netzwerks heraus, sowohl in Form einer extremistischen Gruppierung als auch über eine islamistische Sozialisation im Internet sowie, bei einem geringeren Teil der Islamisten, über Freunde, Bekannte und radikale Moscheen.[46]Crettiez/Barros, 16 ff.

In einer Studie zu Personen (davon ein Fünftel Frauen), die zwischen 2012 und 2015 aus Belgien und den Niederlanden in den Irak oder nach Syrien ausgereist sind, wurde die zentrale Bedeutung der direkten Bekanntschaft, Freundschaft oder Verwandtschaft mit Gleichgesinnten als Motivator für die Ausreise aufgezeigt.[47]Bakker/De Bont, 844 ff. Ähnliches wird für die Gesamtheit der 784 aus Deutschland nach Syrien oder den Irak ausgereisten Personen berichtet (davon ebenfalls ein Fünftel Frauen), die sich dort dem bewaffneten Kampf des IS angeschlossen haben:[48]BKA, BfV, & HKE, 1 ff. Die Hälfte der Personen, zu denen entsprechende Angaben vorlagen, hatte vor ihrer Ausreise Moscheen besucht, die eine extremistische Interpretation des Islam vertraten. Hauptsächlicher Treiber der Ausreise waren neben Kontakten im Internet vor allem die persönlichen Kontakte zu Gleichgesinnten.[49]BKA, BfV, & HKE, 20.

Zusammengenommen entspricht das einem Muster, dass Menschen eher für ihre Gruppe oder für ihre Mitstreiter kämpfen als für eine bestimmte Ideologie,[50]Crenshaw, Explaining Terrorism, 73; Atran, Enemy, 328. was im Übrigen auch für US-amerikanische Soldaten im zweiten Weltkrieg festgestellt werden konnte.[51]Stouffer et al., The American soldier II, 105 ff.

Der Faktor Ideologie muss also mit weiteren Faktoren kombiniert werden, die die Wahrscheinlichkeit für gewalttätiges Handeln erhöhen, um die Eskalation einer Entwicklung hin zum Ausüben von extremistischer Gewalt erklärbar zu machen. Eine sehr wichtige Rolle kommt dabei der Beeinflussung im sozialen Umfeld zu.[52]Sageman, Misunderstanding, 96 f. Ideologien sind beispielsweise geeignet, andere aus der entsprechenden sozialen Gruppe zu ermutigen, den Tätern von Gewalt lobenswerte Eigenschaften wie Pflichtgefühl, Härte, Mut usw. zuzusprechen.[53]Leader Maynard, 832. Diese Zuschreibungen qualifizieren als Anreize.[54]Khalil/Horgan/Zeuthen, Clarifications, 6.

Typologien als idealtypische Beschreibungen haben sich in der forensischen Psychologie und Psychiatrie als hilfreich erwiesen, um verschiedene Fallkonstellationen abzubilden, die zugleich Ansatzpunkte für Interventionen bieten. Unterschiedliche Typologien, die den Kern der jeweils zugrundeliegenden Deliktdynamik beschreiben, wurden auch für unterschiedliche Fallkonstellationen bei Tätern extremistischer Gewaltdelikte entwickelt.[55]Atran, Enemy, 106; Sageman, Political Violence, 38; Endrass et al., 330 ; Endrass/Rossegger, Herausforderungen, 38. Beispielsweise haben Endrass et al. drei Prototypen von Tätern extremistischer Gewalt vorgeschlagen:[56]Endrass et al., 328 ff. Beim ersten Typ ist die Gewaltbereitschaft primär durch eine Realitätsverkennung aufgrund einer schweren unbehandelten psychiatrischen Erkrankung z.B. aus dem schizophrenen Formenkreis getrieben. Beim zweiten Typ liegen die primären Treiber für die Gewaltbereitschaft in einer impulsiven, aggressiven und normablehnenden Persönlichkeit; diese Gewaltbereitschaft manifestiert sich in verschiedenen Lebensbereichen und kann sich auch im Rahmen einer extremistischen Ideologie zum Überschreiten der Handlungsschwelle entwickeln. Beim dritten Typ hingegen ist die Gewaltbereitschaft stark kontextabhängig: Dieser beschreibt einen zunächst sozial angepassten Menschen, der erst durch einen Prozess der zunehmenden Legitimierung von Gewaltanwendung die Bereitschaft entwickelt, Normen zu verletzen und letztlich selbst Gewalt anzuwenden. Endrass und weitere Autoren illustrieren diesen Prozess am Beispiel der Entwicklung vom Muslim zum Islamisten.[57]Endrass et al., 333. Die Legitimierungsarbeit kann parallel zu einem Sozialisationsprozess hin zu einer bestimmten (gewaltorientierten) Ideologie stattfinden oder durch diesen Prozess vorangetrieben werden, ist aber als grundsätzlich eigenständiger kognitiver Prozess konzipiert.[58]Endrass et al., 331 f.

Zusammengefasst ist der Prozess hin zum gewalttätigen Extremismus am ehesten als ein Zusammenspiel von persönlichen und umweltbedingten Faktoren zu verstehen, die sich ständig ändern. Es gibt Persönlichkeitsausprägungen, die erfahrungsgemäss gehäuft bei Tätern extremistischer Gewalt beobachtet worden sind, z.B. Feindseligkeit, mangelnde Empathie[59]Pressman, 1 ff. oder psychiatrische Symptome wie ein Verfolgungswahn.[60]Endrass/Rossegger Andererseits können auch situative Umstände wie ökonomische Prekarität,[61]Piazza, 350; Goodwin, 2035. politische Frustration,[62]Humphreys/Weinstein, 440. soziale Marginalisation oder schlicht eine akut krisenhaften Lebenssituation einen starken Druck auf Menschen ausüben, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten. Kausal erklärbar ist die Anwendung von Gewalt vor dem Hintergrund einer islamistischen Ideologie also weder durch die Ideologie an sich noch durch andere, in der Person oder in ihrem Umfeld zu verortende einzelne Faktoren.[63]Cretiez/Duclos, 50; Khalil/Horgan/Zeuthen, Clarifications, 4; Sageman, Misunderstanding, 105.

III. Spezifische Radikalisierungsmodelle

Die Wissenschaft hat eine Vielzahl von Modellen entwickelt, um die Entwicklung von Menschen in den gewalttätigen Extremismus zu interpretieren. Der Zweck dieses Abschnitts besteht darin, einige der bekanntesten Beispiele, die auch im Bereich des Islamismus Beachtung gefunden haben, kurz zu präsentieren und kritisch zu reflektieren. Einschränkend voranzustellen ist der Hinweis, dass es sich bei allen vorgestellten Modellen um Theorien handelt, die idealtypisch zu erklären versuchen, wie sich anfangs „normale“, unauffällige und gut integrierte Individuen dahingehend entwickeln können, dass sie zu Gewalt greifen, um extremistische Überzeugungen zu vertreten.[64]McGilloway/Ghosh/Kamaldeep, 39.

1. Social Identity Perspective

Das soziologische Modell der Social Identity Perspective (SIP) besagt in seiner Quintessenz, dass sich die meisten Menschen nicht aus persönlichen Motiven an gewalttätigem Extremismus beteiligen, sondern aus Gruppenmotiven. Von zentraler Bedeutung sind dabei die sozialen Netzwerke und Bezugsgruppen, mit denen die Person verbunden ist. Nach diesem Modell ist Radikalisierung ohne Identifizierungsprozess mit einer Gruppe nicht möglich.[65]Van Stekelenburg, 1 ff. Bekanntester Exponent der SIP im Zusammenhang mit Radikalisierung ist der Terrorismusexperte, Psychiater und ehemalige CIA-Mitarbeiter Marc Sageman.

Die SIP geht auf Henri Tajfel zurück, einen polnischen Juden, der nach Frankreich ausgewandert war und sich der französischen Armee angeschlossen hatte um gegen die Nationalsozialisten zu kämpfen. Er wurde gefangen genommen und überlebte eine Reihe von Kriegsgefangenenlagern in Deutschland. Nach seiner Befreiung hat er sein Leben der Erforschung der Ursachen des Holocausts gewidmet.[66]Sageman, Political Violence, 6.

Tajfels Minimalgruppenexperimente zeigen, dass Menschen sich selbst verschiedenen Gruppen zuteilen. Dieser einfache Prozess der Kategorisierung fördert Vorurteile und Voreingenommenheit gegenüber anderen Gruppen. Menschen neigen dazu, bei der Wahl ihrer Freunde, Geschäftspartner und anderer Personen, mit denen sie interagieren und sich austauschen, Mitglieder ihrer eigenen Gruppe gegenüber Aussenstehenden zu bevorzugen. Diese Kategorisierung und Identifikation mit anschliessender Differenzierung zwischen „In-Group-“ und „Out-Group-Personen“ sind gemäss SIP der Schlüssel zum Verständnis von kollektivem Verhalten, einschliesslich sozialer Bewegungen und Terrorismus.[67]Atran, Enemy, 295; Haslam/Reicher/Reynolds, 201 ff.; Hornsey, 204 ff.; van Stekelenburg, 1 ff.; Sageman, Political Violence, 6. Kategorisierung ist ein schneller, natürlicher, assoziativer, emotionaler, müheloser und automatischer Prozess der Vereinfachung unserer Umwelt, um ihr einen Sinn zu geben. Kategorien werden auf der Grundlage gemeinsamer wahrgenommener Merkmale gebildet.[68]Sageman, Misunderstanding, 113. Es handelt sich dabei um einen Teil dessen, was vom Psychologen Daniel Kahneman „System 1“ genannt wird.[69]Kahneman, 19 ff.

Eine offensichtliche und häufige Kategorisierung erfolgt via Religion und „sacred values“ („heilige Werte“).[70]Ysseldyk/Matheson/Anisman, 60 ff.; Atran, Enemy, 1 ff.; Graham/Haidt, 140. Religion ist eine – aber bei weitem nicht die einzige – Form von „sacred values“. Diese sind eine abstrakte Konzeptualisierung dessen, „wer ich bin“ resp. „wer wir sind“.[71]Atran, Devoted Actor, 193. Menschen mit der gleichen Religionszugehörigkeit neigen dazu, ihre Gruppe zu bevorzugen und gegenüber den Angehörigen anderer Religionen voreingenommen zu sein.[72]Jackson/Hunsberger, 509 ff.; Irons, 1 ff.; Die Ergebnisse eines verhaltensökonomischen Experiments suggerieren, dass bei Muslimen dieser Effekt stärker ausgeprägt ist als bei chinesischen … Continue reading

Konkret führt der Weg zur Radikalisierung gemäss SIP über zwei Schritte: Der erste Schritt in diesem Prozess besteht in der Aktivierung einer „politisierten sozialen Identität“, durch die man Teil einer politischen Protestgemeinschaft wird. Angesichts eines eskalierenden Konflikts mit einer kontrastierenden Aussengruppe (häufig der Staat), der Desillusionierung über die vermeintliche Erfolglosigkeit von friedlichem Protest und der moralischen Empörung über die Aggression der Aussengruppe (i.d.R. der Staat) sehen sich einige Aktivisten in einem zweiten Schritt als Kämpfer, die ihre politische Gemeinschaft schützen. Diese zweite Selbstkategorisierung von der „politisierten sozialen Identität“ in eine „martialische soziale Identität“ veranlasst einige wenige, sich der Gewalt zuzuwenden, denn die martialische soziale Identität legitimiert die Anwendung von Gewalt zur Verteidigung der eigenen Gruppe.[73]Sageman, Misunderstanding, 117; Sageman, Political Violence, 17; Von Geheimdiensten wird der erste Schritt häufig als „Radikalisierung“, der zweite als „Mobilisierung“ bezeichnet (Sageman, … Continue reading Kumulative Voraussetzung für den Übergang von der ersten zur zweiten Selbstkategorisierung sind die Eskalation eines Konflikts, Desillusionierung und moralische Empörung.[74]Sageman, Political Violence, 29. Zum heutigen Zeitpunkt gibt es keine empirische Evidenz darüber, wie man die Individuen erkennen könnte, die die Grenze zur martialischen sozialen Identität passiert haben. Mögliche begünstigende Faktoren sind ein ausgeprägtes Ehrgefühl[75]Nisbett/Cohen, 1 ff. und eine gesteigerte Empfindlichkeit gegenüber Geringschätzung durch andere für die eigene soziale Identität.[76]Sageman, Political Violence, 38.

Im weiteren Verlauf nach dem Übergang zur martialischen sozialen Identität isolieren sich die wenigen „auserwählten Kämpfer“ wegen ihrer Gewaltbereitschaft allmählich von ihrer bisherigen Gruppe mit politisierter sozialer Identität, die nicht in einen Konflikt mit den Behörden geraten wollen und deshalb beginnen, die gewaltbereiten Aktivisten zu meiden. Die „Kämpfer“ ihrerseits betrachten ihre ehemaligen Mitstreiter zunehmend als Feiglinge, verlieren das Vertrauen in sie und halten sich von ihnen fern. Die selbsternannten Kämpfer fangen an, sich als etwas Besonderes zu fühlen. Sie glauben, dass sie sich vom Rest ihrer Gruppe unterscheiden und auf ihrem neuen Weg Geschichte schreiben. Sie entwickeln einen starken „Esprit de Corps“. Je grösser die persönliche Aufopferung, desto grösser ist ihr Selbstwertgefühl und desto enger fühlen sie sich miteinander verbunden. Sie verbringen schliesslich ihre gesamte Zeit miteinander. Ihr Feindbild erweitert sich allmählich vom Staat auf ehemalige Mitstreiter, die Gewalt ablehnen, und umfasst schliesslich die gesamte Bevölkerung wegen ihrer Unterstützung des Staates. Um einer Verhaftung zu entgehen, gehen diese selbsternannten Soldaten in den Untergrund. Durch ihre soziale Isolation sind sie viel weniger unterschiedlichen Ereignissen, Ideen, Gefühlen, Perspektiven und Interpretationen der Welt, die sie nur noch in ihrer klandestinen Kleingruppe teilen, ausgesetzt.[77]Sageman, Political Violence, 41 f. Ohne den Kontakt mit einer breiteren Palette von Ideen erleben sie eine Verengung ihres kognitiven Horizonts.[78]Della Porta, 252 ff. In ihrer Isolation werden sie zunehmend selbstreferenziell und entwickeln teilweise eine Privatsprache, die für Aussenstehende, auch ehemalige Mitstreiter, bald unverständlich wird. Die gewaltbereiten „Kämpfer“ beginnen sich einzureden, dass Gewalt Reformen bewirken könne und häufiger sei, als sie tatsächlich ist. Dies führt dazu, dass sie glauben, kurz vor dem Erreichen der Ziele zu stehen. Ihr Verhalten wird obsessiv, denn mehrfache Fehlschläge, Verhaftungen und zum Teil auch Todesfälle halten sie nicht mehr davon ab, bis zum bitteren Ende weiterzumachen. Es ist, als ob das gewalttätige Ziel die Kontrolle über das Leben, die Gedanken, die Bemühungen und die Emotionen dieser Personen übernimmt. Der Begriff der Besessenheit resp. Obsession steht im Einklang mit Erkenntnissen der Sozialpsychologie. Ein bestimmtes Ziel vor Augen zu haben, lenkt die Aufmerksamkeit selektiv auf relevante Hinweise auf dieses Ziel und filtert irrelevante heraus. Dieses Phänomen wird „Aufmerksamkeitsblindheit“ („attentional blindness“) genannt.[79]Bargh/Gollwitzer/Oettingen, 288 f.; Sageman, Misunderstanding, 159 f.

Gemäss SIP ist der Übergang zur politischen Gewaltbereitschaft kein vernunftgesteuerter Prozess und kann daher nicht mit der rational choice theory (RCT)[80]Für einen Überblick der Entwicklung der RCT s. Green, 2002, 1 ff.; siehe unten, IV.1. erklärt werden.[81] Sageman, Political Violence, 384. Die Gewaltbereitschaft von Extremisten sei meist durch die moralische Verpflichtung gegenüber kollektiven Interessen bedingt. Ziel sei die physische Verteidigung der „sacred values“ einer Sache – in der SIP-Logik letztendlich einer Gruppe – allen Widrigkeiten zum Trotz. Diese Werte übertrumpfen oft marktwirtschaftliches Denken und realpolitische Erwägungen. Bei einer rationalen Entscheidung geht es darum, die besten Mittel zu ergreifen, um bestimmte Ziele in der Zukunft zu erreichen. Je weiter in der Zukunft ein Ziel liegt, desto geringer ist sein tatsächlicher Wert im Hier und Jetzt und desto weniger engagiert ist eine Person, die Mittel zur Verwirklichung dieses Ziels einzusetzen. Bei „sacred values“ gelten diese Zusammenhänge jedoch nicht: Gestützt auf „sacred values“ werden sich gewisse Personen im Hier und Jetzt auf eine Weise verhalten, die einem fernen, möglicherweise postumen Ziel dienen. Diese Handlungen stehen gemäss SIP in keinem rational begründbaren Verhältnis zur kurzfristigen individuellen Gratifikation, die möglicherweise daraus erwächst.[82]Atran, Enemy, 344 f.; Gemäss Darwin bringen „sacred values“ zugunsten einer Gruppe selektive Vorteile: „(…) obwohl ein hoher moralischer Anspruch jedem einzelnen Mann und seinen Kindern nur … Continue reading Die Extremposition dieser Logik stellten Selbstmordattentäter dar. Sie opferten ihr wertvollstes Gut für die Gruppe, was nicht als nüchtern-rationaler Vorgang gewertet werden könne und daher gegen die RCT spreche.

Die Grenze von der politisierten zur martialischen sozialen Identität ist fluid und durchlässig, sie kann je nach Kontext mehrmals in beide Richtungen passiert werden. Nach Ansicht von Vertretern der SIP folgt als Implikation aus der Theorie, dass der Staat insbesondere darauf achten sollte, dass er nicht Indikatoren für den Übergang von normaler sozialer Identität zu politisierter sozialer Identität (erste Selbstkategorisierung) mit dem Schritt von politisierter sozialer Identität zur martialischen sozialen Identität (zweite Selbstkategorisierung) verwechselt und überreagiert. Denn in einem Prozess der sich selbst erfüllenden Prophezeiung können übertrieben repressive Massnahmen durch den Staat erst dazu führen, dass Personen ihre soziale Identität letztlich durch gewalttätiges Handeln ausleben. Sympathisierende innerhalb der Peer-Gruppe können sich zudem durch derartiges Handeln von vermeintlichen „Märtyrern“ in ihrer sozialen bzw. politischen Identität bestärkt sehen.[83]Sageman, Political Violence, 39. Die Empfehlung der SIP-Experten lautet, in Verdachtsfällen die Betroffenen zurückhaltend zu beobachten und keinesfalls zum Agent Provocateur zu werden.

2. Attitudes-Behavioral Corrective Model

Auch das Attitudes-Behavioral Corrective (ABC)-Modell basiert auf der klaren Trennung von Sympathie einer Person für terroristische Handlungen und Bereitschaft, tatsächlich an solchen teilzunehmen. Diese Trennung von Sympathisierenden und Handelnden teilt das ABC-Modell mit der SIP und dem Zweipyramiden-Modell[84]McCauley/Moskalenko, Them and us, 205 ff.; siehe unten, III.3.. Prominentester Vertreter des ABC-Modells ist James Khalil.

Das ABC-Modell besagt, dass viele der Personen, die im Kontext einer Ideologie Gewalt anwenden, tatsächlich gleichgültig gegenüber der entsprechenden Ideologie und ihren angeblichen Zielen seien. Stattdessen handelten sie hauptsächlich zum Beispiel aus materiellen Interessen, einem Zugehörigkeitsgefühl, Abenteuerlust oder Statusgründen.[85]Khalil, 198 ff. Das ABC-Modell ist explizit dynamisch und nimmt an, dass Individuen ihre Einstellungen und Verhaltensweisen im Laufe der Zeit ändern. So kann eine Person im zeitlichen Verlauf beispielsweise in Bezug auf ihre Haltung zunehmend Abstand nehmen von gewaltbefürwortender Einstellung („Deradikalisierung“), aber dennoch in Bezug auf ihr Verhalten gewaltbereiter werden („Engagement“). Eine solche Entwicklung ist beispielsweise gegeben, wenn eine zunächst von der radikalen Ideologie begeisterte Person aufgrund beobachteten unmoralischen Handelns von Gruppenführern zunehmend desillusioniert ist, gleichzeitig aber das Zugehörigkeitsgefühl oder der Gruppendruck innerhalb der extremistischen Kleingruppe zunimmt.[86]Khalil/Horgan/Zeuthen, ABC, 6.

Das ABC-Modell berücksichtigt auch, dass der Prozess der Beteiligung an gewaltbereitem Extremismus sowohl „bottom-up“ als auch „top-down“ sein kann. Mit anderen Worten, es wird anerkannt, dass Interessierte oft aktiv nach Möglichkeiten suchen, sich gewaltbereiten extremistischen Organisationen anzuschliessen, dass diese Organisationen aber auch selbst häufig proaktiv bei der Identifizierung und Anwerbung neuer Mitglieder tätig werden.[87]Khalil/Horgan/Zeuthen, ABC, 7.

Auf dem Weg zum einstellungs- und/oder verhaltensbezogenen Extremismus existieren gemäss ABC-Modell verschiedene Motivatoren:[88]Khalil/Horgan/Zeuthen, ABC, 9; Dabei gilt das Prinzip der sog. „Equifinalität“, wonach ein bestimmter Endzustand (in diesem Fall sowohl die Sympathie für „gerechtfertigte Gewalt“ als auch … Continue reading

  • Strukturelle Motivatoren, die lokal relevant sein können, sind beispielsweise staatliche Repression, politische Ausgrenzung, Korruption, Armut, Ungleichheit und Diskriminierung. Sie können den Weg zum Extremismus bestenfalls indirekt erklären. Basierend auf der Rational-Choice-Theorie (RCT) entscheiden sich in den allermeisten Fällen selbst diejenigen, die mit dieser Gewalt sympathisieren, dafür, nur „Trittbrettfahrer“ zu sein. Denn sie sind sich bewusst, dass ihre Beteiligung höchstens marginal zu den angeblichen Zielen der Gewalt beitragen würde, gleichzeitig aber hohe individuelle Risiken wie Inhaftierung, Verletzung und sogar Tod in sich birgt.[89]Levi 19 ff.; Moore 417 ff. Strukturelle Motivatoren beeinflussen vor allem die Haltungen (attitudes).
  • Individuelle Anreize bestehen beispielsweise in materiellen Anreizen (Gehälter usw.), Schutz, Status, Abenteuerlust, Zugehörigkeit, Rache, erwarteten Belohnungen im Jenseits und ein Sinngefühl, das durch Handeln in Übereinstimmung mit wahrgenommenen ideologischen Grundsätzen gewonnen wird. Individuelle Anreize beeinflussen v.a. das Verhalten (behavior).
  • Ermöglichende resp. fördernde Faktoren verhelfen Bewegungen zu grösserer Radikalität, erleichtern oder kanalisieren sie, anstatt sie per se zu motivieren. Dazu gehören zum Beispiel „radikale“ Mentoren, Anwerber, breitere soziale Netzwerke und Online-Communities, andere Formen traditioneller und moderner Medien oder der Zugang zu Waffen und anderen Technologien.

Ein Vorteil des ABC-Modells besteht darin, dass damit die häufig dynamischen Zustände der Individuen in Bezug auf ihre Einstellungen (attitudes: Radikalisierung oder Deradikalisierung) und Verhaltensweisen (behavior: Engagement oder Disengagement) im zeitlichen Verlauf grafisch nachgezeichnet werden können.[90]Allerdings ist es im ABC-Modell, das mit Grafiken arbeitet, schwierig, den aktuellen Zustand klar in Worten zu definieren, so wie dies beim Zweipyramiden-Modell mit der Bezeichnung der jeweiligen … Continue reading Aus Forschungsperspektive bietet dies eine Möglichkeit, um die Lebensgeschichten bestimmter Personen besser zu verstehen.[91]Khalil/Horgan/Zeuthen, ABC, 17.

Kritisiert wird, dass nicht klar sei, wie die Einstellungs- und Verhaltensdimensionen im ABC-Modell gemessen und die exakte Position darin benannt werden sollen oder wie die drei Arten von Motivatoren (strukturelle Motivatoren, individuelle Anreize, fördernde Faktoren) Personen erfassen können, die das Wohl ihrer Gruppe über ihr eigenes Wohl stellen.[92]McCauley, 457.

3. Two Pyramids Model

Ebenso wie die SIP (siehe oben, III.1.) basiert das Zweipyramiden-Modell auf soziologischen Faktoren mit besonderem Fokus auf Gruppenvariablen. So sind gemäss diesem Modell Bezahlung, Beförderung, Medaillen, Anerkennung etc. als Motivatoren viel weniger wichtig als „meine Kumpels nicht im Stich zu lassen“.[93]McCauley/Moskalenko, Profile, 73; Stouffer et al., The American soldier I, 1ff.

Entwickelt worden ist das Zweipyramiden-Modell von Clark McCauley und Sophia Moskalenko.[94]McCauley/Moskalenko, How radicalization happens, 1 ff.; McCauley/Moskalenko, Profile, 69 ff.; McCauley/Moskalenko, Two-Pyramids, 205 ff.; Leuprecht et al., 42 ff. McCauley und Moskalenko definieren Radikalisierung als Veränderungen in Überzeugungen, Gefühlen und Handlungen in Richtung einer verstärkten Unterstützung für eine Seite eines politischen Konflikts.[95]McCauley/Moskalenko, How radicalization happens, 1 ff.; McCauley/Moskalenko, Profile, 70. Wie die SIP und das ABC-Modell unterscheidet auch das Zweipyramiden-Modell Radikalisierung der Meinungen (Überzeugungen und Gefühle) von Radikalisierung des Verhaltens, indem es eine „Opinion Radicalization Pyramid“ (ORP) und eine „Action Radicalization Pyramid“ (ARP) vorschlägt. Die Stufen der ORP von unten nach oben lauten „Neutral“, „Sympathizers“, „Justifyers“ und „Personal Moral Obligation“, diejenigen der ARP „Inert“, „Activists“, „Radicals“ und „Terrorists“. In der ARP werden auf dem Weg zur Spitze der Pyramide, also zum gewalttätigen Extremismus, zwölf Mechanismen der Radikalisierung unterschieden (z.B. Rache für eine erlebte Ungerechtigkeit oder „sensation seeking“, dem Bedürfnis nach neuen und abwechslungsreichen Erlebnissen unter Inkaufnahme von Risiken).[96]Crettiez/Duclos, 70; McCauley/Moskalenko, Profile, 70; McCauley/Moskalenko, How radicalization happens, 1 ff. Mindestens drei dieser zwölf Mechanismen setzen keine Radikalisierung der Einstellung (also keinen Anstieg innerhalb der ORP) voraus. Auch dürfen die Pyramiden nicht als Stufenmodell verstanden werden, wonach ein Individuum linear jede Ebene durchschreiten muss, um – im Fall der ARP – in der letzten Stufe ein Terrorist zu werden.[97]McCauley/Moskalenko, Profile, 73.

Für den ursächlichen Übergang von radikaler Meinung zu radikalem Handeln spielt gemäss Zweipyramiden-Modell die konkrete Ideologie nur eine untergeordnete Rolle.[98]Crettiez/Duclos, 70; McCauley, 453. Viel entscheidender seien praktische, situative Ereignisse. Als Hochrisiko-Konstellation wird das Zusammentreffen von radikaler Einstellung und entsprechender situativer Gelegenheit erachtet.[99]McCauley/Moskalenko, Profile, 83.

Beim Zweipyramiden-Modell wird kritisiert, dass es im Gegensatz zum ABC-Modell den zeitlichen Verlauf der (De)Radikalisierungstendenzen einzelner Individuen nicht aufzuzeigen vermag und den Einfluss der Ideologie zu stark negiert.[100]Khalil/Horgan/Zeuthen, Clarifications, 1 ff.

4. Four Stage Model

Das vierstufige Konzeptmodell für die Entstehung einer „terroristischen Denkweise“ wurde unter Federführung des FBI im Nachgang zu den Anschlägen vom 11. September 2001 entwickelt. Grundlage bildeten anekdotische und unsystematische Analysen mehrerer gewaltbereiter extremistischer Gruppen mit einer Spanne unterschiedlicher Ideologien, um herauszufinden, ob es unter ihnen einige gemeinsame Faktoren in Radikalisierungsprozessen geben könnte. Das konzeptionelle Modell versucht zu erklären, wie sich Missstände und Vulnerabilitäten in Hass auf eine Zielgruppe verwandeln und wie sich Hass – für einige – in eine Rechtfertigung oder einen Anstoss für Gewalt verwandelt. Grundsätzlich beginnt der vierstufige Prozess damit, ein unbefriedigendes Ereignis, einen Zustand oder eine Beschwerde („It’s not right“) als ungerecht („It’s not fair“) einzustufen. Die Ungerechtigkeit wird einer Zielpolitik, -person oder -nation angelastet („It’s your fault“). Die verantwortliche Partei wird dann diffamiert – oft dämonisiert – („You’re evil“), was die Rechtfertigung oder den Anstoss für Aggression erleichtert. Das Modell wurde ursprünglich von Randy Borum als Trainingsheuristik für die Strafverfolgung entwickelt, nicht als formale sozialwissenschaftliche Theorie.[101]Borum, Extremism II, 38 ff.; Borum, Understanding, 7 ff.

Am Vierstufen-Modell wird kritisiert, dass es die Rolle der Ideologie vernachlässigt. Zweitens macht das Modell nicht hinreichend deutlich, dass der Verlauf zur Gewalt nicht linear verläuft und umgekehrt werden kann. Drittens berücksichtigt es nicht deutlich die Unterscheidung zwischen Einstellungen und Verhaltensweisen, die ein zentrales Element der SIP, des ABC-Modells und des Zweipyramiden-Modells ist. Daher bleiben Schlüsselfragen bezüglich des entscheidenden Schritts von der Rechtfertigung von oder dem Sympathisieren mit Gewalt bis zur tatsächlichen Beteiligung an solchen Taten unbeantwortet, was unbefriedigend ist angesichts der weit höheren Anzahl an Sympathisierenden einer extremistischen Idee im Vergleich zu Personen, die Gewalt anwenden.[102]Khalil/Horgan/Zeuthen, ABC, 3 f.

5. Staircase Model

Im Treppenmodell wird der extremistisch motivierte Gewaltakt als letzter Schritt auf einer sich nach oben verengenden Treppe konzipiert. Entwickelt wurde das Treppenmodell von Fathali Moghaddam.[103]Moghaddam, 161 ff.

Im „Erdgeschoss“ dominieren Gerechtigkeitswahrnehmungen und Gefühle relativer Entbehrung. Obwohl die überwiegende Mehrheit der Menschen, selbst wenn sie sich benachteiligt und ungerecht behandelt fühlen, im „Erdgeschoss“ bleiben, klettern einige Personen nach oben: Im „ersten Stock“ suchen sie nach Wegen, ihre Situation zu verbessern und mehr Gerechtigkeit zu erreichen. Gelingt dies nicht, steigen sie in den „zweiten Stock“, wo das Erleben von Wut und Frustration im Vordergrund stehen. Insbesondere durch Führungspersonen extremistischer Organisationen können sie dazu gebracht werden, ihre Frustration aggressiv auf eine „Out-Group“ zu verlagern. Im „dritten Stock“ führt gemäss Treppenmodell die Indoktrination zu einer Wahrnehmung der extremistischen Organisation als legitim. Im „vierten Stock“ wird die eigentliche Rekrutierung für extremistische Gewaltakte im Sinn der Organisation verortet, einhergehend mit einem starken „wir-gegen-sie“-Denken. Im „fünften Stock“ schliesslich werden die Gewaltakte umgesetzt.[104]Moghaddam, 162.

In der entsprechenden Metapher führt die Treppe zu immer höheren Etagen, und ob jemand auf einer bestimmten Etage bleibt, hängt von den Türen und Räumen ab, die sich diese Person auf dieser Etage für sich als offen vorstellt. Das grundlegend wichtige Merkmal der Situation ist nicht nur die tatsächliche Anzahl der Stockwerke, Treppen, Räume, sondern die entsprechende Wahrnehmung durch die Betroffenen. Wenn Individuen die Treppe hinaufsteigen, sehen sie immer weniger Handlungsalternativen, bis das einzig mögliche Ergebnis ein destruktiver Akt bleibt.[105]Moghaddam, 161.

Realistisch erscheint beim Treppenmodell die Vorstellung der Selbstkategorisierung und Trennung von „In-Group-“ und „Out-Group-Personen“. Dieselbe Kritik wie beim Vierstufen-Modell, insbesondere bezüglich des Postulats der Linearität und einer ungenügenden Trennung von Haltungen und Handlungen, gilt jedoch auch für das Treppenmodell von Moghaddam. Eine weitere Kritik betrifft die Vorstellung des Treppenmodells, dass auf dem Weg zum Terrorismus umfassende Indoktrinationsprozesse und eine eigentliche Gehirnwäsche stattfänden. Wie im vorigen Abschnitt erwähnt, geht man in der herrschenden Lehre davon aus, dass es sich bei Personen, die ein extremistisches Gewaltdelikt begehen, keinesfalls um reduziert urteilsfähige oder sogar willenslose Tatinstrumente handelt – so wie dies eine Indoktrination impliziert.[106]Introvigne, 1 ff.; Nuraniyah, 890; Bloom, 1 ff.; Gambetta, 1 ff.; Hafez, 1 ff.; Merari, 1 ff.; Pape, 1 ff.; Pedahzur, 1 ff. Kritisiert wird schliesslich beim Treppenmodell, analog zum Vierstufen-Modell, das Ignorieren der regelhaft beobachteten Gleichgültigkeit oder sogar Ablehnung der Ideologie durch Personen, die im Kontext ebendieser Ideologie Gewaltdelikte begehen. Die Modelle blenden also Personen aus, die hauptsächlich durch wirtschaftliche Anreize, Status, Zugehörigkeit, Abenteuer, Angst usw. zu gewalttätigem Handeln motiviert sind.[107]Khalil/Horgan/Zeuthen, ABC, 4.

6. Significance Quest Model

Gemäss dem Significance Quest Model sind das Streben nach Anerkennung und die Konstruktion von Sinn im eigenen Leben die Hauptmotivationen für radikales Engagement. Wenn bestimmte Menschen unter einem subjektiven Bedeutungsverlust leiden, klammern sie sich an Überzeugungen, die diesen Verlust erklären und Lösungswege aufzeigen. Das Festhalten an einem bestimmten Kreis von Gleichaltrigen soll den Übergang zu gewalttätigen Aktionen fördern.[108]Crettiez/Duclos, 70. Das Significance Quest Model wurde von Arie Kruglanski et al. entwickelt.[109]Kruglanski/Bélanger/Gunaratna, 93 ff.; Kruglanski et al., 69 ff.

Radikalisierung wird in diesem Modell definiert als Unterstützung von oder Teilnahme an Aktivitäten, die (von anderen) als Verletzung wichtiger sozialer Normen angesehen werden (z.B. die Tötung von Zivilistinnen und Zivilisten). In dieser Hinsicht ist Radikalisierung eine Frage des Grades, wobei die blosse Unterstützung der Haltung gegenüber Gewalt einen geringeren Grad der Radikalisierung widerspiegelt als die tatsächliche Ausübung von Gewalt. Das Significance-Quest-Model enthält drei entscheidende Komponenten: (1) die motivationale Komponente (das Streben nach persönlicher Bedeutung), die ein Ziel definiert, für das man sich engagiert, (2) die ideologische Komponente, die zusätzlich die Mittel der Gewalt als angemessen bezeichnet für die Verfolgung dieses Ziels, und (3) der soziale Prozess der Vernetzung und Gruppendynamik, durch den das Individuum an der gewaltbegründenden Ideologie teilnimmt und sie als Mittel des Bedeutungsgewinns durchsetzt.[110]Kruglanski et al., 69.

Dieses Modell anerkennt korrekterweise das Gewicht der Selbstkategorisierung und Gruppenzugehörigkeit sowie der „sacred values“. Die Demütigung der eigenen Gruppe und das „Niedertrampeln“ ihrer „sacred values“[111]Atran, Enemy, 1 ff. kann zu einem erheblichen subjektiven Bedeutungsverlust führen, der von allen Mitgliedern der Gruppe (z.B. Musliminnen und Muslimen) als solcher empfunden wird.[112]Kruglanski et al., 75. Die Selbstkategorisierung und die identitäre Verschmelzung mit der Gruppe[113]Swann et al., Identity Fusion, 995 ff. erhöht die Bereitschaft des einzelnen Mitglieds, im Namen der Gruppe und zur Verteidigung ihrer „sacred values“ Selbstaufopferungen auf sich zu nehmen.[114]Kruglanski/Bélanger/Gunaratna, 93; Atran/Sheikh/Gomez, 17702 f.

Eine Schwäche des Modells ist, dass es nicht klar zwischen Haltungen und Handlungen unterscheidet resp. ein extremistisch motivierter Gewaltakt als lediglich stärkere Ausprägung auf einem linearen Kontinuum definiert. Dabei wird missachtet, dass die Beteiligung an gewalttätigem Extremismus auch bei Personen möglich ist, die die entsprechende Haltung oder Ideologie nicht teilen.

IV. Präzisierungen

1. Radikalisierungsmodelle und Rational Choice Theory: Ein Widerspruch?

Die letztlich mit dem Endpunkt der Radikalisierung verbundene Selbstaufopferung für eine bestimmte Ideologie wie z.B. Islamismus erscheint zunächst nicht mit einem vernunftbezogenen Handeln in Einklang zu bringen, wie dies von der Rational Choice Theory (RCT) postuliert wird. Die RCT erklärt soziale Phänomene als Ergebnisse individueller Entscheidungen, die grundsätzlich als rational ausgelegt werden können. Während die RCT den theoretischen Kern der Wirtschaftswissenschaften darstellt, stösst sie in den Sozial- und Verhaltenswissenschaften auf erhebliche Kritik.[115]Wittek, 1; Herfeld, 329; Fumagalli, 63. Zu den kritischen Stimmen gehören auch die Vertreterinnen und Vertreter der SIP und des Zweipyramiden-Modells (siehe oben, III.1 und 3.). So ist der franco-amerikanische Anthropologe Scott Atran der Meinung, dass extremistisch motivierte Gewalt häufig von „ergebenen Akteuren“ („devoted actors“) ausgeübt wird, die sich an „sacred values“ (siehe III.1 und III.6) orientieren und Taten begehen, die sich von rational zu erwartendem Verhalten unterscheiden.[116]Atran, Devoted Actor, 192. Diese „sacred values“ widerstehen materiellen Versuchungen.[117] Tetlock, 320 ff.; Dehghani et al., 540 ff. ; Ginges et al., 507 ff. Das Prinzip des „devoted actors“ lautet: „Die Menschen sind bereit, moralisch wichtige Werte oder ‚sacred values‘ durch kostspielige Opfer und extreme Aktionen zu schützen und sogar zu töten und zu sterben, insbesondere wenn solche Werte in die Gruppenidentität eingebettet (…) sind“.[118]Atran, Devoted Actor, 192. Wenn also „sacred values“ und ein bestimmter Grad von Identitätsfusion („identity fusion“)[119]Identitätsfusion – die der Selbstkategorisierung in der SIP (siehe oben, III.1.) stark ähnelt, aber nicht exakt entspricht (Atran, Devoted Actor, 197) – tritt auf, wenn persönliche und … Continue reading zusammenwirken, entsteht beim betreffenden Individuum die Bereitschaft, der reinen Rationalität widersprechende, kostspielige Opfer, bisweilen das eigene Leben, für eine primäre Bezugsgruppe zu bringen.[120]Sheikh/Gomez/Atran, 204 ff.

„Sacred values“ in Kombination mit Identitätsfusion sind beispielsweise in den palästinensischen Gebieten Westjordanland und Gaza beschrieben worden. Dort haben Scott Atran und Jeremy Ginges eine Befragung von über 700 Personen durchgeführt, die die Irrationalität bei Entscheidungen aufzeigt, sobald „sacred values“ mit starker Gruppenzugehörigkeit (Identitätsfusion) zusammenfallen.[121]Ginges/Atran, 115 ff. Die zwei Fragen haben gelautet:

  • „Was wäre, wenn jemand einen Bombenanschlag (Selbstmordattentat) gegen die Feinde Palästinas verüben wollte, aber sein Vater krank wird und seine Familie den auserwählten Märtyrer anfleht, sich um seinen Vater zu kümmern – wäre es akzeptabel, den Angriff auf unbestimmte Zeit zu verzögern?“ und
  • „Was wäre, wenn eine Person einen Bombenanschlag (Selbstmordanschlag) gegen die Feinde Palästinas verüben wollte, aber seine Familie ihn bittet, das Martyrium auf unbestimmte Zeit hinauszuzögern, weil die Wahrscheinlichkeit, dass die Familie des auserwählten Märtyrers als Vergeltung getötet würde, sehr hoch wäre? Wäre es akzeptabel, den Angriff auf unbestimmte Zeit zu verzögern?“

Die Mehrheit der befragten Palästinenser haben entgegen der RCT irrational geantwortet, indem sie eine Verzögerung eines Selbstmordattentats zur Rettung einer ganzen Familie häufiger missbilligten als eine Verzögerung eines Attentats, um sich um einen kranken Vater zu kümmern.

Emotionen und rationales Denken sind keineswegs als Dichotomie aufzufassen.[122]Stanley, 48. Die Forschung zu den neurokognitiven Grundlagen des moralischen Denkens deutet auf eine enge Integration zwischen Kognition und Emotion hin, insbesondere wenn es um Handlungen geht. Gehirnregionen von Gefühlen und Gedanken sind eng miteinander verbunden und bei moralischen Entscheidungen zu stark verflochten, um sauber getrennt zu werden,[123]Sageman, Misunderstanding, 145 f. und der Begriff der „Rationalität“ ist elastisch genug, um auch psychosoziale resp. emotionale Anreize zu umfassen.[124]Khalil/Horgan/Zeuthen, ABC, 12;

Prosoziales Verhalten ist tief in unserem genetischen und kulturellen Erbe verwurzelt.[125]Hetzer, 3. Die Identifikation mit einer Gruppe ist eine wichtige Quelle des individuellen Wohlbefindens. In einer wegweisenden Arbeit haben Akerlof und Kranton die Nutzenfunktion gemäss RCT erweitert und aufgezeigt, dass individuelle Entscheidungen nicht nur von idiosynkratischen Präferenzen, sondern auch von internalisierten sozialen Normen bestimmt werden. Internalisierung und Identifikation gemäss SIP sind der Prozess, durch den Menschen eine Reihe von Vorschriften lernen, denen sie ihr Verhalten anpassen können.[126]Akerlof/Kranton, 715 ff. In diesem Sinn wird individueller Nutzen gewonnen, wenn Handlungen sozialen Normen entsprechen, und verloren, wenn dies nicht der Fall ist. So ist der mit Identität verbundene Nutzen die Freude, die ein Individuum gewinnt, wenn es etwas tut, das zum prototypischen Verhalten der Gruppe passt, der es angehört.[127]Kalin/Sambanis, 242. Selbst ein Selbstmordattentat kann als mit der RCT in Einklang stehend interpretiert werden: Die Attentäterin oder der Attentäter misst in diesem Fall den besonderen individuellen Anreizen (Sinnhaftigkeit, Rache, Status – häufig vor dem Ereignis, aber auch im Tod –, erwartete Belohnungen im Jenseits und so weiter) mehr Wert bei als dem eigenen Leben.[128]Khalil/Horgan/Zeuthen, Clarifications, 3; Crenshaw, Suicide Terrorism, 153. Obwohl die SIP eine Unvereinbarkeit von SIP und RCT proklamiert, hat selbst der bekannte Vertreter der SIP Marc Sageman erklärt: „The willingness to sacrifice oneself for a cause means that the cause is worth personal risks and gives meaning to one’s life[129]Sageman, Political Violence, 40 f., und auch Scott Atran – ebenfalls ein Vertreter der SIP – hat eingeräumt, dass die Tatsache, dass bestimmte Eliteeinheiten des US-Militärs wie auch die israelische Armee in Ausübung ihrer „heiligen Pflicht“ das Leben vieler Soldaten riskiert haben, nur um einen einzelnen ihrer Soldaten zu retten, einen rationalen Sinn hat: Aufrichtige Bereitschaft zur Vergeltung um jeden Preis kann sich langfristig auszahlen, da so aggressive Aktionen stärkerer, aber weniger engagierter Feinde verhindert werden können. Ebenso kann die Bereitschaft, sich für Gleichgesinnte zu opfern, dazu beitragen, einen besseren „Esprit de Corps“ zu schaffen, der seinerseits zu einer grösseren Kampfkraft führen kann.[130]Atran, Enemy, 245 f.

Damit erscheint, dass ein weitaus grösserer Nutzen daraus gezogen werden kann, die Perspektiven der SIP und der RCT nicht als konkurrenzierend zu betrachten, sondern vielmehr als komplementär.[131]Khalil/Horgan/Zeuthen, Clarifications, 4.

2. Einordnung bestehender Radikalisierungsmodelle

Obwohl die verschiedenen Modelle eine gewisse Inhaltsvalidität aufweisen, um retrospektiv den Radikalisierungsprozess modellhaft darzustellen, mangelt es ihnen an spezifischen Merkmalen, die die Radikalisierung im Einzelfall erklären. So ist zwar bekannt, dass sich viele extremistisch motivierte Attentäter zum Zeitpunkt der Deliktbegehung in einer „Adoleszentenkrise“ befunden haben. Dieses Merkmal liegt allerdings bei einer Vielzahl von Menschen in einem bestimmten Altersspektrum vor, ohne dass sie deshalb eine Gewalttat oder gar einen terroristischen Akt begehen. Verwendet man derartige Eigenschaften fälschlicherweise als Risikomerkmal zur Identifikation von potenziell gewalttätigen Personen, führt dies entsprechend zu einer hohen Anzahl an falsch positiven Beurteilungsergebnissen: Insbesondere für das Zieldelikt einer extremistisch motivierten Gewalttat ist die Basisrate verschwindend gering, während bei einer Vielzahl an Personen das vermeintliche Risikomerkmal vorliegt. Dies wird exemplarisch am Vorgehen der New Yorker Polizei (NYPD) deutlich: Diese haben ein vierstufiges Radikalisierungsmodell veröffentlicht,[132]Silber/Bhatt, 1 ff. das als Risikofaktoren für die „Prä-Radikalisierung“ männliches Geschlecht, muslimische Religionszugehörigkeit, Migrationshintergrund, allenfalls geringe kriminelle Vorgeschichte, einen höheren Bildungsabschluss und jüngeres Alter als 35 Jahre nennt. Das Ergebnis der Verwendung dieser unspezifischen Merkmale war eine Massenüberwachung der muslimischen Bevölkerung New Yorks mit den entsprechenden negativen Konsequenzen für die Betroffenen wie die Angst, aufgrund von bestimmten politischen Äusserungen in Verdacht zu geraten, die Einschränkung der Religionsausübung (weil auch dies verdächtigem Verhalten entsprach) oder der Vertrauensverlust in die Polizei und andere lokale Behörden.[133]Sadowski et al., 336; Shamas/Arastu, 1 ff.

Zusammengefasst handelt es sich bei Modellen zu Radikalisierungsprozessen um theoretische Konstrukte, die sich weder zu einer Diagnostik im Einzelfall eignen noch als Ausgangspunkt einer Risikobeurteilung dienen können – was allerdings auch nicht ihr Anspruch ist.

V. Zusammenfassung

Obwohl ein islamistisches Attentat ein sehr seltenes Ereignis ist und die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines solchen Anschlags zu werden, verschwindend klein ist, müssen solche Vorfälle bestmöglich verhindert werden. Zu diesem Zweck interessiert sich die Forschung für die Ursachen der Radikalisierung und der Hinwendung zu gewalttätigem Extremismus. Auch wenn einzelne Besonderheiten hinsichtlich der zugrundeliegenden Ideologie von Personen, die vor dem Hintergrund dieser Ideologie Gewalt angewandt haben, berichtet worden sind, gibt es weder allgemeingültige individuelle Ursachen für gewalttätigen Islamismus noch das typische Profil eines Islamisten. Meist handelt es sich bei der Radikalisierung, unabhängig von ihrem phänomenologischen Inhalt, um ein Zusammenspiel von persönlichen und umweltbedingten Faktoren, die sich im zeitlichen Verlauf ständig ändern.

Der Begriff der Radikalisierung wird in der Literatur aus verschiedenen Gründen kritisiert: Der Begriff ist unpräzis und impliziert, dass radikale Gedanken mit radikaler Handlungsbereitschaft gleichzusetzen seien. Tatsächlich schreitet nur ein verschwindend kleiner Teil der Personen mit radikalen Gedanken zu einer extremistischen Gewalttat, und umgekehrt lässt sich nicht bei allen Personen, die die Handlungsschwelle überschritten haben, die Gewaltbereitschaft auf eine radikale Ideologie zurückführen. Weiter wird kritisiert, dass der Begriff der Radikalisierung eine Art Gehirnwäsche insinuiert, für die es empirisch keinen Nachweis gibt.

Von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wurde eine Vielzahl von Radikalisierungsmodellen entwickelt, um extremistisch motivierte Gewalthandlungen retrospektiv erklärbar zu machen. Im vorliegenden Beitrag sind einige der wichtigsten Modelle, die in der Forschung zu gewalttätigem Extremismus und Islamismus diskutiert werden, präsentiert worden. Dazu zählen die Social Identity Perspective (SIP), die von Marc Sageman auf den Phänomenbereich des gewalttätigen Extremismus übertragen worden ist, das Attitudes-Behavioral Corrective (ABC) Modell von James Khalil, das Zweipyramiden-Modell von Clark McCauley und Sophia Moskalenko, das Vierstufen-Modell von Randy Borum, das Treppenmodell von Fathali Moghaddam und das Significance-Quest-Modell von Arie Kruglanski et al. Alle Modelle haben ihre Stärken und Schwächen. Aus der Sicht der Autoren dieses Beitrags verdienen insbesondere die SIP und das ABC-Modell besondere Würdigung. Die SIP zeichnet sich v.a. durch die Berücksichtigung gruppendynamischer Prozesse aus, die nicht nur in der Theorie sehr plausibel erscheinen, sondern auch durch verschiedene Elemente, die in Feldstudien beobachtet worden sind. Wie die SIP geht auch das ABC-Modell davon aus, dass radikale Gedanken klar von tatsächlicher Gewaltanwendung separiert werden müssen. Überzeugend ist beim ABC-Modell weiter, dass zwischen strukturellen Motivatoren, individuellen Anreizen und fördernden Faktoren unterschieden werden muss, die sich im zeitlichen Verlauf ändern können.

In einer allgemeinen Kritik an bestehenden Radikalisierungsmodellen ist darauf hingewiesen worden, dass sie sich aufgrund der geringen Spezifität ihrer Merkmale wenig für Risikoeinschätzung bzgl. gewalttätigem Extremismus eignen. Weiter ist aufgezeigt worden, dass die Rational Choice Theory (RCT) – entgegen zahlreichen anderslautenden Ausführungen – dem theoretischen Konstrukt von „heiligen Werten“ und „devoted actors“, die insb. in der SIP postuliert werden, nicht widersprechen, da individueller Nutzen gewonnen wird, wenn Handlungen sozialen Normen spezifischer Gruppen entsprechen. Schliesslich ist der Fokus auf die Rolle der Ideologie von extremistischen Attentätern gerichtet worden. Zahlreiche Fachpersonen gehen wie automatisch davon aus, dass eine entsprechende Ideologie dem Motiv eines Attentäters entspricht. Die Forschung weist allerdings vielmehr darauf hin, dass der kausale Anteil der Ideologie am Prozess der Radikalisierung hin zum Überschreiten der Handlungsschwelle oft überbewertet ist.

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Fussnoten

Fussnoten
1 NDB, Sicherheit Schweiz 2022, Lagebericht des Nachrichtendienstes des Bundes, 39, abrufbar unter: <https://www.vbs.admin.ch/de/sicherheit/nachrichtenbeschaffung/gewaltextremismus.detail.document.html/vbs-internet/de/documents/nachrichtendienst/lageberichte/Lagebericht-NDB-2022-d.pdf.html>.
2 Silber/Bhatt, 1 ff.
3 Neumann, 4.
4 NDB, 2022, 39 f.
5 NDB, 2022, 43.
6 Europol, European Union Terrorism Situation and Trend Report 2022, 21 ff., abrufbar unter: <https://www.europol.europa.eu/publication-events/main-reports/european-union-terrorism-situation-and-trend-report-2022-te-sat>.
7 Nowrasteh.
8 Gov.Uk, National statistics. Reported road casualties in Great Britain, provisional estimates: year ending June 2021, abrufbar unter: <https://www.gov.uk/government/statistics/reported-road-casualties-in-great-britain-provisional-estimates-year-ending-june-2021/reported-road-casualties-in-great-britain-provisional-estimates-year-ending-june-2021>.
9 Europol, European Union Terrorism Situation and Trend Report 2019, 13; abrufbar unter: <https://www.europol.europa.eu/publications-events/main-reports/terrorism-situation-and-trend-report-2019-te-sat>; Europol, European Union Terrorism Situation and Trend Report 2021, 12 f., <https://www.europol.europa.eu/publication-events/main-reports/european-union-terrorism-situation-and-trend-report-2021-te-sat>.
10 Europol, 2022, 22.
11 NDB, Sicherheit Schweiz 2020, Lagebericht des Nachrichtendienstes des Bundes, 38 <https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-80848.html> (zit. NDB, 2020); Fumagalli, Nzz, 12 f.
12 In einer Umfrage des PEW Research Center aus dem Jahr 2017 bezeichneten 62% der Personen aus einer Stichprobe aus 38 Ländern den Islamischen Staat (IS) als die grösste aktuelle Gefahr. Dass in Frankreich und im Vereinigten Königreich 2017 sogar 88% bzw. 70% der Befragten den IS als grösste Gefahr identifizierten, zeigt, dass gerade in gewissen europäischen Ländern die Auswirkungen der Terroranschläge deutlich stärker zu sein schienen und Themen wie Klimawandel und Weltwirtschaft verdrängt wurden (Pousther/Manevich, 2 ff.).
13 Die Verfügbarkeitsheuristik ist eine kognitive Verzerrung, bei der man eine Entscheidung auf der Grundlage eines Beispiels, einer Information oder einer kürzlich gemachten Erfahrung trifft, die einem unmittelbar zur Verfügung steht, auch wenn es vielleicht nicht das beste Beispiel für die Entscheidung ist (Tversky/Kahneman, 207 ff.).
14 Ein weiterer Grund für die prominente Darstellung des Themas in der Presse besteht in der Vermischung unterschiedlicher Phänomene: Personen, die terroristische Organisationen ideologisch unterstützen, werden mit Personen, die im Ausland kämpfen wollen, aber niemals eine terroristische Operation im Inland durchführen würden, sowie mit den wenigen Personen, die tatsächlich auch bereit wären, ein terroristisches Attentat durchzuführen, in einen Topf geworfen. Damit erscheint die Zahl der „Terroristen“ erhöht, was die Presse entsprechend präsentiert (Sageman, Misunderstanding, 21).
15 Kahneman, 142.
16 Kahneman, 144; Marc Sageman hat festgehalten: „Engagierte Journalisten haben sich bei mir darüber beschwert, dass ihre Berichte (von der Redaktion) so bearbeitet wurden, dass sie ein negatives Bild der Verdächtigen zeichnen, um dem gängigen Stereotyp zu entsprechen. Solche Verzerrungen stellen die Zuverlässigkeit von fehlerhaften Zeitungsberichten als Quellen für die Terrorismusforschung in Frage.“ (Sageman, Political Violence, xii).
17 Weber/Rossegger/Endrass, 833; Bötticher, 73; Schmid, 158.
18 Für eine Liste verschiedener Definitionen: s. Borum, I, 12 f.
19 McGilloway/Ghosh/Bhui, 39.
20 Demichelis/Mezzetti, 266.
21 Pfahl-Traughber, 68.
22 NDB, 2022, 43.
23 Khalil/Horgan/Zeuthen, ABC, 1 ff.; Crettiez/Duclos, 52 f.
24 Schmid, 158 f.
25 Giustozzi, 33 ff.; Merari et al., 89; Sageman, Political Violence, 21; In einer Umfrage in 35 mehrheitlich islamischen Ländern mit 50’000 befragten Moslems, die statistisch repräsentativ waren für die 1,3 Milliarden Moslems weltweit, gaben 37% an, die terroristischen Attacken vom 11. September 2001 teilweise, weitgehend oder vollkommen gutzuheissen. Dies impliziert Hunderte von Millionen Moslems, die diese Angriffe zumindest teilweise billigten. Dem gegenüber stehen einige Tausend, die tatsächlich willens sind, terroristische Gewalt auszuüben. Dasselbe Phänomen ist in Europa zu beobachten, wo aus einer Population von ca. 20 Millionen Moslems weniger als 3’000 Personen aufgrund islamistischer Aktivitäten inhaftiert sind (Atran, Enemy, 57 f.; Esposito/Mogahed, 1 ff.).
26 Crettiez/Duclos, 1 ff.
27 Sageman, Political Violence, 9 f.
28 Das aus den 1970er Jahren stammende und dem US-amerikanischen Terrorismusforscher Brian Jenkins zugeschriebene Bonmot „Der Terrorist des einen ist der Freiheitskämpfer des anderen“ veranschaulicht dies (Berger/Weber, 2008, 14). So hat die westliche Welt beispielsweise einen afghanischen Mudschahed in den 1980er Jahren einen Freiheitskämpfer genannt, als er auf ihrer Seite war, ihn aber 20 Jahre später als Terroristen verurteilt, obwohl er immer noch genau das Gleiche tat: sein Land mit Gewalt gegen ausländische Invasoren zu verteidigen (Sageman, Political Violence, 10).
29 Amghar, 95 ff.
30 Dass ein Effekt durch Hirnwäsche intuitiv rasch einleuchtet, hängt möglicherweise mit ihrer übermässigen Repräsentation in Büchern und Filmen zusammen: Siehe beispielsweise den empfehlenswerten Politthriller „The Manchurian Candidate“ von John Frankenheimer oder die aktuelle französische Miniserie „Le Syndrome E“.
31 Sageman, Political Violence, 22.
32 Atran, Enemy, 50.
33 Introvigne, 1 ff.; Nuraniyah, 890; Bloom, 1 ff.; Gambetta, 1 ff.; Hafez, 1 ff.; Merari, 1 ff.; Pape, 1 ff.; Pedahzur, 1 ff.
34 Z.B. Thijssen et al., Background Characteristics.
35 Doering/Garth/Corrado, 1 ff.; Thijssen et al., Motivational Classes.
36 Sageman, Misunderstanding, 167 f.; Bartlett/Miller, 16.
37 Sageman, Misunderstanding, 80; Sageman, Political Violence, 44; Demichelis/Mezzetti, 227.
38 Khalil/Horgan/Zeuthen, ABC, 2; Khalil, 198.
39 Rapport, 1 ff.
40 McCauley/Moskalenko, Them and us, 280.
41 Gartenstein-Ross et al., 1.
42 Demichelis/Mezzetti, 227; Sageman, Misunderstanding, 80.
43 Campelo et al., 1 ff.
44 Campelo et al., 5.
45 Crettiez/Barros, 1 ff.
46 Crettiez/Barros, 16 ff.
47 Bakker/De Bont, 844 ff.
48 BKA, BfV, & HKE, 1 ff.
49 BKA, BfV, & HKE, 20.
50 Crenshaw, Explaining Terrorism, 73; Atran, Enemy, 328.
51 Stouffer et al., The American soldier II, 105 ff.
52 Sageman, Misunderstanding, 96 f.
53 Leader Maynard, 832.
54 Khalil/Horgan/Zeuthen, Clarifications, 6.
55 Atran, Enemy, 106; Sageman, Political Violence, 38; Endrass et al., 330 ; Endrass/Rossegger, Herausforderungen, 38.
56 Endrass et al., 328 ff.
57 Endrass et al., 333.
58 Endrass et al., 331 f.
59 Pressman, 1 ff.
60 Endrass/Rossegger
61 Piazza, 350; Goodwin, 2035.
62 Humphreys/Weinstein, 440.
63 Cretiez/Duclos, 50; Khalil/Horgan/Zeuthen, Clarifications, 4; Sageman, Misunderstanding, 105.
64 McGilloway/Ghosh/Kamaldeep, 39.
65 Van Stekelenburg, 1 ff.
66 Sageman, Political Violence, 6.
67 Atran, Enemy, 295; Haslam/Reicher/Reynolds, 201 ff.; Hornsey, 204 ff.; van Stekelenburg, 1 ff.; Sageman, Political Violence, 6.
68 Sageman, Misunderstanding, 113.
69 Kahneman, 19 ff.
70 Ysseldyk/Matheson/Anisman, 60 ff.; Atran, Enemy, 1 ff.; Graham/Haidt, 140.
71 Atran, Devoted Actor, 193.
72 Jackson/Hunsberger, 509 ff.; Irons, 1 ff.; Die Ergebnisse eines verhaltensökonomischen Experiments suggerieren, dass bei Muslimen dieser Effekt stärker ausgeprägt ist als bei chinesischen Buddhisten und Christen. Darüber hinaus haben die Forscher festgestellt, dass, je höher der Grad der Religiosität eines Gläubigen ist, desto höher auch das Ausmass ist, in dem er ein Mitglied der eigenen Gruppe in spieltheoretischen Versuchen favorisiert (Xia et al.).
73 Sageman, Misunderstanding, 117; Sageman, Political Violence, 17; Von Geheimdiensten wird der erste Schritt häufig als „Radikalisierung“, der zweite als „Mobilisierung“ bezeichnet (Sageman, Turn, 108).
74 Sageman, Political Violence, 29.
75 Nisbett/Cohen, 1 ff.
76 Sageman, Political Violence, 38.
77 Sageman, Political Violence, 41 f.
78 Della Porta, 252 ff.
79 Bargh/Gollwitzer/Oettingen, 288 f.; Sageman, Misunderstanding, 159 f.
80 Für einen Überblick der Entwicklung der RCT s. Green, 2002, 1 ff.; siehe unten, IV.1.
81 Sageman, Political Violence, 384.
82 Atran, Enemy, 344 f.; Gemäss Darwin bringen „sacred values“ zugunsten einer Gruppe selektive Vorteile: „(…) obwohl ein hoher moralischer Anspruch jedem einzelnen Mann und seinen Kindern nur einen geringen oder gar keinen Vorteil gegenüber den anderen Männern desselben Stammes verschafft, wird eine Zunahme der Zahl entschlossener Männer und eine Verbesserung der Moral sicherlich einen immensen Vorteil für einen Stamm gegenüber einem anderen bringen“ (Darwin, 166).
83 Sageman, Political Violence, 39.
84 McCauley/Moskalenko, Them and us, 205 ff.; siehe unten, III.3.
85 Khalil, 198 ff.
86 Khalil/Horgan/Zeuthen, ABC, 6.
87 Khalil/Horgan/Zeuthen, ABC, 7.
88 Khalil/Horgan/Zeuthen, ABC, 9; Dabei gilt das Prinzip der sog. „Equifinalität“, wonach ein bestimmter Endzustand (in diesem Fall sowohl die Sympathie für „gerechtfertigte Gewalt“ als auch ihre Beteiligung daran) von verschiedenen Faktoren oder Kombinationen von Faktoren bestimmt werden kann (Reidy, 1 ff.).
89 Levi 19 ff.; Moore 417 ff.
90 Allerdings ist es im ABC-Modell, das mit Grafiken arbeitet, schwierig, den aktuellen Zustand klar in Worten zu definieren, so wie dies beim Zweipyramiden-Modell mit der Bezeichnung der jeweiligen Schicht innerhalb einer Pyramide möglich ist.
91 Khalil/Horgan/Zeuthen, ABC, 17.
92 McCauley, 457.
93 McCauley/Moskalenko, Profile, 73; Stouffer et al., The American soldier I, 1ff.
94 McCauley/Moskalenko, How radicalization happens, 1 ff.; McCauley/Moskalenko, Profile, 69 ff.; McCauley/Moskalenko, Two-Pyramids, 205 ff.; Leuprecht et al., 42 ff.
95 McCauley/Moskalenko, How radicalization happens, 1 ff.; McCauley/Moskalenko, Profile, 70.
96 Crettiez/Duclos, 70; McCauley/Moskalenko, Profile, 70; McCauley/Moskalenko, How radicalization happens, 1 ff.
97 McCauley/Moskalenko, Profile, 73.
98 Crettiez/Duclos, 70; McCauley, 453.
99 McCauley/Moskalenko, Profile, 83.
100 Khalil/Horgan/Zeuthen, Clarifications, 1 ff.
101 Borum, Extremism II, 38 ff.; Borum, Understanding, 7 ff.
102 Khalil/Horgan/Zeuthen, ABC, 3 f.
103 Moghaddam, 161 ff.
104 Moghaddam, 162.
105 Moghaddam, 161.
106 Introvigne, 1 ff.; Nuraniyah, 890; Bloom, 1 ff.; Gambetta, 1 ff.; Hafez, 1 ff.; Merari, 1 ff.; Pape, 1 ff.; Pedahzur, 1 ff.
107 Khalil/Horgan/Zeuthen, ABC, 4.
108 Crettiez/Duclos, 70.
109 Kruglanski/Bélanger/Gunaratna, 93 ff.; Kruglanski et al., 69 ff.
110 Kruglanski et al., 69.
111 Atran, Enemy, 1 ff.
112 Kruglanski et al., 75.
113 Swann et al., Identity Fusion, 995 ff.
114 Kruglanski/Bélanger/Gunaratna, 93; Atran/Sheikh/Gomez, 17702 f.
115 Wittek, 1; Herfeld, 329; Fumagalli, 63.
116 Atran, Devoted Actor, 192.
117 Tetlock, 320 ff.; Dehghani et al., 540 ff. ; Ginges et al., 507 ff.
118 Atran, Devoted Actor, 192.
119 Identitätsfusion – die der Selbstkategorisierung in der SIP (siehe oben, III.1.) stark ähnelt, aber nicht exakt entspricht (Atran, Devoted Actor, 197) – tritt auf, wenn persönliche und Gruppenidentitäten zu einer einzigen Identität zusammenfallen, um ein kollektives Gefühl der Unbesiegbarkeit und besonderen Bestimmung zu erzeugen (Swann et al., Group Membership, 141 ff.).
120 Sheikh/Gomez/Atran, 204 ff.
121 Ginges/Atran, 115 ff.
122 Stanley, 48.
123 Sageman, Misunderstanding, 145 f.
124 Khalil/Horgan/Zeuthen, ABC, 12;
125 Hetzer, 3.
126 Akerlof/Kranton, 715 ff.
127 Kalin/Sambanis, 242.
128 Khalil/Horgan/Zeuthen, Clarifications, 3; Crenshaw, Suicide Terrorism, 153.
129 Sageman, Political Violence, 40 f.
130 Atran, Enemy, 245 f.
131 Khalil/Horgan/Zeuthen, Clarifications, 4.
132 Silber/Bhatt, 1 ff.
133 Sadowski et al., 336; Shamas/Arastu, 1 ff.