EuZ - Zeitschrift für Europarecht

Ausgabe 06 / 2023

Happy and Glorious? – Die interne Umsetzung des Brexit im Vereinigten Königreich

Tobias Lock*

Dass die Abwicklung des Brexit zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich eine politische und rechtlich schwierige und langwierige Affäre war, ist hinreichend dokumentiert. Aber welche Auswirkungen hatte der Brexit eigentlich im innerstaatlichen Recht? Die Wandlung vom EU-Mitgliedstaat in einen Drittstaat stellte die innerstaatliche Rechtsordnung vor enorme Herausforderungen, musste doch das EU-Recht in der Substanz erhalten werden, um Rechtslücken zu verhindern, aber gleichzeitig das Bedürfnis nach (vermeintlich) wiedererlangter Kontrolle über die eigene Rechtsordnung befriedigt werden. Die resultierenden innerstaatlichen politischen Spannungen hatten weitreichende Auswirkungen auf die ohnehin fragile Verfassungsordnung des Vereinigten Königreichs, welche in diesem Aufsatz nachvollzogen und diskutiert werden.

* Prof. Dr. Tobias Lock ist Inhaber eines Jean Monnet Lehrstuhls an der National University of Ireland, Maynooth, wo er nach Stationen in Edinburgh, London und Erlangen seit 2019 tätig ist. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im europäischen Verfassungsrecht und Grundrechtsschutz und vor allem auf den Interaktionen zwischen verschiedenen Rechtsordnungen im Mehrebenensystem. Er ist zudem Berater eines Ausschusses des schottischen Parlaments für Fragen des EU-Verfassungsrechts.

Inhalt

  1. Einleitung
  2. Die Abwicklung des Brexit im Aussenverhältnis zur EU
  3. Interne Umsetzung des Brexit
    1. Aufhebung des European Communities Act 1972
    2. Beibehaltung des Unionsrechts als „retained EU law“
    3. Nach der Reform ist vor der Reform: die Retained EU Law Bill
    4. Gesetzgebung zur Lückenfüllung
  4. Dem Brexit geschuldete weitere Verfassungsentwicklungen
    1. Volksabstimmungen
    2. EU-Recht und Rechtssicherheit
    3. Devolution
    4. Nordirland
    5. Zuwachs an Exekutivbefugnissen
  5. Zusammenfassung

A. Einleitung

Die Umsetzung der Volksabstimmung über einen Austritt aus der Europäischen Union (EU) vom 23. Juni 2016 stellte das Vereinigte Königreich vor enorme verfassungsrechtliche und völkerrechtliche Herausforderungen. Während sich ein Austritt aus der Europäischen Union in jedem Falle technisch schwierig darstellt, so haben die politischen Verhältnisse in Grossbritannien diese Aufgabe nochmals verschärft. Die Konsequenz waren und sind erhebliche verfassungsrechtliche Verwerfungen die zu einem starken Machtgewinn der Exekutive zu Lasten des Parlaments sowie zu einer stärkeren Zentralisierung im Vereinigten Königreich geführt habe.

Der vorliegende Beitrag erörtert zunächst überblicksartig die Abwicklung des Brexit im Aussenverhältnis mit der Europäischen Union. Dass sich diese Abwicklung über so lange Zeit und bis heute hinziehen würde, war wohl nicht absehbar. Darauf aufbauend beleuchtet der Beitrag die Auswirkungen des Brexit für die Verfassungsordnung des Vereinigten Königreichs. Es wird gezeigt, dass die oft beschworene Flexibilität der nicht kodifizierten und einfach gesetzlich geregelten Verfassung dazu genutzt wurde,[1]Bevor sie widerlegt werden, werden die Argumente gegen eine Kodifizierung gut zusammengefasst von Jeff King, The democratic case for a written constitution, Current Legal Problems (2019), 1. um die demokratische Kontrolle der Exekutive zu minimieren und eine Trendwende weg von der Dezentralisierung hin zu einer Re-zentralisierung der Gesetzgebungsgewalt und der regulatorischen Gestaltungsmacht herbeizuführen.

B. Die Abwicklung des Brexit im Aussenverhältnis zur EU

Der Austritt eines Mitgliedstaates aus der Europäischen Union vollzieht sich nach Massgabe des Art. 50 EUV. Danach kann jeder Mitgliedstaat durch einseitige Erklärung gegenüber dem Europäischen Rat aus der EU austreten. Die Austrittserklärung setzt eine zweijährige Frist zur Aushandlung eines Austrittsabkommens in Gang. Sollte es innerhalb der zwei Jahre nicht zum Abschluss eines solchen Abkommens kommen und sollte die Verhandlungsfrist nicht gemäss Abs. 3 einstimmig vom Europäischen Rat im Einvernehmen mit dem austretenden Mitgliedstaat verlängert worden sein, so kommt es zum Austritt ohne Abkommen. Im Fall des Vereinigten Königreichs hatte sich dafür der Terminus „no deal-Brexit“ eingebürgert. Nach Abgabe der Austrittserklärung und vor Ablauf der Verhandlungsfrist bzw. vor Abschluss des Austrittsabkommens kann der betreffende Mitgliedstaat laut Rechtsprechung des EuGH die Austrittserklärung einseitig widerrufen.[2]EuGH, Urt. v. 10.12.2018, Rs. C-621/18, ECLI:EU:C:2018:999. Kommt es zum Austrittsabkommen, muss dieses vom Rat mit qualifizierter Mehrheit nach Zustimmung des Europäischen Parlaments beschlossen werden. Zu beachten ist, dass aufgrund der begrenzten Kompetenzen der EU dieses Austrittsabkommen nur die Modalitäten des Austritts selbst beinhalten kann.[3]S. Wortlaut des Art. 50 Abs. 2 EUV. Die Regelung der künftigen Beziehungen nach dem Austritt muss hingegen auf anderer Rechtsgrundlage – vor allem auf Grundlage der gemeinsamen Handelspolitik, Art. 207 AEUV, bzw. durch Abschluss eines Assoziierungsabkommens, Art. 217 AEUV – erfolgen.

Im Fall des Vereinigten Königreiches erfolgte der politische Beschluss über den Austritt in einer am 23. Juni 2016 abgehaltenen Volksabstimmung. Dabei stimmten rund 52% der Abstimmenden für den Austritt. Dem folgte dann am 29. März 2017 die offizielle Austrittserklärung durch die britische Regierung gegenüber dem Europäischen Rat. Im Hinblick auf die Austrittsverhandlungen formulierte die EU zunächst drei Hauptziele: die Wahrung der Rechte von EU-Bürgerinnen und Bürgern, die von ihren Freizügigkeitsrechten Gebrauch gemacht hatten; die Klärung der finanziellen Verbindlichkeiten des Vereinigten Königreichs gegenüber der EU; und die Bewahrung des Friedensprozesses in Nordirland durch Vermeidung einer harten Grenze zwischen dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland und dem EU-Mitgliedstaat Irland.[4]Leitlinien des Europäischen Rates vom 29. April 2017, <https://www.consilium.europa.eu/media/21746/29-euco-art50-guidelines-de.pdf>. Das Vereinigte Königreich formulierte seine eigenen Richtlinien, die vor allem eine möglichst komplette Herauslösung des Vereinigten Königreichts aus der Einflusssphäre des EU-Rechts zum Ziel hatten. Dabei ging es insbesondere um die Wiedererreichung kompletter wirtschaftlicher Souveränität, konkret um ein Verlassen des EU-Binnenmarktes mit seinen vier Grundfreiheiten und der EU-Zollunion. Gleichzeitig betonte die damalige Premierministerin, dass ihr an der Sicherung der Rechte von EU-Bürgerinnen und Bürgern im Vereinigten Königreich ebenso viel gelegen sei wie der EU; und sie betonte, dass auch sie eine harte Grenze – definiert als jegliche Abwesenheit von Grenzinfrastruktur – auf der Insel Irland anstrebe.[5]Rede der Premierministerin Theresa May in Florenz vom 22. September 2017, … Continue reading

Die Austrittsverhandlungen gestalteten sich als schwierig, vor allem wegen der Nordirlandfrage. Hier erwiesen sich die Verhandlungsziele des Vereinigten Königreichs als in sich widersprüchlich. Das Versprechen, die Grenze auf der Insel Irland ohne jegliche Infrastruktur zu belassen – worauf auch die EU bestand – war nicht mit dem Ziel vereinbar, dass das gesamte Vereinigten Königreich (inklusive Nordirland) sowohl die Zollunion als auch den Binnenmarkt (für Waren) verlassen würde. Also verhandelte Premierministerin May einen Kompromiss, der in einem ersten Entwurf des Protokolls zu Irland-Nordirland enthalten war. Dieser enthielt den sog. Backstop, wonach das Vereinigte Königreich so lange Teil der EU-Zollunion und Nordirland im Binnenmarkt für Waren bleiben sollten bis dies – aufgrund eines weitreichenden und noch zu verhandelnden Abkommens über die künftigen Handelsbeziehungen – nicht mehr nötig sein würde. Dieser Kompromiss konnte aber im britischen Parlament – das sich zuvor selbst per Gesetz ein Widerspruchsrecht gegeben hatte[6]European Union (Withdrawal) Act 2018, <https://www.legislation.gov.uk/ukpga/2018/16/contents/enacted>. – keine Mehrheit finden, was letztendlich den Rücktritt der Premierministerin zur Folge hatte. Interessanterweise kam die Opposition vor allem aus den eigenen Reihen der Regierung: eine Gruppe europaskeptischer Konservativer und die nordirische Democratic Unionist Party (DUP)[7]Democratic Unionist Party, eine Partei, die vor allem der britischen Krone gegenüber loyale Protestanten vertritt; zu deren Entwicklung s. Jonathan Tonge u.a., The Democratic Unionist Party: From … Continue reading stimmten erfolgreich dagegen und brachten damit das gesamte Austrittsabkommen zum Fall, da das Protokoll davon nicht losgelöst werden konnte.

Anschliessend kam es zum Wechsel an der Regierungsspitze. Boris Johnson, einer der Anführer der Brexit-Bewegung, wurde zum Parteichef der Konservativen gewählt und daraufhin Premierminister. Er führte Nachverhandlungen durch, die vor allem zu Änderungen des Protokolls zu Irland und Nordirland führten, welches seiner Vorgängerin zum Verhängnis geworden war. Danach sollten einzelne Aspekte des EU-Rechts – vor allem das Zollrecht, das Recht über den Warenverkehr, insbesondere Produktmindeststandards, das Mehrwertsteuerrecht, aber auch das Energie- und Beihilfenrecht – in Nordirland weiter Anwendung finden. In der Praxis hat dies eine Zoll- und Regulierungsgrenze im Warenverkehr zwischen Grossbritannien und Nordirland zur Folge, welche bis zum heutigen Tag zu politischen Schwierigkeiten zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich, aber auch innerhalb des Vereinigten Königreichs führt.

Nach gewonnenen Neuwahlen, die als politisches Mandat für das nachverhandelte Austrittsabkommen dienten, wurde dieses schliesslich – nach insgesamt dreimaliger Verlängerung der Verhandlungsfrist – im Januar 2020 vom britischen Parlament ratifiziert.[8]Zum Austrittsabkommen s. Tobias Lock, Von Komplexität und politischem Kompromiss: das Austrittsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich. Zeitschrift für … Continue reading Ebenso erfolgte im Januar 2020 die Ratifikation durch die EU, so dass am 31. Januar 2020 das Vereinigte Königreich der erste Mitgliedstaat wurde, der aus der EU ausgetreten war.

Damit kam es allerdings noch nicht zu einem Ende der Geltung des EU-Rechts im Vereinigten Königreich. Da ein Abkommen über die künftigen Wirtschaftsbeziehungen noch nicht verhandelt war, hatten die EU und das Vereinigte Königreich im Austrittsabkommen einen Übergangszeitraum vereinbart. Während des Übergangszeitraums war das Vereinigte Königreich verpflichtet, das EU-Recht wie ein Mitgliedstaat noch bis Ende des Jahres 2020 anzuwenden.

Das Abkommen über Handel und Zusammenarbeit wurde anschliessend unter erheblichem politischen Druck in Rekordzeit von wenigen Monaten verhandelt. Hintergrund war das bevorstehende Ende des Übergangszeitraums mit Ablauf des Jahres 2020. Wäre es nicht zu einem Handelsabkommen gekommen, hätte sonst ein sog. „no trade deal-Brexit“ stattgefunden, der wirtschaftlich schwierig geworden wäre.

Das Abkommen über Handel und Zusammenarbeit wurde schliesslich Ende Dezember 2020 auf der Grundlage von Art. 217 AEUV als Assoziierungsabkommen abgeschlossen. Inhaltlich ist es – gemessen an sonstigen neueren Handelsabkommen der EU – wenig ambitioniert. Das Herzstück des Abkommens bilden die Vorschriften über den Warenhandel. Da sich die britische Regierung allerdings unter keinen Umständen zu einer Bindung des Vereinigten Königreichs an Unionsrecht verpflichten wollte, bauen die Regelungen auf klassischen Prinzipien des Welthandelsrechts auf und gehen kaum über ein Verbot von mengenmässigen Beschränkungen und eine Beibehaltung der Zollfreiheit hinaus. Nicht durchsetzen konnten sich ambitionierte Regeln zur gegenseitigen Anerkennung von Konformitätsbewertungen, wie sie etwa das Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada vorsieht. Der Handel mit Dienstleistungen ist darüber hinaus äusserst rudimentär geregelt.

Der aus dem Abkommen resultierende geringe Grad an wirtschaftlicher Integration hat auch Auswirkungen auf das Protokoll zu Irland-Nordirland. Wie bereits erwähnt, sieht dieses eine weitgehende Integration Nordirlands in den Binnenmarkt für Waren und in die EU-Zollunion vor. Daraus folgt, dass der Warenhandel zwischen Grossbritannien und Nordirland zollrechtliche und regulatorische Hürden überwinden muss. Zwar enthält das Protokoll eine Regel, wonach Waren, die lediglich für Nordirland bestimmt sind hiervon ausgenommen sind, jedoch wird diese Regel durch eine Ausnahmeregelung in der Praxis ausgeschaltet. Denn sobald das Risiko besteht, dass die Ware nach Import nach Nordirland „selbst oder nach Veredelung als Teil einer anderen Ware in die Union verbracht werden“ könnte, fallen EU Zölle an und müssen auch den EU-Mindeststandards entsprechen.[9]Art. 5 Abs. 1 des Nordirlandprotokolls. Da das Abkommen über Handel und Zusammenarbeit gerade keine Zollunion und auch keine gegenseitige Anerkennung von Produktstandards vorsieht, bedeutet das, dass der Warenverkehr von Grossbritannien nach Nordirland eine Zollgrenze und eine regulatorische Grenze in der irischen See überquert, so dass Lieferungen von Ost nach West über die irische See zollrechtlichen und regulatorischen Kontrollen unterliegen, obwohl diese innerhalb desselben Staates – des Vereinigten Königreichs – erfolgen.

Obwohl das Austrittsabkommen vom britischen Parlament mit Mehrheit der Regierungspartei verabschiedet worden war, wurde das Protokoll, das innerhalb Nordirlands umstritten war, schon bald wieder zum Zankapfel zwischen EU und Vereinigtem Königreich. Die britische Regierung zeigte sich überrascht angesichts des Ausmasses von Warenkontrollen im Warenverkehr zwischen Grossbritannien und Nordirland sowie einiger Importbeschränkungen aufgrund in Nordirland geltenden EU-Rechts (etwa was frisches Hackfleisch anging).[10]Zu diesen sog. Sausage wars s. Billy Melo Araujo, „All you need to know about the Northern Ireland sausage war“, RTÉ Brainstorm, … Continue reading Die von der britischen Regierung angestrengten Nachverhandlungen verliefen zäh, da sich die EU nicht auf Änderungen des Protokolls einlassen wollte, die britische Regierung solche aber für unabdingbar erklärte und weitere für die EU nicht erfüllbare Forderungen aufstellte.[11]Etwa die Forderung, dass der EuGH keine Rolle mehr bei der Auslegung des im Protokoll enthaltenen EU-Rechts spielen sollte, was verfassungsrechtlich für die EU nicht akzeptabel war, s. etwa die … Continue reading

Eine Lösung ergab sich erst nachdem Boris Johnson’s Nach-nachfolger Rishi Sunak als Premierminister die Verhandlungen mit einer neuen Ernsthaftigkeit und Seriosität zu betreiben begann. Das sog. Windsor Framework vom Februar 2023 resultierte in einer Revision des Protokolls, die vor allem Warenkontrollen für Waren, die ausschliesslich für den nordirischen Markt gedacht sind, auf nahe Null reduziert.[12]Das Windsor Framework setzt sich aus vom Gemeinsamen Ausschuss (Austrittsabkommen) erlassenen Entscheidungen, EU Rechtsakten, gemeinsamen und einseitigen politischen Erklärungen und Empfehlungen … Continue reading Inwiefern das Windsor Framework den Endpunkt der Brexit-Verhandlungen markiert, ist noch nicht abzusehen.

C. Interne Umsetzung des Brexit

Um den Austritt aus der Europäischen Union auch innerstaatlich zu vollziehen, ohne dabei Lücken in der Rechtsordnung entstehen zu lassen, waren im Vereinigten Königreich weitreichende gesetzliche Änderungen sowie neue Gesetzgebung notwendig.

I. Aufhebung des European Communities Act 1972

Der erste Schritt hierzu sollte die Aufhebung des European Communities Act 1972 (ECA 1972) sein. Der ECA 1972 erfüllte in der dualistischen Rechtsordnung des Vereinigten Königreichs zwei Hauptfunktionen: zum einen diente er der Umsetzung der EU-Verträge in innerstaatliches Recht und ermöglichte es damit, dass das EU-Recht in den Rechtsordnungen des Vereinigten Königreichs unmittelbar geltend und wirksam sein konnte und Anwendungsvorrang genoss.[13]Section 2 (1) European Communities Act 1972. Zum anderen enthielt er eine weitreichende Rechtsgrundlage für den Erlass von Verordnungen zur Umsetzung von EU-Richtlinien. Die Aufhebung des ECA 1972 war demnach ein entscheidender Schritt, um die Wirkung des Unionsrechts im Vereinigten Königreich zu beenden. Sie erfolgte durch den European Union (Withdrawal) Act 2018 (EUWA 2018) und zwar mit Effekt vom Austrittstag („exit day“), der zu dem Zeitpunkt mangels eines Austrittsabkommens, noch nicht feststand. Der Austrittstag fiel schliesslich auf den 31. Januar 2020. Darauf folgte unmittelbar der sogenannte Übergangszeitraum, während dessen das Unionsrecht im grossen und ganzen weitergelten sollte. Diesem Ziel hätte eine ersatzlose Aufhebung des ECA 1972 widersprochen. Daher wurde durch den European Union (Withdrawal Agreement) Act 2020, der das Austrittsabkommen ratifizierte, eine weitere Vorschrift in den EUWA 2018 eingefügt, wonach zwar der ECA 1972 aufgehoben wurde, er aber seine Wirkungen weiter entfalten sollte. Diese gesetzgeberische Akrobatik war nötig, um die politische Symbolhaftigkeit der Aufhebung des ECA 1972 nicht zu unterminieren. Denn letztlich hatte die Regierung einen grossen Erfolg zu verkünden, der durch Aufhebung des ECA 1972 markiert wurde: der Brexit war (endlich) geschafft, auch wenn seine konkreten Rechtsfolgen erst einige Monate später nach Ende des Übergangszeitraums eintreten würden.

II. Beibehaltung des Unionsrechts als „retained EU law“

Aber auch nach Ende des Übergangszeitraums bestand ein Bedürfnis nach rechtlicher Kontinuität. Denn eine ersatzlose Aufhebung des ECA 1972 hätte erhebliche Lücken in der Rechtsordnung zur Folge gehabt. Sämtliches unmittelbar wirksames bzw. geltendes Unionsrecht wäre über Nacht nicht mehr Teil der britischen Rechtsordnungen gewesen. Das hätte vor allem EU-Verordnungen betroffen (etwa die bekannte Datenschutzgrundverordnung, aber auch unzählige agrarrechtliche und lebensmittelrechtliche Verordnungen, die für den Alltag von grosser Bedeutung sind). Zusätzlich wären die meisten ins britische Recht umgesetzten EU-Richtlinien nunmehr ohne formalgesetzliche Grundlage. Denn die Umsetzungspraxis von Richtlinien im Vereinigten Königreich hatte vor allem von der allgemeinen Ermächtigungsgrundlage des ECA 1972 Gebrauch gemacht. Nur in Ausnahmefällen waren Richtlinien in formelles Gesetzesrecht umgesetzt worden, was vor allem daran gelegen haben dürfte, dass den auf dem common law basierenden Rechtsordnungen des Vereinigten Königreichs Kodifizierungen weitgehend fremd sind. Daher wurden Richtlinien zumeist durch Einzelrechtsake in der Form von auf dem ECA 1972 basierenden Verordnungen umgesetzt.

Da es schlichtweg nicht praktikabel war, die europarechtlichen Regelungen kurzfristig durch einheimische Neuregelungen zu ersetzen, musste der Gesetzgeber also sicherstellen, dass die durch die Aufhebung des ECA 1972 geschaffenen Lücken anderweitig geschlossen würden bzw. gar nicht erst entstünden. Dies geschah durch die Schaffung einer neuen Kategorie von Rechtsquelle, dem sog. „retained EU law“.

Das „retained EU law“ wurde ebenfalls durch den EUWA 2018 eingeführt, der das bisherige EU-Recht damit „domestizierte“, also auf eine nationalrechtliche Grundlage stellte. Dies sollte, nach dem Willen der Regierung, aber nur ein erster Schritt sein. In einem zweiten Schritt sollte dieses dann, gegebenenfalls nach Reflexion durch Regierung und Gesetzgeber, entweder aufgehoben und ggf. ersetzt oder an die veränderte Rechtslage nach dem Brexit angepasst werden können.

Im ersten Schritt, der eigentlichen Domestizierung von EU-Recht, unterscheidet der EUWA zwischen drei Hauptkategorien: vom EU-Recht abgeleitete Gesetze (EU-derived domestic legislation), also hauptsächlich umgesetzte Richtlinien; unmittelbar geltende EU-Gesetzgebung (direct EU legislation), also hauptsächlich EU-Verordnungen; und eine Auffangkategorie für alles unmittelbar wirkende EU-Recht, also hauptsächlich unmittelbar wirksames EU-Primärrecht, inklusive der allgemeinen Rechtsgrundsätze, und nicht umgesetzte, aber unmittelbar wirksame Richtlinien. Die Einordnung einer Vorschrift in die Kategorie „retained EU law“ hat vor allem deswegen Bedeutung, weil dieses denselben Status wie EU-Recht in den Rechtsordnungen des Vereinigten Königreichs geniessen sollte. Das bedeutet, dass das „retained EU law“ Anwendungsvorrang vor nationalem Recht behielt, sofern dieses vor dem Ende des Übergangszeitraums in Kraft getreten war.

Weiterhin ist „retained EU law“ gemäss der Methoden des EU-Rechts und anhand der Rechtsprechung des EuGH auszulegen, sofern das Urteil vor Ende des Übergangszeitraums erlassen wurde, wobei die höchsten Gerichte nicht an dieses gebunden sind und nach denselben Regeln von den Urteilen des EuGH abweichen dürfen, nach denen sie von ihren eigenen Entscheidung abweichen können.

Bemerkenswert sind noch die Ausnahmen von der Domestizierung: zum einen steht im britischen Recht der europarechtliche Staatshaftungsanspruch nun nicht mehr zur Verfügung.[14]European Union (Withdrawal Act) 2018, Schedule 1, § 1. Zum anderen ist auch die EU-Grundrechtecharta nicht domestiziert worden, wobei aber die Grundrechte, die als ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze im Unionsrecht gelten und sich inhaltlich kaum bis gar nicht von der Charta unterscheiden, ausdrücklich beibehalten werden sollen. Dass dies wenig rechtlichen Sinn ergibt, muss kaum ausdrücklich erwähnt werden. Vielmehr ist diese Entscheidung eine rein politisch-symbolische Geste, zu der sich die Regierung gezwungen sah, um die relative weitreichende Domestizierung des Unionsrechts für die EU-Skeptiker in den eigenen Reihen bekömmlicher zu machen.

Dabei sollte nicht vergessen werden, dass die Domestizierung des EU-Rechts durch den EUWA 2018 einen rationalen Hintergrund hatte. Durch nationalrechtliche Kontinuität sollte der Brexit europarechtlich abgewickelt werden, ohne gleichzeitig in der nationalen Rechtsordnung für Unsicherheit zu sorgen. Das Vereinigte Königreich sollte also – ganz im (zumindest offiziell verlautbarten) Sinne der Brexitbefürworter – demokratisch, souverän und in Ruhe entscheiden können, wie sich das nationale Recht in Zukunft entwickeln sollte.

Nichtsdestotrotz enthält der EUWA 2018 weitreichende Ermächtigungen für die Exekutive, um auf dem Verordnungsweg „retained EU law“ ändern zu können. Bei einer Bewertung dieser Ermächtigungen ist zunächst zuzugestehen, dass nicht das gesamte EU-Recht unverändert in einem früheren Mitgliedstaat weitergelten kann. Es müssen gewisse Anpassungen vorgenommen werden, etwa durch Streichung von Berichtspflichten an die Europäische Kommission oder auch die Streichung der Vorschriften über die Personenfreizügigkeit, wenn diese europarechtlich nicht mehr auf das Vereinigte Königreich Anwendung findet.

Allerdings gehen die Verordnungsermächtigungen im EUWA 2018 über die beschriebenen Kompetenzen zur Bereinigung des „retained EU law“ hinaus. Vielmehr enthält der EUWA 2018 weitreichende sog. „Henry VIII powers“. Damit sind – in Anlehnung an die von dem englischen König Heinrich VIII. bevorzugte Praxis der Rechtssetzung per Proklamation anstelle durch den parlamentarischen Prozess – Verordnungsermächtigungen gemeint, die die Regierung dazu befähigen auch formales Gesetzesrecht – also Parlamentsgesetze – zu ändern oder gar aufzuheben. Hinzu kommt, dass diese Verordnungsermächtigungen im EUWA 2018 die Regierung mit einer weitgehenden Einschätzungsprärogative ausstatten. Danach kann die Regierung im Hinblick auf das „retained EU law“ solche Vorschriften erlassen, die ein Minister „für angemessen hält, um zu verhindern, dass ‚retained EU law‘ effektiv funktioniert oder um jedes andere Defizit im ‚retained EU law‘ zu verhindern, heilen oder abzumildern“.[15]European Union (Withdrawal Act) 2018, section 8: „A Minister of the Crown may by regulations make such provision as the Minister considers appropriate to prevent, remedy or mitigate (a)any … Continue reading Zwar ist der Begriff Defizit noch näher definiert, aber er umfasst trotzdem eine weitreichende Befugnis, existierendes Gesetzesrecht zu ändern oder ganz aufzuheben.

III. Nach der Reform ist vor der Reform: die Retained EU Law Bill

Mit Verabschiedung des EUWA 2018 bewahrte das Vereinigte Königreich trotz der durch den Brexit unvermeidbaren rechtlichen Umbrüche ein gewisses Mass an Kontinuität und Rechtssicherheit. Jedoch störten sich manche in der damaligen Regierung an der faktischen Weitergeltung des Unionsrechts, so dass Ende 2022 ein weiteres Reformvorhaben auf den Weg gebracht wurde: die Retained EU Law Bill – die zuvor unter dem griffigen Titel „Brexit Freedoms Bill“ angekündigt worden war.[16]Pressemitteilung der britischen Regierung v. 22.9.2022 mit dem Titel: „UK government to set its own laws for its own people as Brexit Freedoms Bill introduced“, … Continue reading Ziel des Gesetzesvorhabens ist es, das „retained EU law“, das als systemfremd angesehen wird, so weit wie möglich aus der Rechtsordnung zu entfernen.

Anstatt dies aber auf Grundlage einer Bewertung im Einzelfall Stück-für-Stück zu tun, hatte sich die Regierung in ihrem Gesetzesentwurf zunächst für einen tabula rasa-Ansatz entschieden. Laut einer Auslaufklausel (sog. sunset clause) sollte sämtliches „retained EU law“ zum 31. Dezember 2023 aufgehoben werden. Die einzige Ausnahme bildete „retained EU law“ in der Form von förmlichen Parlamentsgesetzen, etwa der Equality Act 2010, der die EU-Antidiskriminierungsrichtlinien kodifiziert. Diese Regelung hätte zur Folge gehabt, dass ein erhebliches Mass and Rechtsunsicherheit entstanden wäre, da die Kategorisierung einzelner Vorschriften als „retained EU law“ nicht immer eindeutig ist. Zudem wären durch dieses Vorgehen erhebliche Regelungslücken entstanden, da das „retained EU law“, wie oben ausgeführt, nach wie vor wichtige regulatorische Funktionen erfüllt. Hinzu tritt, dass die Regierung bis dato keine abschliessende Liste des als „retained EU law“ zu klassifizierenden Rechts produzieren konnte, so dass manche Gesetzeslücke in Folge der Retained EU Law Bill womöglich erst im Nachhinein entdeckt worden wären.

Aus diesen Gründen sah sich der Gesetzesentwurf erheblicher Kritik ausgesetzt. Im Mai 2023 nahm die Regierung dann auch von dem tabula rasa-Ansatz Abschied und schlug eine Liste von ca. 600 Einzelakten vor, die zum Ende des Jahres 2023 aufgehoben werden sollten. Das übrige „retained EU law“ sollte in Kraft bleiben, aber dennoch seinen besonderen Status verlieren. Auch hierbei ist eine Verschiebung der Gestaltungsmacht von Legislative auf Exekutive zu konstatieren. Auf letztere werden erhebliche Kompetenzen (und erhebliches Ermessen) übertragen, um etwa den besonderen Status des retained EU law (insb. dessen Anwendungsvorrang) beizubehalten.

IV. Gesetzgebung zur Lückenfüllung

Obwohl das Vereinigte Königreich viele der durch den Brexit entstehenden Lücken in der Rechtsordnung durch den Kontinuitätsansatz im EUWA 2018 schliessen konnte, entstanden Regelungslücken in den Bereichen, in denen das EU-Recht bisher eine zentrale Rolle spielte und die – aufgrund der seit Ende des Übergangszeitraums fehlenden Einbindung des Vereinigten Königreichs in den Binnenmarkt und die Politiken der Union – nicht einseitig geschlossen werden konnten. Daher musste sich das Vereinigte Königreich in diesen Feldern für eigenständige Politikansätze entscheiden und entsprechende nationale Regelungen erlassen. Dies tat es auch, vor allem im Bereich der Landwirtschaft (Agriculture Act 2020), des Fischereiwesens (Fisheries Act 2020), der internationalen Handelsbeziehungen (Trade Act 2021) und des Zollwesens (Taxation (Cross-border Trade) Act 2018). In all diesen Bereichen orientiert sich die Politik stark an den Ansätzen im EU-Recht. So hat das Vereinigte Königreich etwa keine wesentlichen Abweichungen von den EU-Zolltarifen beschlossen.

Ein weiteres Problem, das der EU-Austritt offenlegte, war die Gestaltung des internen Marktes des Vereinigten Königreichs. Hierbei konnte aufgrund historischer Entwicklungen kaum auf altes, vor dem EU-Beitritt im Jahre 1973 geltendes Recht bzw geltende Politikansätze zurückgegriffen werden, da das Problem der Organisation eines internen Marktes zu dem Zeitpunkt – vielleicht mit einigen wenigen Ausnahmen im Falle Nordirlands – kaum bis gar nicht existierte. Der Grund dafür war die teilweise Aufweichung der Zentralstaatlichkeit durch Einführung der Devolution in Schottland und Wales sowie der Wiedereinsetzung einer Regierung für Nordirland nach dem Ende des Nordirlandkonflikts um die Jahrtausendwende.

Während Nordirland seit seiner Gründung im Jahr 1921 bis zur Einführung der Direktregierung durch London aufgrund des Nordirlandkonflikts im Jahr 1972, seine eigene Regierung und eigenes Parlament hatte, waren Wales und Schottland seit jeher von London aus regiert worden. Dies änderte sich nach Durchführung von Volksabstimmungen durch die neugewählte Labour-Regierung im Jahr 1997. Diese führte zu einer sog. Devolution von Kompetenzen und der Gründung von eigenen Parlamenten für Schottland und Wales sowie der Einsetzung schottischer und walisischer Regierungen.[17]Die Devolution nach Wales erstreckte sich zunächst nur auf Verwaltungskompetenzen, d.h. die walisische Regierung war zur Verordnungsgabe ermächtigt, das walisische Parlament aber nicht zur … Continue reading Devolution bedeutet – im Unterschied zum Föderalismus – dass die Landesteile zwar Gesetzgebungskompetenzen innehaben, diese jedoch nicht auf ihrer eigenen Staatlichkeit bzw. Restsouveränität beruhen, sondern von der Zentralgewalt, d.h. dem Vereinigten Königreich, abgeleitet sind. Das hat zwei praktische Konsequenzen: erstens können die übertragenen Kompetenzen jederzeit einseitig durch einfaches Gesetz geändert bzw. ganz zurückgenommen werden. Dies ist zumindest rein rechtlich betrachtet der Fall; ob es politisch möglich ist, soll hier nicht weiter besprochen werden. Zweitens sind die übertragenen Kompetenzen nicht exklusiv, sondern bestehen parallel zu den Kompetenzen der Zentralgewalt. Das bedeutet, dass das britische Parlament nach wie vor in den übertragenen Kompetenzbereichen tätig werden kann und etwa vom schottischen Parlament erlassene Gesetze abändern oder aufheben kann. Das wird in der Regel dadurch vermieden, dass in den besagten Kompetenzbereichen – etwa im Gesundheits- oder Erziehungswesen – Gesetze des Parlaments in London explizit nur auf England anwendbar gemacht werden. Nordirland folgt nach Wiedereinführung der Selbstregierung nach der Volksabstimmung über das Karfreitagsabkommen im Jahr 1998 einem ähnlichen Modell.

Die Problematik des internen Marktes des Vereinigten Königreichs rührt nun daher, dass die mit Gesetzgebungsgewalt versehenen Landesteile Kompetenzen in Bereichen haben, die theoretisch zu Marktzugangshürden führen können. So haben sie etwa umweltrechtliche Kompetenzen (z.B. bezüglich umweltrechtlicher Mindeststandards für Waren), aber auch Kompetenzen im Bereich der Erziehung (etwa was Lehrerqualifikationen angeht) oder im Bereich des Lebensmittelrechts. Diese waren bisher grösstenteils[18]Abgesehen von den genannten Lehrerqualifikationen, die ja zwischen England und Schottland einen Fall der Inländerdiskriminierung dargestellt hatten. vom Europarecht abgedeckt, so dass es kaum zu unterschiedlichen Regelungen kommen konnte.

Das hat sich mit dem Brexit geändert, so dass der Gesetzgeber sich gezwungen sah, eigene Regelungen für den internen Markt des Vereinigten Königreichs einzuführen. Dies geschah durch den Internal Market Act 2020.

Dieser orientiert sich dogmatisch an den EU-Grundfreiheiten, indem er die Herkunftsdiskriminierung verbietet und den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung – im EU-Recht bekannt seit der Rechtssache Cassis de Dijon[19]EuGH, Urt. v. 20.2.1979, Rs. 120/78, ECLI:EU:C:1979:42. – kodifiziert. Im Unterschied zum Unionsrecht jedoch wird letzterer nicht von denselben Rechtfertigungsgründen begleitet, d.h. es gibt keine ungeschriebenen – und damit inhaltsoffenen – zwingenden Erfordernissen des Allgemeinwohls. Hinzu kommt, dass die geschriebenen Rechtfertigungsgründe im Gegensatz zu Art. 36 AEUV äusserst eng gehalten sind. Der Internal Market Act 2020 selbst sieht dann Ausnahmen vor, wenn eine Gefahr für die Gesundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen besteht. Dabei ist die Regelung eng gehalten und kann nur eingreifen, wenn etwa eine bestimmte Krankheit (etwa die Maul- und Klauenseuche) in einem Landesteil existiert, aber nicht in dem anderen. Weiter reichende Ausnahmen, etwa weil ein Landesteil höhere Umweltstandards befürwortet als die anderen, sind nicht möglich, es sei denn mit Zustimmung der Zentralregierung, die solche Ausnahmen im Verordnungsweg zulassen kann. Dazu kommt es u.a. dann, wenn sich die vier Regierung auf sog. gemeinsame Rahmenbedingungen (common frameworks) geeinigt haben.[20]Scottish Parliament Information Centre, „From single-use plastics to the deposit return scheme: How are Common Frameworks and UK Internal Market Act exclusion processes operating?“, … Continue reading Dies geschah bisher einmal im Fall des Verbots von Einweg-Kunststoffen in Schottland, das in der Form in den anderen Landesteilen nicht existiert. Erst durch eine Verordnung der Zentralregierung wurde dieses Verbot vor dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung geschützt.[21]Ebd.

Dieses Beispiel illustriert gut die weiter reichende verfassungsrechtliche Kritik am Internal Market Act 2020. Schottland hatte von seiner umweltpolitischen Kompetenz Gebrauch gemacht und Einweg-Kunststoffe (etwa Einweg-Plastikbecher) verboten. Diese Regelung wäre aber aufgrund des Internal Market Acts leicht zu unterlaufen gewesen, indem man diese Produkte statt über einen schottischen Produzenten nun über einen englischen oder walisischen Produzenten bezogen hätte. Eine Aushöhlung der Kompetenz wäre die Folge gewesen. Dieses Loch wurde im konkreten Fall zwar von der Zentralregierung durch Erlass einer Ausnahmeverordnung gestopft. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Ausübung von Kompetenzen durch die Landesteile nunmehr in der Praxis entweder stark beschränkt ist oder von einer Zustimmung der Zentralregierung abhängt. Die der Devolution inhärente Selbstregierung der Landesteile wurde dadurch geschwächt.

D. Dem Brexit geschuldete weitere Verfassungsentwicklungen

Die Verfassung des Vereinigten Königreichs war in der Europäischen Union einzigartig. Sie wird oft, wenn auch unpräzise, als ungeschriebene Verfassung charakterisiert, was so jedoch nicht stimmt. Die meisten materiell dem Verfassungsrecht zuzuordnenden Regeln sind sehr wohl schriftlich niedergelegt, meist in Gesetzesform, oder eben als sog. Verfassungskonventionen (constitutional conventions), die als politisch bindende, aber rechtlich nicht durchsetzbare Verfassungsregeln gelten. Sie sind – ähnlich dem Gewohnheitsrecht – durch Praxis entstanden und mittlerweile grösstenteils auch in verschiedenen (nicht notwendigerweise rechtlich bindenden oder durchsetzbaren) Regelwerken wie dem Ministerial Code,[22]<https://www.gov.uk/government/publications/ministerial-code>. den Devolution Guidance Notes[23]<https://www.gov.uk/government/publications/devolution-guidance-notes>. oder dem parlamentarischen Handbuch Erskine May[24]<https://erskinemay.parliament.uk/>. aufgeschrieben. Was  die britische Verfassung also in erster Linie von den in den meisten EU-Staaten typischen Verfassungen unterscheidet sind folgende drei Merkmale: erstens, ist die Verfassung nicht kodifiziert; zweitens, bedarf es für die Änderung der Verfassung keiner besonderen Mehrheiten oder Verfahren wie etwa in Deutschland einer zwei-Drittel Mehrheit oder in Irland einer Volksabstimmung; und drittens, geht die Verfassung dem einfachen Gesetz nicht vor. Vielmehr unterscheidet das britische Recht nicht formell zwischen einfachem Gesetzesrecht und Verfassungsrecht. Letzteres hat oft die Form eines einfachen Gesetzes und wird nur wegen seiner Funktion dem Verfassungsrecht zugeordnet.[25]Es gibt einen Ansatz in der Rechtsprechung, der zwischen einfachen Gesetzen und sog. „constitutional statutes“ (also Verfassungsgesetzen) unterscheidet, mit der Konsequenz, dass letztere (im … Continue reading Das dominierende Prinzip des britischen Verfassungsrechts ist dabei die sog. Souveränität des Parlaments (sovereignty oder supremacy of Parliament), die in ihrer klassischen Form besagt, dass das Parlament „das Recht hat jedes denkbare Gesetz zu erlassen oder aufzuheben; und dass keinem Mensch und keiner Körperschaft vom englischen Recht das Recht eingeräumt wird sich über die parlamentarische Gesetzgebung hinwegzusetzen oder diese aufzuheben“[26]„the right to make or unmake any law whatever; and further, that no person or body is recognised by the law of England as having a right to override or set aside the legislation of Parliament“, … Continue reading.

Diese parlamentarische Souveränität – ob jemals in dieser Reinform praktiziert oder nicht – war durch die Mitgliedschaft in der EU und den verfassungsrechtlichen Reformen durch die Labour-Regierung seit 1997 – vor allem Devolution aber auch die Einführung von justiziablen Grundrechten durch den Human Rights Act 1998 –zumindest in der Praxis eingeschränkt.[27]S. exemplarisch aus der Zeit vor dem Brexit-Referendum, Anthony W Bradley, The Sovereignty of Parliament: Form or Substance?, in: Jeffrey Jowell/ Dawn Oliver (Hrsg.), The Changing Constitution, … Continue reading

Wegen der tiefgreifenden Änderungen, die die Umsetzung des Brexit erforderte, wird dieser auch nachhaltige Auswirkungen auf die künftige Entwicklung der britischen Verfassung haben. Im Folgenden sollen die wichtigsten durch den Brexit beförderten Entwicklungen besprochen werden.

I. Volksabstimmungen

Das Brexit-Referendum war erst die dritte landesweite Volksabstimmung in der Geschichte des Vereinigten Königreichs.[28]Die beiden vorhergehenden betrafen den Eintritt in damalige EWG (1972) und eine (vom Volk abgelehnte) Wahlrechtsreform (2011). Sonst gab es noch acht regionale Abstimmungen, vor allem über die … Continue reading Gerade aber weil sie wohl gegen den Willen der Regierung ausging und zu solch weitreichenden politischen, rechtlichen und wohl auch ökonomischen Konsequenzen führen sollte, stellt sich die Frage, welche künftige Rolle das Instrument Volksabstimmung haben wird. Bei allen bisherigen durch Volksabstimmung geklärte Fragen handelte es sich ebenfalls um Verfassungsfragen, sei es die Mitgliedschaft in der EU, das Wahlrecht, die Einführung der Devolution oder die Loslösung vom Vereinigten Königreich selbst.[29]Michael Gordon, Referendums in the UK Constitution: Authority, Sovereignty and Democracy after Brexit, EU Constitutional Law Review, 2020, 217. Andere Verfassungsfragen – etwa Reformen des Oberhauses, Ratifikation neuer EU-Verträge – sind aber auch im Sinne der parlamentarischen Souveränität durch Gesetz geregelt worden. Insofern hat der sporadische Rückgriff auf Volksabstimmungen – ohne gesetzliche Grundlage, die das Prinzip regeln, wann solche abzuhalten sind – einen disruptiven Charakter, der die Autorität des Parlaments als traditionellem Sitz der Gesetzesgewalt in Frage stellt.[30]Gordon, 234 Das erklärt auch die Spannungen, die sich nach der Abstimmung vom 23. Juni 2016 darüber ergaben, welche Art von Brexit denn nun – im Angesicht des vom Volk zum Ausdruck gebrachten Willens – die richtige sei. Denn Volksabstimmungen stellen die populäre Souveränität in direkte Konkurrenz zur parlamentarischen Souveränität.[31]Gordon, 235. Es ist noch völlig offen, inwieweit sich beide in Zukunft vereinbaren lassen werden. Zudem stellt der Gebrauch von Referenden zumindest einen teilweisen Systemwechsel von der repräsentativen zu einer direkten Demokratie dar,[32]Gordon, 239. der aber derzeit – mangels Einigkeit über die grundlegenden Prinzipien von Referenden – unklar bleibt.

II. EU-Recht und Rechtssicherheit

Eine weitere Konsequenz des Brexit ist, dass das EU-Recht nach wie vor ein Geisterdasein in den Rechtsordnungen des Vereinigten Königreichs spielt. Zum einen ist da das oben besprochene „retained EU law“, das nach Plänen der Regierung durch Verabschiedung der Retained EU Law Bill zwar teilweise aufgehoben werden soll, aber in Teilen auch gerettet werden kann, um letztlich als „assimilated law“ weiter zu existieren. Zwar schafft die Retained EU Law Bill den Anwendungsvorrang des „retained EU Law“ im Grunde ab, jedoch kann dieser per Verordnung wieder angeordnet werden. Die Rechtssicherheit wird davon kaum profitieren.[33]S. auch Hansard Society, Five Problems with the Retained EU Law (Revocation and Reform) Bill, … Continue reading Hinzu kommt, dass das Austrittsabkommen unmittelbar wirksame – und vom EUWA, geändert durch den European Union (With­drawal Agreement) Act 2020 auch im nationalen Recht durchsetzbare – Regelungen zu den Rechten von EU-Bürgern, die vor Ende des Übergangszeitraums im Vereinigten Königreich von ihren Freizügigkeitsrechten nach EU Recht Gebrauch gemacht hatten, enthält. Diese bleiben demnach anwendbar und entfalten gemäss Art. 4 Abs. 1 des Austrittsabkommens unmittelbare Wirkung, wenn die unionsrechtlichen Voraussetzungen dafür gegeben sind. Sie sind also nicht als „retained EU law“ zu klassifizieren, sondern sie gelten als Unionsrecht fort.

III. Devolution

Die Umsetzung des Brexit im Vereinigten Königreich hatte auch teils erhebliche Auswirkungen auf die Devolution. Wie bereits ausgeführt, führte der Brexit dazu, dass bisher von europarechtlichen Vorgaben dominierte Kompetenzbereiche der Landesteile Schottland, Wales und Nordirland von diesen Vorgaben[34]Rechtlich erfolgte dies dadurch, dass jegliche Gesetzgebung der Landesteile, die mit dem EU-Recht inkompatibel war als ultra vires betrachted wurde. befreit wurden und in ihnen nunmehr erstmals eigenständige Politikansätze entwickelt werden können. Dies hat die oben beschriebenen potenziellen Auswirkungen auf den internen Markt des Vereinigten Königreichs, welche der zentrale Gesetzgeber durch einen weitreichenden und praktisch ausnahmslos geltenden Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zu lösen versucht hat. Dieser Ansatz hat zweifellos das Potenzial die Auswirkungen unterschiedlicher Regelungen in den Landesteilen – etwa im Umweltschutz – auf praktische Null zu reduzieren. Dies führt regulierungstechnisch letztlich zu einem Unterbietungswettlauf (race to the bottom) und zu einer Dominanz des kleinsten gemeinsamen regulatorischen Nenners. Jedenfalls sofern die Regulierung von Produktstandards von Handelswaren betroffen ist, kann aufgrund des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung der höhere einheimische Standard nur gegenüber heimischen, etwa walisischen, Produkten, nicht aber gegenüber importierten Produkten aus England angewandt werden. Das hat zur Konsequenz, dass manche regulatorische Kompetenz von den Landesteilen angesichts geringerer Standards anderswo gar nicht erst ausgeübt wird, weil diese durch Importe leicht umgangen werden kann. Zudem besteht die Gefahr, dass einheimische Produzenten aufgrund der drohenden Inländerdiskriminierung ihren Produktionsstandort in einen anderen Landesteil verlegen. Verschärfend dürfte noch hinzukommen, dass dies vor allem die kleineren Landesteile betrifft. England als dominierender und zentral regierter Landesteil wird aufgrund seiner Grösse hier eine dominante Stellung einnehmen.

Auch der EU Withdrawal Act 2018 enthält Regelungen, die die Devolution unterminieren. Hierdurch wurden der Zentralregierung Verordnungsermächtigungen übertragen, welche es ihr erlauben in Bereichen, die der Kompetenz der Landesteile zugeschrieben ist, substantielle Entscheidungen zu treffen. Dies war vor dem Brexit nur durch Parlamentsgesetz möglich, nicht aber durch die Exekutive und geschieht in der Praxis ohne Kontrolle durch die Landesparlamente.[35]Aileen McHarg, <https://policyexchange.org.uk/blogs/ministerial-powers-and-devolved-competence/>.

Abgesehen davon hat die Devolution während des Brexitprozesses auch im Übrigen gelitten, was die mangelnde Robustheit der Devolution im Besonderen und der britischen, oft als politisch bezeichneten, Verfassung im Allgemeinen demonstriert. Der politische Kontext geht auf den relativ knappen Ausgang des Brexitreferendums zurück, in dem sich rund 52% der Abstimmenden für einen Austritt aus der EU aussprachen. Damit war allerdings noch nicht entschieden, welche Art von Brexit das bedeuten würde. In der politischen Diskussion wurden verschiedene Modelle – vom Europäischen Wirtschaftsraum bis hin zum Brexit ohne Austrittsvertrag – oft nach Härtegraden von weich bis hart bezeichnet. Das heisst, dass sich das britische Parlament, das ja den Brexit durch Gesetzgebung besiegeln musste, nicht einig war, wie dieser von Statten gehen sollte. Hinzu kamen noch regionale Varianten im Abstimmungsergebnis: insbesondere in Schottland stimmten 62% der Menschen für einen Verbleib in der EU, so dass sich die schottische Regierung für einen möglichst weichen Brexit aussprach. Ebenso war die walisische Regierung – die von der Labour Partei angeführt wird – ganz im Sinne dieser Partei ebenfalls für einen weichen Brexit.[36]In Nordirland war die Regierung währen der Brexitverhandlungen zusammengebrochen, was vordergründig an einem anderen politischen Skandal lag. Jedoch war klar, dass sich die dortige Regierung, die … Continue reading

Zwar sind die Aussenbeziehungen und somit auch die EU-Beziehungen des Vereinigten Königreichs Sache der Zentralgewalt. Dennoch berührt die konkrete Umsetzung auch die Kompetenzen der Landesteile.

Wie oben beschrieben ist es der Devolution eigen, dass das Zentralparlament in London eine konkurriende Gesetzgebungskompetenz hat und damit auch in eigentlich den Landesteilen zugeteilten Kompetenzbereichen Gesetze erlassen kann. Dennoch hat es sich durch eine Verfassungskonvention (die sog. Sewel Konvention) eingebürgert, dass dies normalerweise nur dann geschehen solle, wenn die betroffenen Landesteile auch zustimmten.[37]Mittlerweile kodifiziert in s. 28 (8) Scotland Act 1998, allerdings ohne gerichtliche durchsetzbare rechtliche Wirkung (s. UK Supreme Court in R (Miller) v Secretary of State for Exiting … Continue reading Die Konvention besagt auch, dass Änderungen der Kompetenzen der Landesteile ebenfalls der Zustimmung ihrer Parlamente bedürfen.[38]Devolution Guidance Note No 10. Die Konvention war lange Zeit als Indiz dafür angesehen worden, dass die klassische zentralistische Konzeption der britischen Verfassung, deren einzige Autoritätsquelle das Parlament in Westminster – bzw. genauer der King-in-Parliament – war, der Vergangenheit angehörte. Stattdessen hatte sich vor allem in den Landesteilen eine Auffassung durchzusetzen begonnen, wonach das Vereinigte Königreich eine Union von vier Nationen sei und wo sich der Sitz der ultimativen Souveränität nicht einer Institution zuordnen lässt.[39]Etwa Michael Keating, Taking back control? Brexit and the territorial constitution of the United Kingdom, Journal of European Public Policy 2020, 491-492.

Auch bei der konkreten Abwicklung des Brexit waren die Kompetenzen der Landesteile betroffen, da der Brexit zu einem Anwachsen dieser Konsequenzen führt. Folgendes Argument wird dabei angeführt: da die Austrittserklärung nach Art. 50 EUV einen Automatismus beinhalte, der letztlich zum Verlust der Mitgliedschaft führe, hat diese Erklärung nach Ansicht des obersten Gerichts (UK Supreme Court) die Wirkung, dass damit das Ende vom EU-Recht als Rechtsquelle des nationalen Rechts eingeleitet wird.[40]R (Miller) v Secretary of State for Exiting the European Union [2017] UKSC 5 § 80. Daher bedurfte es nach Ansicht des Supreme Court hierfür einer gesetzlichen Ermächtigung für die Regierung, damit diese die Austrittserklärung in verfassungskonformer Weise abgeben kann.

Wenn dem so ist, bedeutet das natürlich auch, dass durch die Austrittserklärung ein Automatismus in Gang gesetzt wird, der die dem Europarecht innewohnenden Kompetenzbeschränkungen für das Vereinigte Königreich wegfallen lässt. Damit können dann auch die Landesteile in Bereichen Gesetze erlassen, die ihnen zwar komptenzrechtlich zugeteilt waren, aber in denen sie aufgrund der EU-Mitgliedschaft grundsätzlich in ihrer Gestaltungsmacht und damit der Kompetenzausübung eingeschränkt waren. Die Sewel-Konvention griff also nach dieser Ansicht schon bei der Frage der Abgabe der Austrittserklärung ein. Allerdings ersuchte die Zentralregierung – anders als bei anderen Brexit-Gesetzen – nicht die Zustimmung der Parlamente der Landesteile für den anschliessend erlassenen European Union (Notification of Withdrawal) Act 2017. Das lag daran, dass der Supreme Court auch die Relevanz der Sewel Konvention zu erörtern gefragt wurde und dies, mit Hinweis auf deren rechtliche Unverbindlichkeit, verweigerte.[41]R (Miller) v Secretary of State for Exiting the European Union [2017] UKSC 5, §§ 136-151.

Dennoch hatte die Zentralregierung nach Abgabe der Austrittserklärung im Hinblick auf mehrere Brexit-Gesetze nach Zustimmung des schottischen und walisischen Parlaments gefragt, die diese jedoch verweigerten. Dies geschah nicht nur einmal, sondern insgesamt bisher im Hinblick auf sieben Brexit-Gesetze.[42]Das schottische Parlament verweigerte die Zustimmung zu den folgenden: European Union (Withdrawal) Act 2018; European Union (Withdrawal Agreement) Act 2020; European Union (Future Relationship) Act … Continue reading Trotz Verweigerung der Zustimmung wurden die Gesetze trotzdem erlassen. Im Vergleich dazu kam es vor dem Brexit nur einmal zu der Situation, dass die Zustimmung nach der Sewel-Konvention verweigert worden war, und zwar durch das walisische Parlament, das Zentralparlament anschliessend aber trotzdem handelte.[43]S. Scottish Parliament, CEEAC Committee, 5th Report, The impact of Brexit on Devolution (2022).

Daher stellt sich nun die Frage, inwiefern diese Konvention noch existiert oder ob sie etwa durch die Praxis seit dem Brexit modifiziert wurde und zumindest was ihre verfassungsrechtliche Dimension – die Schaffung bzw. Beschränkung von Kompetenzen für die Landesteile – nicht mehr so gilt wie vorher.[44]Aileen McHarg, Aussage vor dem CEEAC Committee des Schottischen Parlaments, 5th Report, The impact of Brexit on Devolution (2022), Rn. 78. Ein Ausschuss des Schottische Parlaments jedenfalls ist zu dem Schluss gekommen, dass die Sewel-Konvention unter Druck ist und dass ein Risiko besteht, dass der gesamte Zustimmungsprozess kollabiert.[45]§ 119 des Reports.

IV. Nordirland

Zu den Auswirkungen auf die Devolution im Allgemeinen, tritt die durch den Brexit erheblich komplizierte Situation in Nordirland im Besonderen. Dort scheint – grösstenteils wegen Uneinigkeiten über die Abwicklung des Brexit – eine Regierungsbildung derzeit nicht möglich zu sein.[46]Zur Nordirlandpolitik der britischen Regierung seit dem Brexit s. Conor J. Kelly/Etain Tannam, The UK government’s Northern Ireland policy after Brexit: a retreat to unilateralism and muscular … Continue reading Nordirland nimmt im Vereinigten Königreich als Postkonfliktgesellschaft eine Sonderstellung ein. Dies spiegelt sich verfassungsrechtlich darin wider, dass die nordirische Regierung auf dem sog. Power-sharing aufbaut. Das bedeutet, dass die Regierung von der nach den jeweiligen Wahlen grössten unionistischen (britisch-protestantischen) und der grössten nationalistischen (irisch-katholischen) Partei gebildet wird. Dadurch kann jede dieser Parteien die Regierung zu Fall bringen. Ebenso kann sich nach einer Neuwahl eine der Parteien erfolgreich die Wahl eines Sprechers für das nordirische Parlament boykottieren, so dass Nordirland ohne Regierung und ohne beschlussfähiges Parlament bleiben kann. Die Konsequenz ist dann die Direktregierung durch London.

Derzeit sind das die DUP (unionistisch) und Sinn Féin (nationalistisch), die beide dem jeweiligen extremen Rand zuzuordnen sind. Insgesamt stimmte in Nordirland ein Anteil von 55% der Wählerschaft gegen den Brexit, wobei sich nahezu alle Parteien ausser der DUP für einen Verbleib in der EU ausgesprochen hatten, nicht zuletzt um oben beschriebene Probleme mit der inner-irischen Grenze zu vermeiden. Die zum Zeitpunkt des Brexit-Referendums bestehende nordirische Regierung scheiterte im Januar 2017 an den Folgen eines Subventionsskandals. Danach blieb Nordirland – nicht zuletzt wegen der langwierigen Verhandlungen zwischen EU und Vereinigtem Königreich über die Offenheit der Grenze – ohne Regierung. Zwischenzeitlich traten beiden Parteien wieder in die Regierung ein, seit den Wahlen vom Mai 2022 jedoch ist Nordirland wieder regierungslos. Das liegt vor allem daran, dass die DUP den im Nordirlandprotokoll gefundenen Kompromiss nicht akzeptieren will. Solange das Protokoll in der ursprünglichen Form bestand, wollte die Partei der Regierung fernbleiben. Nach der Reform des Protokolls durch das sog. Windsor Framework hatte die Hoffnung bestanden, dass die DUP sich dazu bringen könnte, in die Regierung einzutreten, was aber bis dato noch nicht geschehen ist. Der Grund hierfür liegt vor allem daran, dass es innerhalb der Partei – und der weiteren unionistischen Gemeinschaft – keinen Konsens hierüber zu geben scheint.

Diese Dauerkrise in Nordirland hat aber noch weitere, ebenfalls mit dem Brexit in Verbindung zu bringende Gründe. An vorderster Front steht dabei die Befürchtung der Unionisten, dass es zu einem vereinigten Irland kommen könnte. Dafür bereitet das Karfreitagsabkommen den Weg: wenn es erscheint, dass eine Mehrheit in Nordirland die Union verlassen möchte und ein vereinigtes Irland erstrebt, dann ist die britische Regierung verpflichtet, eine Volksabstimmung zu dieser Frage anzuberaumen. Vor dem Brexit hatte ein vereinigtes Irland in Nordirland keine Aussicht auf eine Mehrheit. Selbst Katholiken waren oft nicht davon überzeugt. Das könnte sich nach Ansicht mancher durch den Brexit ändern. Denn die Frage der Grenze auf der Insel hat auch die Frage nach der nationalen Einheit wieder aufleben lassen und die Unterstützung hierfür galvanisiert. Sowohl in den Medien, als auch in der Forschung und in der Zivilgesellschaft hat sich eine lebhafte Diskussion um die Wiedervereinigung entwickelt.[47]Etwa durch Gründung der Organisation Ireland’s Future (<https://irelandsfuture.com/>); das Forschungsprojekt ARINS (<https://www.ria.ie/arins>); und unzählige Medienbeiträge in den … Continue reading Zwar gibt es nach aktuellen Umfragen keine Mehrheit für ein vereinigtes Irland, was den Unionisten einen  relativ ruhigen Schlaf bereiten sollte.[48]Die Zahlen variieren je nach Umfrage: etwa sah die Northern Ireland Life and Times Survey (eine jährlich stattfindende Studie) im April 2023 eine relative Mehrheit von 48% für einen Verbleib im … Continue reading Dennoch fühlen sie die Union mit dem Vereinigten Königreich in Gefahr, was durch die Annäherung von Nordirland an die EU (und damit die Republik Irland) durch das Nordirlandprotokoll sowie durch die Tatsache, dass Katholiken nunmehr eine relative Mehrheit in Nordirland bilden und Sinn Féin aus den Wahlen 2022 als grösste Partei hervorgegangen war, verschärft wird. Dementsprechend erwartet auch eine relative Mehrheit der nordirischen Bevölkerung, dass es in zwanzig Jahren ein vereinigtes Irland geben wird.[49]45% der Befragten in der Northern Ireland Life and Times Survey hielten es für wahrscheinlich oder sehr wahrscheinlich, dass es in zwanzig Jahren ein vereinigtes Irland geben werde, verglichen mit … Continue reading

Die Devolution hat also durch den Brexit-Prozess Schaden genommen. Es ist der flexiblen politischen Verfassung des Vereinigten Königreichs eigen, dass schwer vorherzusagen ist, wie sich dies langfristig auswirken wird. Es besteht natürlich die Möglichkeit, dass sich die Devolution eventuell nach Neuwahlen wieder in alte Fahrwasser begibt. Allerdings sprechen dagegen die nach wie vor bestehenden Unabhängigkeitsbestrebungen der schottischen Regierung, die bestehenden Schwierigkeiten einer Regierungsbildung in Nordirland, und die möglicherweise unabhängig von der Parteizugehörigkeit bestehenden Zentralisierungsversuchungen und -tendenzen der Londoner Zentralregierung.

V. Zuwachs an Exekutivbefugnissen

Diese Zentralisierungstendenzen schlagen sich auch in dem erheblichen Anwachsen der Exekutivbefugnisse bei Abwicklung des Brexit nieder. Wie bereits angedeutet, beschloss das britische Parlament mit dem EUWA 2018, nahezu das gesamte EU-Recht in einem ersten Schritt zu „domestizieren“, d.h. in retained EU law umzuwandeln, um Rechtssicherheit durch Kontinuität herzustellen. Damit wollten Parlament und Regierung Zeit gewinnen, um in Ruhe überprüfen zu können, welches retained EU law aufgehoben, welches geändert und welches unverändert beibehalten werden sollte. Dabei wurde in der Regierungsvorlage zum EUWA 2018 selbstverständlich erkannt, dass manche Änderungen des retained EU law rein technischer Natur sein würden und auch relative schnell durchgeführt werden müssten, um ein Weiterfunktionieren des retained EU law ausserhalb der EU zu ermöglichen. Als Beispiel für solch eine notwendige technische Änderung mag die Entfernung von Verweisen auf die EU-Institutionen in Vorschriften des EU-Sekundärrechts sein. Dass solche technischen Anpassungen aus Effizienzgründen nicht im formellen Gesetzgebungsverfahren durchgeführt werden sollten, leuchtet ein. Daher enthält der EUWA 2018 Verordnungsermächtigungen für die Zentralregierung und – soweit deren Kompetenzen betroffen sind – auch die Regierungen der Landesteile, um solche Änderungen vorzunehmen.

Das Problem im Hinblick auf die Gewaltenteilung war dabei jedoch, dass die im EUWA 2018 enthaltenen Exekutivbefugnisse vage definiert und damit potenziell sehr weitreichend waren. Insbesondere bestanden sie auch in sog. Henry VIII-Befugnissen, also der ausdrücklich gewährten Befugnis, Vorschriften zu erlassen, die auch durch formelles Parlamentsgesetz gemacht werden könnten.[50]Section 8 (5) EUWA 2018 sagt im Wortlaut: „Regulations under subsection (1) may make any provision that could be made by an Act of Parliament“. Der Name Henry VIII powers geht auf den während … Continue reading Hinzu kommt, dass die parlamentarische Kontrolle dieser Befugnisse minimal beschaffen war. Denn letztlich bestand diese vor allem in der sog. „negative procedure“, wonach eine Abstimmung über einen darauf fussenden Verordnungsentwurf in der Regel nicht vorgesehen ist, sondern das Parlament selbst innerhalb einer Frist von 40 Sitzungstagen aktiv werden muss und den darauf basierenden Verordnungsentwurf dann ausdrücklich ablehnen muss.[51]S. 22 EUWA 2018 i.V.m. Schedule 7: danach bedürfen lediglich diejenigen Verordnungen einer Zustimmung des Parlaments, die einer Behörde zur Rechtssetzung befugt; mit der eine Gebühr festgesetzt … Continue reading Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlament und dessen Arbeitsweise geschieht dies in der Praxis so gut wie nie. Ähnlich weitreichende Befugnisse wurden auch in Bezug auf die Umsetzung des Austrittsabkommens auf die Exekutive übertragen.

Der Rückgriff auf diese sog. Henry VIII-Befugnisse folgen einem langjährigen Trend der Umschichtung von Machtbefugnissen vom Parlament auf die Regierung.[52]Dazu instruktiv Lord Igor Judge, The King’s Prerogative, 1622; the Prime Minister’s Prerogative, 2022, Seldon Society/Inns of Court Lecture, 1 November 2022, … Continue reading Diese wurden durch den Brexit weitergeführt und während der Covid-Pandemie noch intensiver genutzt.[53]Der Coronavirus Act 2020 enthält ebenfalls zahlreiche und weitgehende Exekutivbefugnisse in der Form von Henry VIII-Befugnissen. Auch die oben bereits erwähnte Retained EU Law Bill folgt diesem Trend. Sie überträgt der Regierung ein Ermessen zu entscheiden, welches „retained EU law“ trotz der Auslaufklausel beibehalten werden soll; dabei entscheiden – laut Gesetzentwurf – Minister danach, was „angemessen“ sein soll („appropriate“), ein Rechtsbegriff der unbestimmter kaum sein könnte und auf einen kaum beschränkten Ermessensspielraum hindeutet.

E. Zusammenfassung

Der Brexit hatte nicht nur die allseits bekannten rechtlichen und politischen Konsequenzen für das Verhältnis zwischen EU und Vereinigtem Königreich. Auch im Inneren resultierte er in spürbaren Auswirkungen auf das delikate verfassungsrechtliche Equilibrium. Das lag zum einen an der mit grosser politischer Härte geführte Auseinandersetzung nach Abhaltung des Brexit-Referendums, zum anderen an den Zentralisierungstendenzen und dem Hunger nach Exekutivmacht der Zentralregierung. Ob diese Flurschäden wieder behoben werden, steht noch nicht fest. Die derzeitige Regierung ist aller Voraussicht nach noch bis Ende 2024 im Amt. Ob es in Folge der dann stattfindenden Wahlen einen Regierungswechsel geben wird, lässt sich noch nicht absehen. Aber selbst wenn die Labour-Partei an die Regierung kommen sollte, ist es unwahrscheinlich, dass die Verfassung wieder in ihren Zustand prä-Brexit zurückversetzt wird. Denn den Verlockungen der Zentralisierung und der Machtkonzentration in der Exekutive wird auch eine Labour-Regierung nur schwer widerstehen können. Die Leserschaft mag also die Frage, ob die Verfassungsordnung des Vereinigte Königreichs nun – ganz im Sinne von „God Save the King“ – als „happy and glorious“ zu charakterisieren ist, selbst beantworten.

Fussnoten

Fussnoten
1 Bevor sie widerlegt werden, werden die Argumente gegen eine Kodifizierung gut zusammengefasst von Jeff King, The democratic case for a written constitution, Current Legal Problems (2019), 1.
2 EuGH, Urt. v. 10.12.2018, Rs. C-621/18, ECLI:EU:C:2018:999.
3 S. Wortlaut des Art. 50 Abs. 2 EUV.
4 Leitlinien des Europäischen Rates vom 29. April 2017, <https://www.consilium.europa.eu/media/21746/29-euco-art50-guidelines-de.pdf>.
5 Rede der Premierministerin Theresa May in Florenz vom 22. September 2017, <https://www.gov.uk/government/speeches/pms-florence-speech-a-new-era-of-cooperation-and-partnership-between-the-uk-and-the-eu>.
6 European Union (Withdrawal) Act 2018, <https://www.legislation.gov.uk/ukpga/2018/16/contents/enacted>.
7 Democratic Unionist Party, eine Partei, die vor allem der britischen Krone gegenüber loyale Protestanten vertritt; zu deren Entwicklung s. Jonathan Tonge u.a., The Democratic Unionist Party: From Protest to Power, Oxford University Press 2014.
8 Zum Austrittsabkommen s. Tobias Lock, Von Komplexität und politischem Kompromiss: das Austrittsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich. Zeitschrift für Gesetzgebung 2020, 193.
9 Art. 5 Abs. 1 des Nordirlandprotokolls.
10 Zu diesen sog. Sausage wars s. Billy Melo Araujo, „All you need to know about the Northern Ireland sausage war“, RTÉ Brainstorm, <https://www.rte.ie/brainstorm/2021/0614/1227938-sausages-brexit-northern-ireland-protocol-uk-eu-boris-johnson-trade-war/>.
11 Etwa die Forderung, dass der EuGH keine Rolle mehr bei der Auslegung des im Protokoll enthaltenen EU-Rechts spielen sollte, was verfassungsrechtlich für die EU nicht akzeptabel war, s. etwa die Forderungen des damaligen Ministers Lord Frost im sog. Command Paper, „Northern Ireland Protocol: the way forward, <https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/1008451/CCS207_CCS0721914902-005_Northern_Ireland_Protocol_Web_Accessible__1_.pdf>.
12 Das Windsor Framework setzt sich aus vom Gemeinsamen Ausschuss (Austrittsabkommen) erlassenen Entscheidungen, EU Rechtsakten, gemeinsamen und einseitigen politischen Erklärungen und Empfehlungen zusammen; all diese findet man, teils in Entwurfsform, hier: <https://www.gov.uk/government/publications/the-windsor-framework>.
13 Section 2 (1) European Communities Act 1972.
14 European Union (Withdrawal Act) 2018, Schedule 1, § 1.
15 European Union (Withdrawal Act) 2018, section 8: „A Minister of the Crown may by regulations make such provision as the Minister considers appropriate to prevent, remedy or mitigate (a)any failure of retained EU law to operate effectively, or (b)any other deficiency in retained EU law, arising from the withdrawal of the United Kingdom from the EU.“
16 Pressemitteilung der britischen Regierung v. 22.9.2022 mit dem Titel: „UK government to set its own laws for its own people as Brexit Freedoms Bill introduced“, <https://​www.gov.uk/government/news/uk-government-to-set-its-own-laws-for-its-own-people-as-brexit-freedoms-bill-introduced>.
17 Die Devolution nach Wales erstreckte sich zunächst nur auf Verwaltungskompetenzen, d.h. die walisische Regierung war zur Verordnungsgabe ermächtigt, das walisische Parlament aber nicht zur formellen Gesetzgebung. Das änderte sich nach einer weiteren Volksabstimmung im Jahr 2011.
18 Abgesehen von den genannten Lehrerqualifikationen, die ja zwischen England und Schottland einen Fall der Inländerdiskriminierung dargestellt hatten.
19 EuGH, Urt. v. 20.2.1979, Rs. 120/78, ECLI:EU:C:1979:42.
20 Scottish Parliament Information Centre, „From single-use plastics to the deposit return scheme: How are Common Frameworks and UK Internal Market Act exclusion processes operating?“, <https://spice-spotlight.scot/2023/03/24/from-single-use-plastics-to-the-deposit-return-scheme-how-are-common-frameworks-and-uk-internal-market-act-exclusion-processes-operating/>.
21 Ebd.
22 <https://www.gov.uk/government/publications/ministerial-code>.
23 <https://www.gov.uk/government/publications/devolution-guidance-notes>.
24 <https://erskinemay.parliament.uk/>.
25 Es gibt einen Ansatz in der Rechtsprechung, der zwischen einfachen Gesetzen und sog. „constitutional statutes“ (also Verfassungsgesetzen) unterscheidet, mit der Konsequenz, dass letztere (im Gegensatz zu ersteren) nicht implizit durch späteres einfaches Gesetz widerrufen werden (sog. implied repeal); High Court (England and Wales, Urt. v. 18.2.2002, Thoburn v Sunderland City Council [2002] EWHC 195 (Admin), wobei in jüngster Zeit Zweifel aufkamen, inwieweit diese Ansicht vom Supreme Court derzeit noch geteilt wird, s. Supreme Court, Urt. v. 8.2.2023, Re Allister [2023] UKSC 5, dazu etwa Kacper Majewski, Re Allister: The End of ‚Constitutional Statutes‘?, UK Constitutional Law Blog, <https://ukconstitutionallaw.org/2023/02/21/kacper-majewski-re-allister-the-end-of-constitutional-statutes/>.
26 „the right to make or unmake any law whatever; and further, that no person or body is recognised by the law of England as having a right to override or set aside the legislation of Parliament“, A. V. Dicey, An Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 10. A., London, Macmillan, 1959, S 39 – 40 (Übersetzung durch den Autor).
27 S. exemplarisch aus der Zeit vor dem Brexit-Referendum, Anthony W Bradley, The Sovereignty of Parliament: Form or Substance?, in: Jeffrey Jowell/ Dawn Oliver (Hrsg.), The Changing Constitution, 7. A., Oxford, OUP 2011, 35.
28 Die beiden vorhergehenden betrafen den Eintritt in damalige EWG (1972) und eine (vom Volk abgelehnte) Wahlrechtsreform (2011). Sonst gab es noch acht regionale Abstimmungen, vor allem über die Einführung der Devolution und die Unabhängigkeit Schottlands.
29 Michael Gordon, Referendums in the UK Constitution: Authority, Sovereignty and Democracy after Brexit, EU Constitutional Law Review, 2020, 217.
30 Gordon, 234
31 Gordon, 235.
32 Gordon, 239.
33 S. auch Hansard Society, Five Problems with the Retained EU Law (Revocation and Reform) Bill, <https://www.hansardsociety.org.uk/publications/briefings/five-problems-with-the-retained-eu-law-revocation-and-reform-bill>.
34 Rechtlich erfolgte dies dadurch, dass jegliche Gesetzgebung der Landesteile, die mit dem EU-Recht inkompatibel war als ultra vires betrachted wurde.
35 Aileen McHarg, <https://policyexchange.org.uk/blogs/ministerial-powers-and-devolved-competence/>.
36 In Nordirland war die Regierung währen der Brexitverhandlungen zusammengebrochen, was vordergründig an einem anderen politischen Skandal lag. Jedoch war klar, dass sich die dortige Regierung, die sich laut Karfreitagsabkommen aus der grössten nationalistisch-irischen (und katholischen) Partei und der grössten unionistisch-britischen (und protestantischen) Partei zusammensetzen muss, sich nicht einigen würde können, da die oben bereits erwähnte DUP sich voll und ganz dem Brexit verschrieben hatte.
37 Mittlerweile kodifiziert in s. 28 (8) Scotland Act 1998, allerdings ohne gerichtliche durchsetzbare rechtliche Wirkung (s. UK Supreme Court in R (Miller) v Secretary of State for Exiting the European Union [2017] UKSC 5, §§ 136-151.
38 Devolution Guidance Note No 10.
39 Etwa Michael Keating, Taking back control? Brexit and the territorial constitution of the United Kingdom, Journal of European Public Policy 2020, 491-492.
40 R (Miller) v Secretary of State for Exiting the European Union [2017] UKSC 5 § 80.
41 R (Miller) v Secretary of State for Exiting the European Union [2017] UKSC 5, §§ 136-151.
42 Das schottische Parlament verweigerte die Zustimmung zu den folgenden: European Union (Withdrawal) Act 2018; European Union (Withdrawal Agreement) Act 2020; European Union (Future Relationship) Act 2020; UK Internal Market Act 2020; Professional Qualifications Act 2022; Subsidy Control Act 2022; Retained EU Law Bill. Das walisische Parlament verweigerte ebenfalls die Zustimmung zu diesen mit Ausnahme des European Union (Withdrawal) Act 2018. Das nordirische Parlament war teilweise während des Brexit Prozesses wegen politischer Krisen nicht aktiv, verweigerte aber die Zustimmung zum European Union (Withdrawal Agreement) Act 2020.
43 S. Scottish Parliament, CEEAC Committee, 5th Report, The impact of Brexit on Devolution (2022).
44 Aileen McHarg, Aussage vor dem CEEAC Committee des Schottischen Parlaments, 5th Report, The impact of Brexit on Devolution (2022), Rn. 78.
45 § 119 des Reports.
46 Zur Nordirlandpolitik der britischen Regierung seit dem Brexit s. Conor J. Kelly/Etain Tannam, The UK government’s Northern Ireland policy after Brexit: a retreat to unilateralism and muscular unionism, Journal of European Public Policy 2023, <https://doi.org/10.1080/13501763.2023.2210186>.
47 Etwa durch Gründung der Organisation Ireland’s Future (<https://irelandsfuture.com/>); das Forschungsprojekt ARINS (<https://www.ria.ie/arins>); und unzählige Medienbeiträge in den letzten Jahren.
48 Die Zahlen variieren je nach Umfrage: etwa sah die Northern Ireland Life and Times Survey (eine jährlich stattfindende Studie) im April 2023 eine relative Mehrheit von 48% für einen Verbleib im Vereinigten Königreich verglichen mit 31% für eine Wiedervereinigung (Rest: weiss nicht), <https://www.ark.ac.uk/ARK/sites/default/files/2023-04/update151.pdf>; Irish Times (Dez 2022) vermerkte 50% für einen Verbleib im Vereinigten Königreich und 27% für eine Wiedervereinigung (Rest entweder weiss nicht oder würde nicht wählen), <https://www.irishtimes.com/ireland/2022/12/03/poll-shows-northern-ireland-rejects-unity-by-large-margin/>.
49 45% der Befragten in der Northern Ireland Life and Times Survey hielten es für wahrscheinlich oder sehr wahrscheinlich, dass es in zwanzig Jahren ein vereinigtes Irland geben werde, verglichen mit 38% die einen Verbleib im Vereinigten Königreich für wahrscheinlich oder sehr wahrscheinlich hielten <https://www.ark.ac.uk/ARK/sites/default/files/2023-04/update151.pdf>.
50 Section 8 (5) EUWA 2018 sagt im Wortlaut: „Regulations under subsection (1) may make any provision that could be made by an Act of Parliament“. Der Name Henry VIII powers geht auf den während der Regentschaft von Heinrich VIII erlassenen Act of Proclamations 1539 zurück, der den König explizit ermächtigte am Parlament vorbei durch Verordnungen (Proclamations) Gesetze zu erlassen.
51 S. 22 EUWA 2018 i.V.m. Schedule 7: danach bedürfen lediglich diejenigen Verordnungen einer Zustimmung des Parlaments, die einer Behörde zur Rechtssetzung befugt; mit der eine Gebühr festgesetzt wird; die einen Strafrechtstatbestand schafft bzw erweitert; oder die selbst eine Ermächtigung zur Gesetz- oder Verordnungsgebung enthält. Für alle anderen Verordnungen (also die grosse Mehrheit) gilt die negative procedure. Dem wurde – durch Änderungsantrag im Gesetzgebungsverfahren – noch ein Sichtungsprozess vorgeschaltet (sog. „sifting“), wonach ein eigens dafür eingesetzter Ausschuss des jeweiligen Parlaments zu entscheiden hat, ob er mit der Einschätzung des für die Verordnung zuständigen Ministers einhergeht, dass die negative procedure anzuwenden sein soll, wobei diese Einschätzung lediglich Empfehlungscharakter hat.
52 Dazu instruktiv Lord Igor Judge, The King’s Prerogative, 1622; the Prime Minister’s Prerogative, 2022, Seldon Society/Inns of Court Lecture, 1 November 2022, <https://policyexchange.org.uk/blogs/the-kings-prerogative-1622-the-prime-ministers-prerogative-2022/>. S. auch den detaillierten Report des House of Lords Delegated Powers and Regulatory Reform Committee, „Democracy Denied? The Urgent need to rebalance power between Parliament and the Executive“, HL Paper 106, 24. November 2021.
53 Der Coronavirus Act 2020 enthält ebenfalls zahlreiche und weitgehende Exekutivbefugnisse in der Form von Henry VIII-Befugnissen.