EuZ - Zeitschrift für Europarecht

Ausgabe 01 / 2024

Wirklich neutral? Die Rechtsprechung des EuGH zu Kopftuchverboten am Arbeitsplatz auf dem Prüfstein der Grundrechte

Maya Hertig Randall*

Inwiefern darf das Tragen religiöser Symbole und religiös konnotierter Kleidung am privaten Arbeitsplatz untersagt werden, ohne gegen das Diskriminierungsverbot zu verstossen? Der Beitrag geht dieser Frage nach, indem er die Rechtsprechung des EuGH aus einer schweizerischen Perspektive und mit rechtsvergleichenden Bezügen kritisch beleuchtet. Das Augenmerk liegt auf zwei Urteilen aus dem Jahr 2021 und 2022. Der Beitrag kommt zum Schluss, dass die beiden Entscheide dem Anliegen des Diskriminierungsschutzes besser Rechnung tragen als die vorhergehende Rechtsprechung. Die Bedingungen, welche der EuGH an die Zulässigkeit einer firmeninternen Politik der religiösen und weltanschaulichen Neutralität stellt, sind einer grundrechtsfreundlichen Auslegung zugänglich. Sie belässt den nationalen Gerichten einen beachtlichen Spielraum um sicherzustellen, dass das Diskriminierungsverbot und die Religionsfreiheit nicht einseitig wirtschaftlichen Interessen untergeordnet werden. Die Rechtsprechung internationaler Menschenrechtsorgane kann diesbezüglich wertvolle Impulse liefern.

*Prof. Dr. Maya Hertig Randall, Professorin für Verfassungsrecht an der Universität Genf, Rechtsanwältin, LL.M. (Cambridge).

Titelbild EuZ 1 2024

Inhalt

  1. Einführung
  2. Übersicht über die Rechtsprechung des EuGH
    1. Die Urteile Achbita und Bougnaoui
    2. Das Urteil Wabe und Müller
    3. Das Urteil S.C.R.L.
  3. Problemfelder
    1. Direkte oder indirekte Diskriminierung?
    2. Mehrfachdiskriminierung
    3. Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen
      1. Rechtfertigungsgrund
      2. Verhältnismässigkeitsprüfung
    4. Schlussgedanken

A. Einführung

Religiöse Symbole und religiös konnotierte Kleidung sind ein Dauerthema. Insbesondere die „Kopftuchdebatte“ leistet Forderungen nach Verboten mit expansiver Tendenz Vorschub.[1]Zur expansiven Tendenz von Kopftuchverboten, siehe Eva Brems, ECJ headscarf series (5): The Field in which Achbita will Land – A Brief Sketch of Headscarf Persecution in Belgium, 16. September … Continue reading Standen anfänglich Lehrkräfte an öffentlich Schulen im Vordergrund,[2]Siehe hierzu die Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Entlassung einer zum Islam konvertierten Lehrerin im Kanton Genf, BGE 123 I 296; EGMR, … Continue reading richtete sich das Augenmerk später auf den ganzen öffentlichen Sektor,[3]Siehe BGE 148 I 160 betreffend das Gesetz über die Laizität des Staates des Kantons Genf vom 26. April 2018 (LLE/GE), welches unter anderem Beamt*innen verbietet, ihre Religionszugehörigkeit … Continue reading auf Schülerinnen[4]Siehe BGE 139 I 280 betreffend die Schulgemeinde Bürglen; BGE 142 I 49 betreffend die Schulgemeinde St. Margarethen. und für weiterreichende Verhüllungsverbote auf den ganzen öffentlichen Raum.[5]Siehe BGE 144 I 281 betreffend die Tessiner Gesetze über die Gesichtsverhüllung im öffentlichen Raum und über die öffentliche Ordnung, die zur Umsetzung der im Jahr 2011 verabschiedeten … Continue reading In jüngster Zeit hat die Kopftuchdebatte auch den privatrechtlichen Arbeitsmarkt erfasst. Dies wirft die Frage auf, inwiefern private Unternehmen Arbeitnehmenden das Tragen religiöser Symbole oder religiös konnotierter Kleidung untersagen dürfen.[6]Siehe z.B. Lempen Karine, Travail, genre et religion: le port du hijab en Europe, in: Stöckli Andreas et al. (Hrsg.), Recht, Religion und Arbeitswelt, Zürich 2020, 33 ff.; Pärli Kurt/Pileggi … Continue reading Der EuGH hat sich mit dieser Problematik erstmals im Jahr 2017 auseinandergesetzt. Die Urteile Achbita[7]EuGH, Urteil vom 14. März 2017 in der Rechtssache C-157/15, ECLI:EU:C:2017:203 ‒ Samira Achbita und Centrum voor gelijkheid van kansen en voor racismebestrijding gegen G4S Secure Solutions NV. und Bougnaoui[8]EuGH, Urteil vom 14. März 2017 in der Rechtssache C-188/15, ECLI:EU:C:2017:204 ‒ Asma Bougnaoui und Association de défense des droits de l’homme (ADDH) gegen Micropole SA. der Grossen Kammer stiessen auf grosse mediale Resonanz[9]Für die Schweizer Presse, siehe z.B. Wenger Karin A., Firmen können Tragen von Kopftüchern verbieten, NZZ vom 14. Mai 2017 (online); Une entreprise peut interdire le port visible de signes … Continue reading und wurden auch in der Lehre vielfach und vorwiegend kritisch kommentiert.[10]Zur fast ausschliesslich kritischen Würdigung der beiden Urteile, siehe Mulder Jule, Religious neutrality policies at the workplace: Tangling the concept of direct and indirect religious … Continue reading Zwei Urteile aus dem Jahr 2021 und 2022 boten dem EuGH die Gelegenheit, sich erneut mit Kopftuchverboten in privaten Unternehmen auseinanderzusetzen. Dieser Beitrag geht der Frage nach, inwiefern die beiden jüngeren, ebenfalls von der Grossen Kammer gefällten Urteile – Waabe und Müller (2021)[11]EuGH, Urteil vom 15. Juli 2021 in der Rechtssache C-804/18 und C-341/19, ECLI:EU:C:2021:594 ‒ X gegen WABE eV und MH Müller Handels GmbH gegen MJ. und S.C.R.L. (2022)[12]EuGH, Urteil vom 13. Oktober 2022, in der Rechtssache C‑344/20, ECLI:EU:C:2022:774 ‒ L.F. gegen S.C.R.L. Nach Abgabe des Manuskripts hat der EuGH noch ein weiteres Urteil zu Kopftuchverboten am … Continue reading – die geäusserte Kritik aufgegriffen, Unstimmigkeiten korrigiert und Unklarheiten behoben haben. Er tut dies aus einer schweizerischen Perspektive mit rechtsvergleichenden Bezügen.

Der Rechtsrahmen zum Schutz vor Diskriminierungen hat sich in der EU über einen längeren Zeitraum entwickelt. Einem sektoriellen Ansatz folgend hat der EU-Gesetzgeber zur Verwirklichung der primärrechtlichen Diskriminierungsverbote mehrere Richtlinien erlassen, die Diskriminierungen im privaten Arbeitsleben erfassen. Richtlinie (EU) 2006/54[13]Richtlinie (EU) 2006/54 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- … Continue reading regelt Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts, Richtlinie (EU) 2000/43[14]Richtlinie (EU) 2000/43 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl L 180 … Continue reading Diskriminierungen beruhend auf Rasse und ethnischer Abstammung, und Richtlinie (EU) 2000/78[15]Richtlinie (EU) 2000/78 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und … Continue reading Diskriminierungen aufgrund weiterer Gründe (Behinderung, Alter, sexuelle Ausrichtung und der für diesen Beitrag besonders relevante Diskriminierungsgrund der Religion oder der Weltanschauung).

Im Unterschied zum EU-Recht kennt das schweizerische Recht keinen spezifischen Regelungsrahmen, der gegen Diskriminierungen in privaten Arbeitsverhältnissen umfassenden Schutz gewährt. Das Gleichstellungsgesetz (GIG)[16]Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann vom 24. März 1995 (Gleichstellungsgesetz, GlG, SR 151.1.). beschränkt sich auf Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts. Andere Diskriminierungsgründe, wie ethnische Zugehörigkeit, sexuelle Orientierung, Alter, Religion oder Weltanschauung werden nicht erfasst. Arbeitnehmende müssen sich mit den allgemeinen arbeitsrechtlichen oder privatrechtlichen Bestimmungen behelfen,[17]Im Arbeitsrecht sind insbesondere Bestimmungen zum Kündigungsschutz (Art. 336 OR) und zum Persönlichkeitsschutz (328 OR) relevant. Siehe Lempen, 66. Was andere privatrechtlichen Bestimmungen … Continue reading die im Lichte der in der Bundesverfassung verankerten Grundrechte, namentlich des Diskriminierungsverbots[18]Art. 8 Abs. 2 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV, SR 101). und der Glaubens- und Gewissensfreiheit,[19]Art. 15 BV. auszulegen sind (sogenannte indirekte Drittwirkung[20]Hierzu z.B. Malinverni et al., Droit constitutionnel suisse : Les droits fondamentaux, vol. II, Bern 2021, 67, Rn. 134.). Forderungen nach einem gesetzlichen Ausbau des Diskriminierungsschutzes ist bisher, trotz mehrfacher Kritik seitens internationaler Menschenrechtsorgane, kein Erfolg beschieden.[21]Siehe z.B. Bericht der Arbeitsgruppe des Menschenrechtsrates zur allgemeinen regelmässigen Überprüfung (Universal Periodical Review) (Session vom 19. Juni – 14. Juli 2023), A/HRC/53/12, … Continue reading Es ist jedoch zu erwarten, dass sie wieder auf das politische Tapet kommen. Der europäische Regelungsrahmen, einschliesslich dessen Auslegung durch den EuGH, kann in diesem Kontext – sowohl positiv als auch negativ – einen Referenzpunkt für die Weiterentwicklung des Diskriminierungsschutzes in der Schweiz darstellen. Zudem bildet die europäische Rechtsprechung auch ausserhalb einer staatsvertraglichen Berücksichtigungspflicht[22]Zur Berücksichtigungspflicht, siehe Art. 16 Abs. 2 FZA. eine Inspirationsquelle für die schweizerischen Gerichte[23]Im Bereich des Diskriminierungsschutzes hat das Bundesgericht zum Beispiel die Argumentation des EuGH zur Zulässigkeit von Quoten zugunsten des unterrepräsentierten Geschlechts weitgehend … Continue reading und kann die Argumentation in arbeitsrechtlichen Diskriminierungsfällen oder in anderen Streitigkeiten im Zusammenhang mit religiösen Symbolen beeinflussen. So hat das Bundesgericht auf das Urteil Müller und Waabe in seinem Urteil vom 23. Dezember 2021 zum Genfer Laizitätsgesetz Bezug genommen,[24]BGE 148 I 160, E. 8.2., 185. das Staatsangestellten untersagt, ihre Religionszugehörigkeit durch äusserliche Zeichen öffentlich zu bekunden.

Ergänzend zum schweizerischen Recht stellt dieser Beitrag auch rechtsvergleichende Bezüge her. Sie dienen einer besseren Einordnung und kritischen Würdigung der besprochenen Urteile. Dabei wird der Blickwinkel auf die universellen Menschenrechtsabkommen ausgeweitet, die häufig im Schatten der EMRK stehen und in der Literatur zu religiösen Symbolen und Kleidungsstücken auf wenig Widerhall gestossen sind.[25]Für eine Übersicht über die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Verboten religiöser Kennzeichen am Arbeitsplatz, siehe Hertig Randall Maya/Kibboua Zohra, Le port … Continue reading

Der erste Teil des Beitrags gibt einen Überblick über die relevanten Urteile des EuGH, wobei sich die Zusammenfassung der beiden älteren Urteile Bougnaoui und Achbita auf das Wesentliche beschränkt und der Fokus auf die beiden jüngeren Urteile Waabe und Müller und S.C.R.L. gerichtet wird. Im zweiten Teil werden einige kontroverse Problemfelder näher beleuchtet. Der Beitrag schliesst mit Überlegungen zur europäischen Rechsprechung und zum Diskriminierungsschutz in der Schweiz.

B. Übersicht über die Rechtsprechung des EuGH

In allen vier Urteilen, in denen sich der EuGH bisher mit Verboten religiöser Symbole und religiös konnotierter Kleidungsstücken am Arbeitsplatz auseinandergesetzt hat, ging es um Arbeitnehmerinnen muslimischen Glaubens, die sich weigerten, am Arbeitsplatz auf das Tragen des Kopftuches zu verzichten. In den ersten drei Urteilen (Achbita, Bougnaoui, Wabe und Müller) betraf die arbeitsrechtliche Streitigkeit die Kündigung des Arbeitsverhältnisses. Im letzten Urteil (S.C.R.L.) wurde eine Diskriminierung bei der Anstellung geltend gemacht. In den verschiedenen Vorabentscheidungsverfahren ging es im Wesentlichen um die Frage, ob die jeweiligen Kopftuchverbote eine Diskriminierung im Sinne der Richtlinie 2000/78 darstellten. Letztere bezweckt die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf und ergänzt den in den anderen oben genannten Richtlinien vorgesehenen Diskriminierungsschutz aufgrund anderer Diskriminierungsgründe, namentlich des Geschlechts sowie der Rasse und der ethnischen Herkunft.[26]Art. 1 Richtlinie (EU) 2000/78.

Die Richtline (EU) 2000/78 erfasst sowohl direkte als auch indirekte Diskriminierungen.[27]Art. 2 Abs. 2 lit. a und b Richtlinie (EU) 2000/78. Die Unterscheidung zwischen den beiden Diskriminierungsformen ist insofern bedeutsam, als an die Zulässigkeit von mittelbaren Ungleichbehandlungen weniger hohe Anforderungen gestellt werden als im Fall von unmittelbaren Ungleichbehandlungen. Im ersten Fall sind die Rechtfertigungsgründe sehr offen formuliert (Vorliegen eines rechtmässigen Ziels),[28]Art. 2 Abs. 2 lit. b (i) Richtlinie (EU) 2000/78. während sie im zweiten Fall abschliessend geregelt und eng gefasst sind.[29]Den Unterschied zwischen den beiden Diskriminierungsformen unterstreicht Generalanwältin Medina wie folgt: „Im Wesentlichen basiert der ‚unmittelbare-Diskriminierung‘-Ansatz auf der … Continue reading Keine direkte Diskriminierung liegt vor, wenn sich die Ungleichbehandlung auf ein mit einem Diskriminierungsgrund zusammenhängendes Merkmal stützt, das eine „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt“.[30]Art. 4 Abs. 1 Richtlinie (EU) 2000/78. Eine weitere Ausnahme ist für berufliche Tätigkeiten innerhalb Kirchen und anderen religiösen oder weltanschaulichen Organisation vorgesehen (Art. 4 … Continue reading

I. Die Urteile Achbita und Bougnaoui

Im Fall Achbita stütze sich die Kündigung der Arbeitnehmerin, einer Rezeptionistin, auf eine interne Bestimmung, welche das sichtbare Tragen jedes politischen, philosophischen oder religiösen Zeichens am Arbeitsplatz verbietet. Das Neutralitätsgebot galt anfänglich als ungeschriebene Regel und wurde nach Frau Achbitas Weigerung, das Kopftuch abzulegen, als interne Regel verabschiedet. Im Fall Bougnaoui erging die Kündigung infolge von Beschwerden eines Kunden, der sich am Kopftuch der Softwaredesignern gestört hatte. Dabei war es unklar, ob sich die Auflösung des Arbeitsverhältnisses auf eine analoge interne Regelung wie im Fall Achbita stützen konnte.

Für den Gerichtshof ist das Vorliegen eines internen Neutralitätsgebots massgebend für die Qualifizierung der Diskriminierung. Fehlt eine Neutralitätsgebot (ein mögliches Szenario im Fall Bougnaoui), stellt die Kündigung eine direkte Diskriminierung aufgrund der Religion dar. Im gegenteiligen Fall verneint der Gerichtshof eine direkte Diskriminierung mit der Begründung, das Neutralitätsgebot komme auf alle religiösen, weltanschaulichen und politischen Zeichen unterschiedslos und undifferenziert zur Anwendung, wodurch alle Arbeitnehmenden gleichbehandelt würden. Die entsprechende Neutralitätspolitik könne jedoch eine mittelbare Diskriminierung darstellen, wenn erwiesen sei, dass sie tatsächlich Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung in besonderer Weise benachteiligt. Trifft dies zu, ist die faktische Ungleichbehandlung zulässig, wenn sie ein rechtmässiges Ziel verfolgt, angemessen und notwendig ist.[31]Art. 2 Abs. 2 lit. b i) Richtlinie (EU) 2000/78. Die Neutralitätsregel wertet der Gerichtshof als ein rechtmässiges Ziel, mit dem Hinweis, der Wunsch, der Kundschaft ein Bild der Neutralität zu vermitteln, gehöre zur unternehmerischen Freiheit, die in Art. 16 der Grundrechtecharta verbrieft ist. Das Erfordernis der Angemessenheit sei erfüllt, sofern die Neutralitätspolitik tatsächlich in kohärenter und systematischer Weise verfolgt werde. Erforderlich sei die Anwendung der Neutralitätsregel, wenn sie sich auf das unbedingt Erforderliche beschränke. Dies bedingt, dass sie sich nur an Arbeitnehmende richtet, die mit Kundschaft in Kontakt treten, und geprüft wird, ob den betroffenen Angestellten unter Berücksichtigung der unternehmerischen Zwänge und ohne zusätzliche Belastung eine Stelle ohne Kundenkontakt angeboten werden könne, anstatt sie zu entlassen.

Im Fall Bougnaoui hatte der Gerichtshof die Frage zu beantworten, ob der Wille der Arbeitgeber*in, den Wünschen der Kundschaft nachzukommen und Arbeitsleistungen nicht mehr von einer Arbeitnehmerin mit Kopftuch ausführen zu lassen, einer „wesentlichen und entscheidenden beruflichen Anforderung“ entspricht, die eine direkte Ungleichbehandlung zu rechtfertigen vermag. Der Gerichtshof hielt fest, solche Anforderungen seien nur unter sehr begrenzten Bedingungen anzunehmen und müssten von der Art der betreffenden beruflichen Tätigkeit oder den Bedingungen ihrer Ausübung objektiv vorgegeben sein. Subjektive Erwägungen, wie der Wille der Arbeitgeber*in, besonderen Kundenwünschen zu entsprechen, seien nicht erfasst.

II. Das Urteil Wabe und Müller

Dem Urteil Wabe und Müller lagen zwei arbeitsrechtliche Streitigkeiten zugrunde. Die erste betraf eine in einer Kindertagesstätte angestellte Heilerziehungspflegerin, die zweite eine Kassiererin und Verkaufsberaterin in einer Drogeriemarktkette. In beiden Fällen berief sich die arbeitgebende Partei auf ihre Neutralitätspolitik, die jedoch unterschiedlich ausgestaltet war.

In der Rechtssache Wabe hatte der Arbeitgeber, ein überparteilicher und überkonfessioneller Verein, der Kindertagesstätten betreibt, eine „Dienstanweisung zur Einhaltung des Neutralitätsgebots“ verabschiedet, die es den Mitarbeitenden vorschrieb, gegenüber Eltern, Kindern und Dritten am Arbeitsplatz keine sichtbaren Zeichen ihrer politischen, weltanschaulichen oder religiösen Überzeugungen zu tragen. Das Verbot erstreckte sich gemäss einem internen Informationsblatt auf Symbole wie das christliche Kreuz, das muslimische Kopftuch oder die jüdische Kippa, und war nebst der muslimischen Mitarbeiterin auch auf eine christliche Angestellte angewendet worden, der es nicht mehr gestattet wurde, ein Kreuz als Halskette sichtbar zu tragen. In der Rechtssache Müller erfasst die firmeninterne Weisung nur „auffällige grossflächige“ Zeichen religiöser, politischer oder weltanschaulicher Natur.

Im Zusammenhang mit der Rechtssache Wabe bestätigte der EuGH seine Rechtsprechung aus dem Jahr 2017, wonach eine unterschiedslos anwendbare Politik religiöser, weltanschaulicher oder politischer Neutralität keine unmittelbare Diskriminierung darstellt. Die Neutralitätsregel könne zwar Arbeitnehmenden, die religiös gebotenen Bekleidungsvorschriften befolgten, „besondere Unannehmlichkeiten bereiten[32]Waabe und Müller, Rn. 53., führe aber grundsätzlich keine untrennbar mit der Religion oder der Weltanschauung verbundene Ungleichbehandlung ein. Diese Schlussfolgerung stützte der EuGH auf eine Auslegung der in der Richtlinie (EU) 2000/78 aufgezählten Diskriminierungsgründe, die auch „Religion oder Weltanschauung“ umfassen. Diese Gründe seien im Lichte des Diskriminierungsverbotes von Art. 21 der Grundrechtecharta und der in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerten Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK) auszulegen. Zum einen seien „Religion oder Weltanschauung“ im Einklang mit Art. 21 der Grundrechtecharta als ein einziger und nicht als zwei unterschiedliche Diskriminierungsgründe zu verstehen, wobei der Grund der Weltanschauung von demjenigen der „politischen oder sonstigen Anschauung“ zu unterscheiden sei und sowohl religiöse als auch auf weltanschauliche oder spirituelle Überzeugungen umfasse. Zum anderen erstrecke sich die Gewissens- und Glaubensfreiheit gemäss der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auch auf Nichtgläubige (Atheist*innen, Agnostiker*innen, Skeptiker*innen und Gleichgültige). Diese Auslegung führt den EuGH zum Schluss, dass die Neutralitätsregel potenziell jede und jeden erfasse, weil nämlich jede Person eine Religion oder eine Weltanschauung haben könne und sich die Richtlinie nicht auf Ungleichbehandlungen zwischen Menschen mit einer Religion oder Weltanschauung gegenüber Menschen ohne Religion oder Weltanschauung beschränke.

Anders würdigte der Gerichtshof die Neutralitätspolitik der Drogeriekette Müller. Er kam zum Schluss, eine solche Regelung könne nicht nur zu einer indirekten, sondern auch zu einer direkten Diskriminierung führen. Als Begründung führte er an, eine auf „auffällige grossflächige“ Zeichen beschränkte Regelung sei geeignet, Anhänger*innen von Religionen, die das Tragen grosser Kleidungsstücke oder Zeichen, wie z.B. einer Kopfbedeckung vorsehen, stärker zu beeinträchtigen, und könne deshalb auf einem Kriterium beruhen, das mit der Religion oder der Weltanschauung untrennbar verbunden sei. In solchen Fällen würden die betroffenen Arbeitnehmenden wegen ihrer Religion oder Weltanschauung weniger günstig behandelt als andere, was eine unmittelbare Diskriminierung darstelle.

Unbeantwortet liess der Gerichtshof die Frage des vorlegenden Gerichts, ob die Neutralitätspolitik eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstelle, weil sie in der weit überwiegenden Anzahl von Fällen Frauen betreffe. Der EuGH führte hierzu an, der Diskriminierungsgrund aufgrund des Geschlechts sei in der Richtlinie 2000/78 nicht vorgesehen, weshalb er die Frage nicht zu prüfen brauche.

Der Gerichtshof wandte sich in der Folge der Rechtfertigung einer auf der Anwendung der Neutralitätspolitik beruhenden mittelbaren Benachteiligung aufgrund der Religion zu. Seine Argumentation bringt den Willen zum Ausdruck, die Anforderungen an die Rechtfertigung zu erhöhen. Der EuGH hielt eingangs fest, die Bedingungen des Vorliegens eines rechtmässigen Ziels und der Angemessenheit sowie Erforderlichkeit seien eng auszulegen. Danach knüpfte er an seine Rechtsprechung aus dem Jahr 2017 an und bestätigte unter Berücksichtigung der unternehmerischen Freiheit, dass das Verfolgen einer Neutralitätspolitik grundsätzlich ein rechtmässiges Ziel darstelle, insbesondere wenn sie auf Arbeitnehmende mit Kundenkontakt beschränkt sei. Einschränkend präzisierte er, die Neutralitätspolitik müsse, um die Anforderung der Rechtmässigkeit zu erfüllen, einem wirklichen Bedürfnis der Arbeitgeber*in entsprechen, was letztere nachzuweisen habe.

Zum konkretisierungsbedürftigen Erfordernis eines „wirklichen Bedürfnisses“ enthält das Urteil einige Hinweise. Der EuGH greift die in beiden Rechtssachen aufgeführten Ziele auf, welche die Neutralitätspolitik laut der arbeitgebenden Partei verfolgen sollte, und erwähnt exemplarisch drei Zielsetzungen, die einem „wirklichen Bedürfnis“ entsprechen können.

Erstens kann eine Neutralitätspolitik rechtmässig sein, wenn sie darauf abzielt, Rechte und gerechtfertigte Erwartungen der Kundschaft zu berücksichtigen. Dieses Erfordernis konkretisiert der EuGH sowohl positiv als auch negativ: Rechte und gerechtfertigte Erwartungen sind zum Beispiel das Recht der Eltern, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen, und ihr Wunsch, dass ihr Nachwuchs von Personen betreut wird, die im Kontakt mit den Kindern nicht ihre Religion oder Weltanschauung zum Ausdruck bringen. Keine gerechtfertigten Erwartungen liegen in einer Konstellation wie im Fall Bougnaoui vor, in welcher die Kündigung wegen einer Beschwerde eines Kunden ausgesprochen wird und keine interne Neutralitätsregel existiert, oder wie in der Rechtssache Feryn,[33]EuGH, Urteil vom 10. Juli 2008 in der Rechtssache C-54/07, ECLI:EU:C:2008:397 – Feryn. in welcher der Arbeitgeber gestützt auf angebliche diskriminierende Forderungen der Kundschaft öffentlich erklärte, Arbeitnehmende einer bestimmten Herkunft nicht einstellen zu wollen.

Zweitens kann das von der Drogeriekette Müller angeführte Ziel, soziale Konflikte vermeiden zu wollen, einem wirklichen Bedürfnis der Arbeitgeber*in entsprechen.

Drittens erachtet der Gerichtshof für das Vorliegen eines wirklichen Bedürfnisses als besonders bedeutsam, dass die Arbeitgeber*in ohne eine Neutralitätspolitik nachweislich in ihrer unternehmerischen Freiheit beeinträchtigt würde, da sie „angesichts der Art [ihrer] Tätigkeit oder des Umfelds, in dem diese ausgeübt wird, nachteilige Konsequenzen zu tragen hätte.“

Für den Fall, dass ein auf auffällige grossflächige Zeichen beschränktes Verbot unter Berücksichtigung der Umstände nicht als unmittelbare, sondern als mittelbare Ungleichbehandlung einzustufen sei, machte der Gerichtshof deutlich, dass die Anforderungen an die Rechtfertigung kaum je erfüllt sein dürften. Er hielt fest, dass das Tragen jedes noch so kleinen Zeichens die Eignung der Massnahme beeinträchtige und die Kohärenz der Neutralitätspolitik selbst in Frage stelle.

Anschliessend befasste sich der EuGH mit dem Verhältnis zwischen der Richtlinie und den europäischen Grundrechten einerseits, sowie dem nationalen Recht andererseits. Zum ersten Punkt hielt er anknüpfend an die Urteile aus dem Jahr 2017 fest, dass die Richtlinie im Lichte der in der Grundrechtecharta verbrieften Rechte auszulegen sei. Dies bedinge, dass im Rahmen der Angemessenheitsprüfung die verschiedenen in Rede stehenden Rechte und Freiheiten zu berücksichtigen seien. Dabei führte der Gerichtshof klärend an, dass nebst der unternehmerischen Freiheit (Art. 16 Charta) auch die Gedanken‑, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 10 Charta) zu beachten seien.

Die Frage des Verhältnisses zwischen der Richtlinie und dem nationalen Recht formulierte das vorlegende Gericht in Zusammenhang mit Art. 8 der Richtlinie. Laut dieser Bestimmung enthält die Richtlinie Mindestanforderungen und steht günstigeren nationalen Vorschriften nicht entgegen. Das nationale Gericht wollte wissen, ob diese Bestimmung den nationalen Gerichten die Möglichkeit eröffnet, die auf der innerstaatlichen Ebene verbriefte Religionsfreiheit bei der Prüfung der Angemessenheit einer mittelbaren Ungleichbehandlung zu berücksichtigen. Der EuGH antwortete auf diese Frage, dass die Richtlinie einen allgemeinen Rahmen für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf festlegt und den Mitgliedstaaten angesichts des fehlenden Konsenses auf Unionsebene hinsichtlich der Stellung der Religion Wertungsspielräume belässt. Die Aufgabe, die Gedanken‑, Weltanschauungs- und Religionsfreiheit in Einklang zu bringen mit den rechtmässigen Zielen, die eine Ungleichbehandlung zu rechtfertigen vermögen, obliegt in erster Linie den Mitgliedstaaten und ihren Gerichten.

III. Das Urteil S.C.R.L.

Das Urteil S.C.R.L. vom 22. Oktober 2022 ist das jüngste Urteil des EuGH zum Verbot religiöser Symbole und Kleidungsstücke in privatrechtlichen Arbeitsverhältnissen. Die Klägerin im Ausgangsverfahren hatte sich im Rahmen ihrer Berufsausbildung in Bürokommunikation für ein unentgeltliches Praktikum bei S.C.R.L. beworben. Im Rahmen des Vorstellungsgesprächs wurde der kopftuchtragenden Bewerberin mitgeteilt, ihre Bewerbung werde positiv bewertet, und sie wurde gefragt, ob sie bereit wäre, sich an die unternehmensinterne Neutralitätsregel zu halten. Diese verpflichtete die Arbeitnehmenden dazu „darauf zu achten, dass sie ihre religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugungen, welche diese auch immer sein mögen, in keiner Weise, weder durch Worte noch durch die Kleidung oder auf andere Weise, zum Ausdruck bringen“. Die Bewerberin gab zu verstehen, sie sei nicht gewillt, ihr Kopftuch abzulegen, und könne sich dementsprechend nicht an die Neutralitätsregel halten. Daraufhin wurde ihr mitgeteilt, ihre Bewerbung würde nicht angenommen. Sie erneuerte in der Folge ihre Bewerbung und bekundete ihre Bereitschaft, eine alternative Kopfbedeckung zu tragen (Mütze, Bandana). Dieser vermittelnde Vorschlag wurde abgelehnt, mit der Begründung, das Tragen jeglicher Kopfbedeckung sei in den Geschäftsräumen verboten.

Die zahlreichen Fragen des vorlegenden Gerichts zielten im Wesentlich darauf ab, den Gerichtshof zu bewegen, seine bisherige Auslegung und Anwendung des Begriffs der direkten Diskriminierung im Zusammenhang mit Verboten religiöser Symbole am Arbeitsplatz zu überdenken und den Spielraum der nationalen Gerichte für einen stärkeren Diskriminierungsschutz gestützt auf das nationale Recht auszuweiten. Dabei ging das vorlegende Gericht von der Annahme aus, der Ansatz des belgischen Rechts, Religion und Weltanschauung als zwei unterschiedliche Diskriminierungsründe zu behandeln, führe für kopftuchtragende muslimische Arbeitnehmerinnen zu einem besseren Schutz.

Der EuGH bestätigte seine bisherige Rechtsprechung, wonach Verbote, die sich auf eine Neutralitätspolitik stützen, keine direkte Diskriminierung darstellen. Seiner Argumentation im Urteil Wabe und Müller folgend anerkannte er, dass den nationalen Gerichten ein Wertungsspielraum zur Berücksichtigung der im nationalen Verfassungsrecht geschützten Religionsfreiheit zugestanden werde, insbesondere hinsichtlich des Ausgleichs der verschiedenen in Rede stehenden Rechte und Interessen. Die Grenzen dieses Spielraums seien jedoch überschritten, wenn der in der Richtlinie 2000/78 vorgesehene einheitliche Diskriminierungsgrund „der Religion oder der Weltanschauung“ auf nationaler Ebene in zwei unterschiedliche Gründe aufgespaltet würde. Ein solcher Ansatz würde „die praktische Wirksamkeit des allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf beeinträchtigen[34]S.C.R.L., Rn. 54., weil er dazu führen würde, „Untergruppen von Arbeitnehmern zu schaffen“.[35]S.C.R.L., Rn. 55.

Auf eine Untergruppe von Arbeitnehmende nahm ein Teil der Vorlagefragen Bezug, in denen das nationale Gericht einen Vergleich zwischen verschiedenen Personengruppen vornahm. Es erblickte eine mögliche Benachteiligung einer „Arbeitnehmerin, die ihre Religionsfreiheit durch das sichtbare Tragen eines (konnotierten) Zeichens, hier eines Kopftuchs, ausüben möchte“ gegenüber mehreren Gruppen, unter anderem Menschen anderer Religionszugehörigkeit oder Arbeitnehmern der gleichen Überzeugung, die sich dafür entscheiden würden, „diese durch das Tragen eines Bartes zu bekunden[36]S.C.R.L., Rn. 23.. Indem das nationale Gericht den Vergleich auf eine kopftuchtragende Muslimin eingrenzte und diese mit Angehörigen anderer Religionen oder einem Muslim mit Bart verglich, lud es den EuGH implizit dazu ein, sich mit einer Mehrfachdiskriminierung beruhend auf Religion und Geschlecht auseinanderzusetzen. Der EuGH äusserte sich nicht zu dieser Problematik, mit der Begründung, das Geschlecht falle nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/78.

C. Problemfelder

Die oben skizzierte Rechtsprechung wirft viele komplexe Fragen auf, weshalb sich eine Auswahl aufdrängt. Im Folgenden werden einige Problemfelder aufgegriffen, die im Nachgang an die Urteile Achbita und Bougnaoui im Zentrum der Kritik standen und die in den Folgeurteilen Wabe und Müller und S.C.R.L. erneut an den EuGH herangetragen wurden.

I. Direkte oder indirekte Diskriminierung?

Stellt ein Kopftuchverbot, das sich auf eine firmeninterne Politik der religiösen und weltanschaulichen Neutralität stützt, eine direkte oder indirekte Diskriminierung im Sinne der Richtlinie 2000/78 dar? Diese Frage wird seit den Urteilen aus dem Jahr 2007 kontrovers diskutiert.[37]Eine direkte Diskriminierung befürworten z.B. Howard Erica, Headscarves and the CJEU: Protecting fundamental rights and pandering to prejudice, the CJEU does both, Maastricht Journal of European and … Continue reading Der EuGH bestätigt in den Urteilen Wabe und Müller und S.C.R.L. die im Urteil Achbita begründete Rechtsprechung und stuft eine alle religiösen und weltanschaulichen Zeichen umfassende Neutralitätspolitik konsequent als indirekte Diskriminierung ein, sofern sie allgemein und unterschiedslos angewandt wird. Eine auf „auffällige grossflächige“ Zeichen beschränkte Neutralitätspolitik, mit der er sich zum ersten Mal im Urteil Wabe und Müller befasst hat, kann laut EuGH demgegenüber eine direkte Diskriminierung darstellen.

Die Frage der Rechtsnatur der Diskriminierung steht in einem engen Zusammenhang mit der Frage der relevanten Vergleichsgruppe, die in Diskriminierungsfällen nicht selten Schwierigkeiten aufwirft. In den Urteilen Wabe und Müller sowie S.C.R.L. stellte der Gerichtshof klar, Religion und Weltanschauung seien zum einen als ein einziger Diskriminierungsgrund zu verstehen und zum anderen dahingehend auszulegen, dass sie auch Menschen ohne Glauben oder Weltanschauung erfassen (Atheist*innen, Agnostiker*innen, etc.). Diese weite Interpretation bekräftigt das Argument des EuGH, die Neutralitätsregel finde auf alle Arbeitnehmenden unterschiedslos Anwendung, da jede Person eine Überzeugung habe und somit keine Vergleichsgruppe auszumachen sei, die de iure bessergestellt wäre.[38]Siehe die Kritik in: EuGH, Schlussanträge der Generalanwältin Medina vom 28. April 2022 in der Rechtssache C-344/20: ECLI:EU:C:2022:328 – S.C.R.L., Rn. 50: „Ich muss zugeben, dass der … Continue reading

Die folgenden Überlegungen werden die in der Lehre bereits umfassend thematisierte Frage der relevanten Vergleichsgruppen nicht aufgreifen.[39]Siehe z.B. Cloots, 601 ff.; van den Brink, 868 ff.; Hennette-Vauchez, European Constitutional Law Review 2017, 747 f.; Nozizwe Dube, Not just another Islamic headscarf case: LF v SCRL and the … Continue reading Sie werden das Augenmerk zunächst auf die grundsätzlichere Frage richten, inwiefern eine kategorielle Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Diskriminierung sinnvoll ist, und diese Frage zum Anlass nehmen, auf eine Inkohärenz in der Argumentation des Gerichtshofs im Urteil Wabe und Müller hinzuweisen.

Die Kontroverse, ob die Neutralitätsregel eine direkte oder eine indirekte Diskriminierung darstellt, hängt mit der kategoriellen Unterscheidung zusammen, welche die Richtlinie 2000/78 zwischen den beiden Diskriminierungsformen trifft. Die unterschiedlichen Anforderungen an die Rechtfertigung von unmittelbaren und mittelbaren Ungleichbehandlungen bringt die Auffassung zum Ausdruck, dass direkte Diskriminierungen schwerwiegender sind als indirekte Diskriminierungen. Als mögliche Kriterien, diesen Schluss zuzulassen, bieten sich die bei der Verabschiedung der Regel verfolgte Absicht und/oder die Auswirkungen der Regel an.[40]Das Kriterium der Absicht stellt Sharpston, Shadow Opinion, Rn. 207 in den Vordergrund: „Indirect discrimination occurs when an apparently neutral criterion is applied to everyone, but the result … Continue reading Wenn der Gesetzgeber, oder eine Arbeitgeber*in, direkt an ein verpöntes Merkmal anknüpft, kann argumentiert werden, dies geschehe mit der Absicht, oder zumindest mit dem Wissen, eine geschützte Personengruppe zu benachteiligen und auszugrenzen. Die explizite Anknüpfung an einen Diskriminierungsgrund, oder an ein mit ihm direkt verbundenes Merkmal,[41]Die Schwangerschaft stellt z.B. ein mit dem Geschlecht unmittelbar verbundenes Kriterium dar. hat zur Folge, dass Menschen, die dieses Merkmal nicht aufweisen, alle verschont bleiben und sich die negativen Auswirkungen auf die direkt betroffene Gruppe konzentrieren: Eine Regel, die Frauen die Ausübung eines bestimmten Berufs untersagt, nimmt wissentlich und willentlich Frauen ins Visier und wirkt sich auch nur auf Frauen aus. Eine Bestimmung, die Teilzeitbeschäftigte gegenüber Vollzeitbeschäftigten schlechterstellt, benachteiligt angesichts der sozialen Wirklichkeit Frauen, doch nicht ausschliesslich: Männer, die Teilzeit arbeiten, sind auch erfasst. Weil die Auswirkungen einer generell abstrakten Norm auf verschiedene Personengruppen nicht immer einfach vorherzusehen sind, kann auch nicht ohne Weiteres eine diskriminierende Absicht gegenüber der betroffenen Gruppe unterstellt werden.

Die Übergänge zwischen diesen beiden Konstellationen sind jedoch fliessend.[42]In diesem Sinne Sharpston, Shadow Opinion, Rn. 217, 261. Dies kann beispielhaft anhand des Verbots der Ganzkörperverhüllung illustriert werden, mit dem sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil S.A.S. gegen Frankreich[43]EGMR (GK), Urteil vom 1. Juli 2014, Nr. 43835/11, S.A.S. g. Frankreich. und der Menschenrechtsausschuss in der Beschwerde Sonya Yeker gegen Frankreich befasst haben.[44]Menschenrechtsausschuss, Entscheidung vom 17. Juli 2018, Nr. 2747/2016, Sonya Yeker g. Frankreich. Die französische Regierung unterstrich, das Verbot sei allgemein formuliert und nicht auf den Niqab oder die Burka beschränkt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte diesem Argument eine gewisse Relevanz zugestanden.[45]S.A.S. g. Frankreich, Rn. 151: „The Court is aware of the fact that the impugned ban mainly affects Muslim women who wish to wear the full-face veil. It nevertheless finds it to be of some … Continue reading Demgegenüber unterzog der Menschenrechtsausschuss die französische Bestimmung einer genaueren Prüfung und berücksichtigte nebst ihrem Wortlaut auch den gesamten Kontext. Er unterstrich zum einen, dass das in Rede stehende Gesetz zahlreiche Ausnahmen vorsieht (z.B. für Gesichtsverhüllungen aus gesundheitlichen oder beruflichen Gründen, oder im Zusammenhang mit Sport, künstlerischen oder traditionellen Feiern oder Veranstaltungen) und letztlich de facto kaum mehr als die islamische Vollverschleierung erfasst. Hinzu kommt, dass das Verbot in erster Linie gegenüber Frauen mit voller Gesichtsverhüllung durchgesetzt wird. Die der Verabschiedung des Gesetzes vorangehenden Debatten liessen auch darauf schliessen, dass es bei dem Verbot um den islamischen Vollschleier geht und es sich dementsprechend gegen muslimische Frauen richtet, die diese Form der Verschleierung tragen. Die Analyse des Menschenrechtsausschusses zeigt, dass sich das französische Gesichtsverhüllungsverbot unter dem Blickwinkel der verfolgten Absicht und der Auswirkungen kaum von einer direkten Diskriminierung unterscheiden lässt.

Weil die Übergänge zwischen verschiedenen Diskriminierungsformen fliessend sind, ist eine kategorielle Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Diskriminierung und den damit einhergehenden unterschiedlichen Anforderungen an die Rechtfertigung, wie sie die Richtlinie 2000/78 vorsieht, nicht unproblematisch. Bestrebungen, den gesetzlichen Diskriminierungsschutz in der Schweiz zu verstärken, sollten diesen Schwierigkeiten Rechnung tragen und die europäische Regelung in diesem Punkt als Inspirationsquelle kritisch hinterfragen. Gefordert sind auch die Gerichte: die pauschalisierende, implizite Annahme, direkte Ungleichbehandlungen seien schwerwiegender als indirekte Ungleichbehandlungen, darf nicht dazu verleiten, dass die Rechtfertigung von mittelbaren Ungleichbehandlungen keiner stringenten Prüfung unterzogen wird. Auf die Frage, inwiefern der Gerichtshof dieses Defizit des Urteils Achbita in den jüngeren Urteilen korrigiert hat, ist später zurückzukommen.[46]Siehe unten, C.III.

Im Folgenden ist einer weiteren Frage nachzugehen, welche die Folgerechtsprechung aufwirft: Ist die vom Gerichtshof getroffene Unterscheidung zwischen einer alle sichtbaren Zeichen umfassenden Neutralitätsregel und einer, die auf auffällige grossflächige Zeichen beschränkt ist, kohärent? Dem Gerichtshof ist insofern zuzustimmen, dass ein partielles Verbot zahlreiche Fragen aufwirft, die sich auch für analoge staatliche Regelungen stellen (wie das französische Gesetz, welches das Tragen ostentativer religiöser Zeichen oder Kleidungsstücke verbietet[47]Loi n° 2004-228 encadrant le port de signes ou de tenues manifestant une appartenance religieuse dans les écoles, collèges et lycées public vom 3. März 2004. Siehe auch das Genfer … Continue reading). Die Begriffe „auffällig“ und „grossflächig“ sind unbestimmt und dementsprechend unter dem Blickwinkel der Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit problematisch. Verstärkend tritt hinzu, dass das, was als „auffällig“ gilt, kulturell geprägt ist und von der Mehrheitsgesellschaft abhängt. Als auffällig wird wahrgenommen, was im Lichte der dominanten Kultur unvertraut ist – das islamische Kopftuch, der Turban des Sikhs, die jüdische Kippa, nicht jedoch das christliche Kreuz. Damit entfaltet ein partielles Verbot gegenüber religiösen Minderheiten ein erhebliches Ausgrenzungspotenzial und ist ähnlich wie das französische Gesichtsverhüllungsverbot unter dem Gesichtspunkt sowohl der Absicht als auch der Auswirkungen problematisch. Eine auf auffällige grossflächige Zeichen beschränkte Regel legt einerseits den Verdacht nahe, dass sie bewusst konzipiert wurde, um religiöse Zeichen der Mehrheitsgesellschaft nicht zu tangieren. Andererseits ist sie in den Worten des EuGH geeignet „Personen, die religiösen oder weltanschaulichen Strömungen anhängen, die das Tragen eines grossen Kleidungsstücks oder Zeichens, wie beispielsweise einer Kopfbedeckung, vorsehen, stärker zu beeinträchtigen.“[48]Wabe und Müller, Rn. 72. Aus diesem Grund beruht die Regel laut dem EuGH auf einem Kriterium, das mit dem geschützten Grund – demjenigen der Religion oder der Weltanschauung – „untrennbar verbunden“ ist.[49]Wabe und Müller, Rn. 73. Sie ist deshalb „als unmittelbar auf diesen Grund gestützt“[50]Wabe und Müller, Rn. 73. anzusehen.

Bei der Argumentation des EuGH stehen die konkreten Auswirkungen des Verbots „auffälliger grossflächiger“ Zeichen im Vordergrund. Die Regel betrifft Angehörige gewisser Religionen überproportional, doch nicht ausschliesslich. Sie würde auch den theoretischen Fall eines Christen oder einer Christin erfassen, die einen überdimensionierten Anhänger eines Kreuzes tragen würden. Die Regel ist in diesem Sinn auch „unterschiedslos“ anwendbar, ein Kriterium, auf welches sich der EuGH gestützt hat, um eine umfassende Neutralitätsregel als mittelbare Diskriminierung zu qualifizieren. Wird auf die Auswirkungen der Regel abgestellt, wie das der EuGH im Urteil Wabe und Müller tut, erscheint eine kategorielle Unterscheidung zwischen einer umfassenden und einer partiellen Neutralitätsregel fragwürdig.[51]Van den Brink, 866; kritisch auch Mulder, 1513 s. Ein alle sichtbaren Zeichen erfassendes Verbot ist auch geeignet, „Personen, die religiösen oder weltanschaulichen Strömungen anhängen, die das Tragen eines [grossen] Kleidungsstücks oder Zeichens, wie beispielsweise einer Kopfbedeckung, vorsehen, stärker zu beeinträchtigen“. Im vorstehenden, zitierten Satz wird eine Unterscheidung getroffen zwischen Religionen, welche für die Gläubigen Kleidervorschriften vorsehen, und solchen, die diese Frage nicht normieren.[52]Diesbezüglich bestehen bedeutende Unterschiede zwischen dem Christentum, einerseits, und dem Judentum sowie dem Islam andererseits. Siehe hierzu die historischen, theologischen und soziologischen … Continue reading Nur ein verschwindend kleiner Teil von Menschen christlicher Konfession erachtet das sichtbare Tragen eines Symbols als eine religiöse Vorschrift, im Unterschied z.B. zu muslimischen Frauen, jüdischen Männern oder Sikhs. Hinzu kommt, dass diese religiös vorgeschriebenen Zeichen (Kopftuch, Kippa, Turban) in unserem Kulturkreis als „auffällig“ wahrgenommen werden, so dass die Auswirkungen eines beschränkten Neutralitätsgebots und eines umfassenden, auf alle sichtbaren Zeichen anwendbaren Verbots, praktisch identisch sind. Wird auf die Absicht abgestellt (was der EuGH in seinem Urteil nicht tut), liegt der Schluss nahe, dass die allgemein formulierte Neutralitätsregel im heutigen sozialen Kontext in der Regel auf das islamische Kopftuch abzielt. Es dürfte kaum ein Zufall sein, dass in allen vom EuGH beurteilten Rechtssachen muslimische Frauen betroffen waren. Eine kontextualisierte Analyse, anstatt eine formalistische Betrachtungsweise, legt auch eine Prüfung des Neutralitätsgebots im Lichte der Mehrfachdiskriminierung nahe.

II. Mehrfachdiskriminierung

Eine häufig geäusserte Kritik an den Urteilen Achbita und Bougnaoui beanstandet, dass sich die Analyse des Gerichtshofs auf einen einzelnen Diskriminierungsgrund (Religion und Weltanschauung) beschränkt hat und die Neutralitätsregel nicht auch im Lichte anderer Kriterien (Geschlecht und ethnische Herkunft) geprüft hat.[53]Zu dieser „dreifachen Diskriminierung“, siehe Generalanwältin Sharpstons Shadow Opinion, Rn. 41. Zur Kritik der Kopftuchurteile des EuGH aus der Warte der Intersektionalität, siehe Hertig … Continue reading Bei einer solchen Prüfung geht es nicht darum, diese Diskriminierungsgründe voneinander losgelöst sukzessive zu analysieren, sondern im Sinne der Theorie der Intersektionalität das Zusammenwirken der verschiedenen Kriterien zu berücksichtigen.[54]Zur intersektionellen Diskriminierung, siehe Kleber Eleanor, La discrimination multiple. Etude de droit itnernational, suisse et européen, Zurich 2015, 32 ff.; Malinverni et al., 583 f., Rn. 1182. Die Interaktion zwischen dem Kriterium der Religion, des Geschlechts und der ethnischen Herkunft produziert spezifische Stereotypen, die sich nicht auf die Summe der mit jedem einzelnen Kriterium verbundenen Vorurteile reduzieren lassen. Kopftuchverbote zum Beispiel gründen auf verschiedenen, miteinander verbundenen Vorstellungen. Sie evozieren das Bild der unterworfenen, rückständigen islamischen Frau, die sich grundlegend von der selbstbestimmten, gleichgestellten Frau unseres Kulturkreises unterscheidet. Das Kopftuch als Symbol für Fundamentalismus und Terrorismus ist auch ein verbreitetes Bild. Diese spezifischen Stereotypen und die mit ihnen einhergehenden Ausgrenzungstendenzen bleiben teilweise im Dunkeln, wenn Neutralitätsgebote sukzessive im Lichte verschiedener Kriterien analysiert werden. Eine isolierte Betrachtungsweise kann auch dazu führen, dass die Diskriminierung gar nicht erkannt wird.[55]Siehe hierzu Kimberele Crenshaws grundlegenden Aufsatz, der Schutzlücken im Antidiskriminierungsrecht anhand von Gerichtsentscheiden aufzeigt, die schwarze Frauen betreffen. Die Autorin verweist … Continue reading

In den Urteilen Wabe und Müller und S.C.R.L. ergriff der Gerichtshof nicht die Gelegenheit, sich mit dem Problemkreis der Mehrfachdiskriminierung auseinanderzusetzen. Im ersten Urteil wich er dieser Fragestellung aus mit der Begründung, die in Rede stehende Richtlinie (EU) 78/2000 sei auf den in einer anderen Richtlinie vorgesehenen Diskriminierungsgrund des Geschlechts nicht anwendbar. In der Lehre wurde aufgezeigt, dass ein sektorieller Regelungsrahmen, wie ihn das Gemeinschaftsrecht kennt, eine intersektionelle Analyse durchaus zulässt.[56]Siehe Fredman Sandra, Intersectional discrimination in EU gender equality and non-discrimination law, Luxemburg 2016, 66 ff., 87. Die Argumentation des Gerichtshofs zeigt jedoch, dass ein sektorieller Ansatz in der Praxis einer holistischen, alle Diskriminierungsgründe erfassenden Prüfung abträglich sein kann,[57]Vgl. Donegan Cara, Thinly veiled discrimination: Muslim women, intersectionality and the hybrid solution of reasonable accommodation and proactive measures, European journal of legal studies, 2020, … Continue reading weil es nicht auf der Hand liegt, drei unterschiedliche Richtlinien im gleichen Fall beizuziehen.[58]Richtlinie (EU) 2000/78 für die Religion, Richtlinie (EU) 2000/43 für die ethnische Herkunft und Richtlinie (EU) 2006/54 für das Geschlecht. Diese praktische Schwierigkeit sollte in der Schweiz berücksichtigt werden. Regelungsansätze, den Diskriminierungsschutz im Arbeitsleben durch die Verabschiedung eines neuen, das Gleichstellungsgesetz ergänzenden Gesetzes zu verstärken, wären einer intersektionellen Analyse nicht förderlich.

Allgemein lässt sich feststellen, dass sich die Gerichte bisher nur zögernd mit Mehrfachdiskriminierungen befasst haben. Dies trifft sowohl auf den EuGH als auch auf das schweizerische Bundesgericht zu. Im Hinblick auf die europäische Rechtsordnung ist dies insofern erstaunlich, als die Problematik bereits stärker thematisiert wurde als in der Schweiz.[59]Hierzu Hertig Randall/Kibboua, 312 m.w.H.; siehe auch den Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Anwendung der Richtlinie 2000/43/EG zur Anwendung des Grundsatzes … Continue reading

Die Rechtsprechung zur Intersektionalität ist zwar spärlich, doch nicht inexistent. Interessante Ansätze finden sich zum Beispiel in der Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts und des Menschenrechtsausschusses.[60]Für weitere Beispiele aus der ausländischen Rechsprechung, siehe Bribosia Emmanuelle/Médard Inghilterra Robin/Rorive Isabelle, Discrimination intersectionnelle en droit: mode d’emploi, Revue … Continue reading In einem Urteil vom 27. Januar 2015 hatten sich die Richter*innen aus Karlsruhe mit der Entlassung von zwei muslimischen, kopftuchtragenden Frauen, einer Lehrerin und einer Sozialpädagogin, auseinanderzusetzen.[61]BVerfGE 138, 296. Sie würdigten die auf ein landesweites gesetzliches Verbot religiöser Bekundungen gestützte Kündigung in beiden Fällen als eine Verletzung der Glaubens- und Gewissensfreiheit. Dem Diskriminierungsverbot kam letztlich kein über die Religionsfreiheit hinausgehender Schutzgehalt zu. Dennoch ist es nennenswert, dass das Bundesverfassungsgericht festhielt, aufgrund des Verbots würden „derzeit faktisch vor allem muslimische Frauen von der qualifizierten beruflichen Tätigkeit als Pädagoginnen ferngehalten“,[62]BVerfGE 138, 296, Rn. 96. weshalb die gesetzliche Regelung „zugleich in einem rechtfertigungsbedürftigen Spannungsverhältnis zum Gebot der tatsächlichen Gleichberechtigung von Frauen[63]BVerfGE 138, 296, Rn. 96. steht. Bei Frauenberufen ist eine solche Mehrfachdiskriminierung besonders plausibel. Dazu gehören nebst der Lehrtätigkeit auf der Unterstufe, mit der sich das Bundesverfassungsgericht auseinandergesetzt hat, auch die Kleinkinderbetreuung und -erziehung, um die es im der Rechtssache Wabe ging. Auch bei den Berufen, die in der Rechtssache Achbita (Rezeptionistin) und Müller (Verkäuferin in einer Drogeriekette) betroffen waren, dürften Frauen überproportional vertreten sein.

Einen Schritt weiter als das Bundesverfassungsgericht geht die Analyse des Menschenrechtsausschusses, der in zwei Entscheiden explizit die Problematik der Intersektionalität aufgreift und nebst der Verletzung der Religionsfreiheit auch eine Mehrfachdiskriminierung gegenüber muslimischen Frauen feststellt. In der Entscheidung F.A. gegen Frankreich hatte sich der Menschenrechtsausschuss mit einer ähnlichen Problematik zu befassen wie der EuGH in der Rechtssache Wabe.[64]Menschenrechtsausschuss, Entscheidung vom 18. August 2018, Nr. 2662/2015, F.A. g. Frankreich. Es ging auch um eine muslimische Frau, die in einer privaten Kindertagesstätte als Erzieherin angestellt war und deren Arbeitsverhältnis wegen Verstoss gegen die interne Neutralitätsregel gekündigt wurde. Dabei handelte es sich um ein partielles, auf „auffällige“ Symbole beschränktes Gebot. In dieser unter dem Namen „Baby Loup“ stark mediatisierten Rechtssache analysierte der Menschenrechtsausschuss die Kündigung und die ihr zugrundeliegende Neutralitätsregel auch im Lichte des Diskriminierungsverbots. Er folgte den Ausführungen der Beschwerdeführerin, wonach das Neutralitätsgebot das islamische Kopftuch überproportional betreffe und gab der Befürchtung Ausdruck, die Auswirkungen der Regel auf das Gefühl der Ausgrenzung und Marginalisierung der betroffenen Gruppe könnten den angestrebten Zielen zuwiderlaufen. Nach einer Prüfung der vorgebrachten Rechtfertigungsgründe kam es zum Schluss, die Kündigung sei mit der Glaubens- und Gewissensfreiheit unvereinbar und stelle eine Mehrfachdiskriminierung („intersectional discrimination“) gestützt auf das Geschlecht und die Religion dar. Zum gleichen Befund kam er aufgrund einer analogen Argumentation in der bereits erwähnten Entscheidung zum französischen Gesichtsverhüllungsverbot im öffentlichen Raum.[65]Menschenrechtsausschuss, Entscheidung vom 17. Juli 2018, Nr. 2747/2016, Sonya Yeker g. Frankreich.

III. Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen

Einer der Hauptkritikpunkte der Urteile Achbita und Bougnaoui richtete sich auf die Rechtfertigungsebene. Wie es Eleanor Sharpston in ihrer „Shadow Opinion“ zum Urteil Wabe und Müller hervorhebt, birgt die kategorielle Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Diskriminierungen die Gefahr, dass mittelbare Ungleichbehandlungen, wie sie laut EuGH religiöse und weltanschauliche Neutralitätsregeln darstellen können, keiner stringenten Prüfung unterzogen werden.[66]Sharpston, Shadow Opinion, Rn. 43: „Where an act by an employer is classified as direct discrimination, the available avenues under Directive 2000/78 nevertheless to justify it are both few in … Continue reading Dieses Risiko betrifft sowohl den Rechtfertigungsgrund als auch die Verhältnismässigkeitsprüfung. Die Folgeurteile greifen diese Kritik auf. Der Frage, inwiefern es gelungen ist, die von Generalanwältin Sharpston beanstandete Schutzlücke („legal black hole“) zu schliessen, wird im Folgenden nachgegangen.

1. Rechtfertigungsgrund

Während bei direkten Diskriminierungen laut Richtlinie (EU) 2000/78 nur klar umschriebene, abschliessend aufgeführte Rechtfertigungsgründe in Frage kommen, sind die Anforderungen bei indirekten Diskriminierungen offen formuliert (Vorliegen eines rechtmässigen Ziels).[67]Siehe oben, B. Eine Neutralitätspolitik, wie sie in den besprochenen Urteilen in Rede steht, kommt als Rechtfertigungsgrund für unmittelbare Diskriminierungen nicht in Frage. Sie wurde aber vom EuGH als „rechtmässiges Ziel“ anerkannt, das Arbeitgebende geltend machen können, um eine mittelbare Diskriminierung zu rechtfertigen.

Neutralität ist ein positiv konnotiertes Konzept. Es ist mit Vorstellungen von Objektivität verknüpft und dürfte deshalb intuitiv kaum je mit einer diskriminierenden Praxis assoziiert werden. Die positive Aufladung des Neutralitätsbegriffs hat vielleicht dazu geführt, dass der EuGH dieses Konzept kaum hinterfragt und ohne kritische Analyse als legitimen Rechtfertigungsgrund anerkannt hat. Der Begriff der konfessionellen Neutralität hat seinen Ursprung im Verfassungsrecht und richtet sich gegen den Staat.[68]Dies entspricht jedenfalls der schweizerischen Neutralitätskonzeption. Vgl. BGE 142 I 39 E. 3.3, 52, E 3.5., 54, E. 9.2., 70: Das Bundesgericht bringt in diesem Urteil klar zum Ausdruck, dass … Continue reading Die Übertragung auf private Unternehmen ist keine Selbstverständlichkeit und hätte einer Begründung bedurft.[69]Siehe Hertig/Kibboua, 317. Wenn der Neutralitätsbegriff auf private Unternehmen ausgeweitet wird, stellt sich wie bei der staatsbezogenen Neutralitätskonzeption die Frage, was eigentlich unter Neutralität zu verstehen ist. Neutralität ist nämlich nicht nur ein positiv konnotiertes, sondern auch ein komplexes und schwer fassbares Konzept, dessen Inhalt in verschiedenen Rechtsordnungen anders verstanden wird. Dies lässt sich anhand der Rechtslage in Frankreich und Deutschland veranschaulichen.

Gemäss der französischen laizistischen Neutralitätskonzeption, die auf einer strengen Trennung von Kirche und Staat gründet, ist es Staatsangestellten untersagt, religiöse Symbole oder Kleidungsstücke zu tragen. Die Neutralität tendiert zum einen dazu, Religion in der öffentlichen Sphäre unsichtbar zu machen und in die Privatsphäre zu verdrängen.[70]Zu recht kritisch zu dieser Neutralitätskonzeption, Mulder, 1511: „Essentially, what neutrality policies do is to impose what is perceived as ‚normal‘ in the European, predominantly Christian … Continue reading Zum anderen wird von der Annahme ausgegangen, dass das Tragen von religiösen Kennzeichen direkt dem Staat zuzurechnen ist. Angestellte mit Kippa oder Kopftuch bringen demnach ein staatliches Bekenntnis zugunsten dieser Religionen zum Ausdruck.

Anders sieht dies das Bundesverfassungsgericht, ausgehend von einer Neutralitätskonzeption, die „nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche zu verstehen [ist], sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung[71]BVerfGE 138, 296. Rn. 110.. Neutralität bedingt, dass der Staat grundsätzlich als Arbeitgeber Personen verschiedener Konfessionen offensteht. Wenn er das Tragen konfessioneller Zeichen zulässt, macht sich der Staat laut Bundesverfassungsgericht die damit verbundene Aussage „nicht schon dadurch zu seiner eigenen und muss sie sich auch nicht als von ihm beabsichtigt zurechnen lassen.“[72]BVerfGE 138, 296, Rn. 105. Es gilt zu unterscheiden zwischen der Konstellation, in welcher religiöse Zeichen auf Veranlassung des Staates verwendet werden und Fällen, in welchen ein konfessionelles Symbol oder Kleidungsstück aufgrund einer eigenen Entscheidung der einzelnen Person verwendet wird, die sich im Unterschied zum Staat als Individuum auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit berufen kann. Nach dieser Konzeption ist der Staat neutral, wenn er die Ausübung der Religionsfreiheit durch Kleidungsvorschriften grundsätzlich toleriert. Werden diese Überlegungen auf private Unternehmen übertragen, lässt sich durchaus argumentieren, das Neutralitätsgebot erfordere eine für die Ausübung der Religionsfreiheit offene Haltung der Arbeitgebenden. Die Auffassung, das Unternehmen mache sich die Konfession seiner Angestellten zu eigen, wenn es das Tragen religiöser Zeichen erlaubt, dürfte in den meisten Fällen wenig plausibel sein, dies umso mehr, wenn das äussere Erscheinungsbild der Angestellten auf unterschiedliche Religionszugehörigkeiten schliessen lässt und/oder wenn eine religiöse Minderheit betroffen ist. Der Autorin dieses Beitrags ist es jedenfalls nicht in den Sinn gekommen, beim Besuch eines grossen Möbelhauses aufgrund der Anwesenheit einer Kassiererin mit Kopftuch darauf zu schliessen, die internationale Möbelkette habe sich den Islam zu eigen gemacht.

Bei Neutralitätsgeboten am privaten Arbeitsplatz dürften in der Regel andere Beweggründe vorliegen als bei der staatlichen Neutralität. Die Argumentation des EuGH macht dies deutlich, indem er das Neutralitätsgebot mit der unternehmerischen Freiheit in Verbindung bringt. Hier setzen eine erhebliche Anzahl von kritischen Stimmen an.[73]Siehe z.B. Cloot, 631 f.; van den Brink, 877; Hennette-Vauchez, European Constitutional Law Review 2017, 745; Hertig Randall/Kibboua, 320; Sharpston, Shadow Opinion, Rn. 42. Firmen dürften in den meisten Fällen eine Neutralitätspolitik aus wirtschaftlichen Gründen einführen, um den – realen oder vermeintlichen – Kundenwünschen gerecht zu werden. Die Unterscheidung, die der Gerichtshof in den Urteilen Achbita und Bougnaoui getroffen hat, erscheint vor diesem Hintergrund formalistisch und wenig kohärent. In Bougnaoui wird unterstrichen, dass eine Kündigung wegen Tragens eines Kopftuches bei Fehlen einer Neutralitätspolitik eine direkte Diskriminierung darstellt, die keiner Rechtfertigung zugänglich ist. Subjektive Erwägungen, namentlich der Wille der Arbeitgeber*in, besonderen Kundenwünschen zu entsprechen, sind irrelevant. Gleichzeitig ist es aber möglich, dieselben, realen oder vermeintlichen Kundenwünsche zu antizipieren und das Tragen eines Kopftuches gestützt auf eine allgemein formulierte Neutralitätsregel zu untersagen, weil letztere nur zu einer mittelbaren Diskriminierung führen kann und deshalb die Rechtfertigungsgründe weiter gefasst sind als bei direkten Ungleichbehandlungen. Wie es Sharpston hervorhebt, drängt sich ein strenger Prüfungsmassstab sowohl für direkte als auch für indirekte Diskriminierungen auf: „To do otherwise risks opening the door too readily to easy claims by shrewd employers that, because they naturally wish to present an image of strict neutrality in order to run their businesses profitably (and have been intelligent enough to formulate this desire as a clearly articulated element of their corporate policy and rule-book for employees), the resulting indirect discrimination is not discrimination at all, because it is objectively justified.“[74]Sharpston, Shadow Opinion, Rn. 42.

Im Urteil Wabe und Müller trägt der Gerichtshof diesen Vorbehalten Rechnung, indem er festhält, dass die Neutralitätsregel für sich allein nicht ausreicht, um eine mittelbare Ungleichbehandlung zu rechtfertigen, und verlangt, dass sie einem „wirklichen Bedürfnis“ der Arbeitgeber*innen entspricht. Es obliegt der arbeitgebenden Partei, dieses Bedürfnis nachzuweisen. Diese Auslegung ist in den Worten des Gerichthofs „von dem Bestreben geleitet, grundsätzlich Toleranz und Respekt sowie die Akzeptanz eines größeren Masses an Vielfalt zu fördern und zu verhindern, dass die Einführung einer Neutralitätspolitik innerhalb eines Unternehmens zum Nachteil von Arbeitnehmern missbraucht wird, die religiöse Gebote beachten, die das Tragen einer bestimmten Bekleidung vorschreiben.“[75]S.C.R.L., § 41.

Der Gerichtshof führt beispielhaft einige Konstellationen an, in denen das Erfordernis eines „wirklichen Bedürfnisses“ seiner Meinung nach erfüllt ist. Die verschiedenen Beispiele sind jedoch konkretisierungs- und auslegungsbedürftig, weshalb es nicht einfach abzuschätzen ist, inwiefern die Präzisierung der Rechtsprechung in der Zukunft eine eingrenzende Wirkung entfalten wird.

Der Gerichtshof erkennt zunächst, eine Neutralitätspolitik im Interesse der Rechte und gerechtfertigten Erwartungen der Kundschaft als legitim an. Beispielhaft nennt er das Recht der Eltern, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen. Diese Argumentation ähnelt derjenigen des Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Entscheid Dahlab gegen Schweiz.[76]EGMR, Entscheid vom 15. Februar 2001, Nr. 42393/98, Dahlab g. Schweiz. Sie beruht auf der Annahme, dass kleine Kinder besonders beeinflussbar sind und dass die Konfrontation mit einem religiösen Symbol tatsächlich eine gewisse bekehrende Wirkung hat, oder zumindest haben könnte.[77]Der EGMR anerkennt im Entscheid Dahlab, dass es schwierig ist, einen konkreten Einfluss nachzuweisen und begnügt sich mit der Möglichkeit einer Beeinflussung. Nebst dem Erziehungsrecht der Eltern wird meistens auch die negative Religionsfreiheit der Kinder ins Feld geführt. Dabei wird implizit angenommen, dass das sichtbare Tragen eines religiösen Zeichens einen missionarischen Charakter aufweist. Diese Argumentationslinie ist nicht unbestritten. So hat das deutsche Bundesverfassungsgericht darauf hingewiesen, dass ein effektiver Einfluss des blossen Tragens eines religiösen Symbols empirisch nicht dargelegt ist.[78]Siehe BVerfGE 108, 282, Rn. 55 f. Des Weiteren gehen die Meinungen darüber auseinander, wann die negative Glaubens- und Gewissensfreiheit effektiv beeinträchtigt ist. Im Urteil Lautsi gegen Italien[79]EGMR (GK) Urteil vom 18. März 2011, Nr. 30814/06, Lautsi g. Italien. legte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Schwelle hoch an. Die blosse Präsenz des Kreuzes im Klassenzimmer wertete er als keinen Verstoss gegen die negative Religionsfreiheit. Letztere sei lediglich im Falle einer Indoktrinierung durch die Lehrpersonen tangiert.[80]Lautsi g. Italien, Rn. 69 ff. Demgegenüber sah das Bundesverfassungsgericht in der Pflicht, täglich „unter dem Kreuz“ lernen zu müssen, eine Verletzung der negativen Religionsfreiheit.[81]BVerfGE, 93, 1. Für die Güterabwägung zwischen der positiven Religionsfreiheit einer Lehrperson einerseits und der negativen Religionsfreiheit der Schüler*innen andererseits fällt jedoch die blosse Konfrontation mit einem muslimischen Kopftuch nicht genügend ins Gewicht.[82]BVerfGE, 138, 296. Erforderlich ist laut Bundesverfassungsgericht eine konkrete Gefährdung der negativen Religionsfreiheit, die lediglich vorliegt, wenn die Lehrperson die Kinder mit anderen Mitteln, namentlich verbal, zu beeinflussen versucht:

Die Einzelnen haben in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, allerdings kein Recht darauf, von der Konfrontation mit ihnen fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben. (…) Doch ist das Tragen eines islamischen Kopftuchs, einer vergleichbaren Kopf- und Halsbedeckung oder sonst religiös konnotierten Bekleidung nicht von vornherein dazu angetan, die negative Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Schülerinnen und Schüler zu beeinträchtigen. Solange die Lehrkräfte, die nur ein solches äußeres Erscheinungsbild an den Tag legen, nicht verbal für ihre Position oder für ihren Glauben werben und die Schülerinnen und Schüler über ihr Auftreten hinausgehend zu beeinflussen versuchen, wird deren negative Glaubensfreiheit grundsätzlich nicht beeinträchtigt. Die Schülerinnen und Schüler werden lediglich mit der ausgeübten positiven Glaubensfreiheit der Lehrkräfte in Form einer glaubensgemäßen Bekleidung konfrontiert, was im Übrigen durch das Auftreten anderer Lehrkräfte mit anderem Glauben oder anderer Weltanschauung in aller Regel relativiert und ausgeglichen wird. Insofern spiegelt sich in der bekenntnisoffenen Gemeinschaftsschule die religiös-pluralistische Gesellschaft wider.

Eine ähnliche Auslegung der negativen Religionsfreiheit befürwortet das Bundesgericht im Zusammenhang mit einem Kopftuchverbot für Schüler*innen. Es bejahte ein öffentliches Interesse daran, „dass vom Tragen religiöser Symbole einzelner Schüler kein Druck auf Mitschülerinnen und Mitschüler entsteht, solche ebenfalls zu tragen. Umgekehrt reicht der Grundrechtsschutz gegenüber Dritten jedoch nicht so weit, dass er einen Anspruch vermitteln könnte, mit keinen fremden Glaubensbekenntnissen konfrontiert zu werden.“[83]BGE 142 I 49 E. 8.2.2., 67. Siehe auch ebenda, E. 9.4.2., 72: „Es ist auch nicht ersichtlich, inwiefern ein Verbot der religiösen Kopfbedeckungen erforderlich wäre, um die Glaubensfreiheit der … Continue reading Analoges gilt für das Erziehungsrecht der Eltern.

Im Urteil Wabe und Müller beschränken sich die Ausführungen des Gerichtshofs zu den Rechten und gerechtfertigten Interessen auf den Sachverhalt des Einzelfalls, d.h. auf das Tragen eines Symbols in einer Kindertagesstätte. Nicht klar ist, inwiefern in anderen Konstellationen die Konfrontation mit einem religiösen Symbol gestützt auf die – weit ausgelegte – negative religiöse Freiheit zulässig wäre. Wäre der Fall einer Privatschule, die ältere Kinder unterrichtet, anders zu beurteilen? Könnte ein Altersheim geltend machen, die Insass*innen seien besonders verletzlich, weshalb es legitim sei, einer Pflegerin das Tragen religiöser Kleidung und Symbole zu untersagen? Ein Argument, das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil Ebrahimian gegen Frankreich unter Berücksichtigung des weiten Ermessensspielraums der Mitgliedstaaten nicht hinterfragte.[84]EGMR, Urteil vom 26. November 2015, Nr. 64846/11, Ebrahimian g. Frankreich.

Soll das Kriterium der „Rechte und gerechtfertigter Interessen“ eine eingrenzende Wirkung entfalten, drängt sich eine einschränkende Auslegung auf, die das Tragen eines religiösen Symbols nicht mit Proselytismus gleichsetzt. Eine solche ausufernde Auslegung würde eine flächendeckende Anwendung der Neutralitätspolitik legitimieren, weil immer argumentiert werden könnte, die negative Religionsfreiheit der Kundschaft sei tangiert. Würde dieses Argument ernst genommen, wäre es nicht folgerichtig, das Neutralitätsgebot auf Angestellte mit Kundenkontakt zu beschränken, wie das der EuGH im Urteil Achbita unter dem Gesichtswinkel der Erforderlichkeit verlangt. Das Neutralitätsgebot müsste auch firmenintern angewendet werden, um die negative Religionsfreiheit der anderen Arbeitnehmenden zu schützen. Der Ansatz, der im alleinigen Tragen eines religiösen Kennzeichens einen Versuch der Bekehrung erblickt, verkennt zudem, dass bei religiösen Symbolen in der Regel das Befolgen einer als zwingend wahrgenommenen religiösen Pflicht im Vordergrund steht, deren Nichtbeachtung für die Betroffenen zu einem Gewissenskonflikt führt,[85]Vgl. BGE 142 I 49, E. 7.2., 65; BGE 139 I 280 E. 5.2., 285, in denen das Bundesgericht unterstreicht, ein „Kopftuchverbot an der Schule brächte die Schülerin in den Konflikt, entweder einem … Continue reading und nicht missionarische Absichten. Letztere sind im Übrigen bei manchen Religionen per se ausgeschlossen. Der Menschenrechtsausschuss rief dies im Falle eines jungen Sikhs in Erinnerung, indem er unterstrich, der Sikhismus gehöre zu Religionen, zu denen es nicht möglich ist zu konvertieren.[86]Menschenrechtsausschuss, Entscheidung vom 16. Dezember 2008, Nr. 1852/2008: „The turban is not worn with a view to proselytize – a concept which is foreign to the Sikh religion.“

Nebst den Rechten und gerechtfertigten Interessen erachtet der Gerichtshof das Vermeiden von sozialen Konflikten im Unternehmen als ein wirkliches Bedürfnis, das eine Neutralitätspolitik rechtfertigen vermag. Mit diesem Ziel der Neutralitätsregel griff der Gerichtshof das Argument der Drogeriekette Müller auf, wonach es „[s]olche Konflikte, die auf unterschiedliche Religionen und Kulturen zurückzuführen seien, (…) in der Vergangenheit schon mehrfach gegeben“ habe. Hierzu ist hervorzuheben, dass das Unternehmen solche Konflikte nachzuweisen hat. Die alleinige Behauptung, es sei in der Vergangenheit zu Konflikten gekommen, reicht nicht aus. Nicht klar ist jedoch, welches Ausmass die Spannungen annehmen müssen, um das Tragen von religiösen und weltanschaulichen Zeichen zu verbieten, eine Frage, die sich spätestens im Rahmen der Verhältnismässigkeitsprüfung stellt. So erachtet das deutsche Bundesverfassungsgericht ein Kopftuchverbot gegenüber Lehrkräften nur als zulässig, wenn eine konkrete Gefährdung des Schulfriedens nachgewiesen ist. Eine abstrakte Gefahr genügt den Anforderungen des Verhältnismässigkeitsprinzips nicht. Unter dem Blickwinkel der Verhältnismässigkeit ist auch die Notwendigkeit des in Rede stehenden Verbots zu prüfen. Diese Bedingung ist m.E. nicht erfüllt, wenn das Unternehmen keine Massnahmen für die Prävention (Sensibilisierungs- und Aufklärungsarbeit) und für die Schlichtung von Konflikten ergreift, um ein Klima der Toleranz im Betrieb zu fördern. In diesem Rahmen ist es zulässig, missionarisches Verhalten[87]Siehe BVerfGE 138, 296, Rn. 105, welches zwischen dem blossen Tragen eines religösen Symbols und dem Tragen des Symbols, einhergehend mit verbalem Werben für eine Religion unterscheidet. zu untersagen. Gleichzeitig ist die Persönlichkeit von Arbeitnehmenden, die einer religiösen Minderheit angehören, gegen Anfeindung und Ausgrenzung zu schützen. Intoleranz ist gegenüber religiösen Minderheiten ebenso unzulässig wie gegenüber anderen vom Diskriminierungsverbot erfassten Gruppen wie sexuelle oder ethnische Minderheiten, oder Menschen mit Behinderungen. Richtlinie 78/2000 sieht dementsprechend vor, dass Belästigungen im Zusammenhang mit einem geschützten Diskriminierungsgrund eine Form der Diskriminierung darstellen.[88]Art. 2 Abs. 3 Richtlinie (EU) 2000/78. Nimmt man die Leitidee ernst, welche der Gerichtshof dem Erfordernis eines „wahren Bedürfnisses“ zugrunde legt – die Förderung von Toleranz und Respekt sowie der Akzeptanz eines grösseren Masses an Vielfalt[89]S.C.R.L., § 41, siehe weiter oben in diesem Abschnitt. – erscheint es zweifelhaft, dass das Verbot von religiösen und weltanschaulichen Kennzeichen zur Vermeidung von sozialen Konflikten gerechtfertigt werden kann. Van den Brink bringt das prägnant auf den Punkt:

If the aim is to avoid social conflict, the rule should be no proselytizing rather than no religious clothing. In a final attempt to justify its neutrality policy, a company may argue that it helps to avoid social conflict because certain employees take offense to religious clothing such as the headscarf or kippah. The response to that should be clear: It is impermissible to accommodate the wishes of prejudiced colleagues, just as it is wrong to cater to the prejudiced views of customers. If religious clothing causes tensions and disturbances at work, clearly it would be more appropriate to sack the prejudiced employee rather than her religious colleague.[90]Van den Brink, 879. In diese Richtung auch die Rechtsprechung des U.S. Supreme Courts zum weiter unten aufgegriffenen Problemkreis der angemessenen Vorkehrungen („reasonable accommodation“). … Continue reading

Es ist noch anzumerken, dass eine zur Vermeidung von betriebsinternen Konflikten verabschiedete Neutralitätspolitik nicht auf Angestellte mit Kund*innenkontakt beschränkt werden könnte und somit die vom EuGH im Urteil Achbita entwickelte „Backoffice-Lösung“ nicht greifen würde.

Eine Neutralitätspolitik kann auch einem wahren Bedürfnis entsprechen, wenn der Arbeitgeber nachweist, dass ohne die entsprechende Regel „seine in Art. 16 der Charta anerkannte die unternehmerische Freiheit beeinträchtigt würde, da er angesichts der Art seiner Tätigkeit oder des Umfelds, in dem diese ausgeübt wird, nachteilige Konsequenzen zu tragen hätte“.[91]Wabe und Müller, Rn. 67. Der Umstand, dass die arbeitgebende Partei die Beweislast trägt, dämmt die Zulässigkeit der Neutralitätsregel verglichen mit den Urteilen aus dem Jahr 2017 deutlich ein. Vorstellbar wäre, dass die arbeitgebende Partei z.B. einen Rückgang des Umsatzes geltend macht, wobei noch darzulegen wäre, dass die Einbussen auf das Tragen religiöser Symbole zurückzuführen sind. Dieser Nachweis dürfte in der Praxis schwierig sein. Dies umso mehr, als diskriminierende Kundenwünsche keinem wirklichen Bedürfnis entsprechen, wie dies der EuGH unter Verweis auf die Urteile Bougnaoui und Feryn präzisiert hat.[92]Siehe auch EuGH, Urteil vom 25. April 2013 in der Rechtssache C‑81/12, ECLI:EU:C:2013:275 – Asociaţia Accept, betreffend öffentliche Äußerungen, mit denen die Einstellung eines als … Continue reading Seine Formulierung zum erstgenannten Urteil ist jedoch zweideutig. Er bezieht sich auf die konkrete Konstellation in der Rechtssache Bougnaoui, „in der die Kündigung einer Arbeitnehmerin infolge einer Beschwerde eines Kunden erfolgt war und in der es keine interne Regel des Unternehmens gab, die das Tragen jeglichen sichtbaren Zeichens politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen verboten hätte“.[93]Wabe und Müller, Rn. 66. Die zitierte Passage wirft die Frage auf, ob ein wirkliches Bedürfnis nur ausgeschlossen ist, wenn kumulativ beide genannten Elemente (Beschwerden von Kunden und Fehlen einer Neutralitätsregel) vorliegen, wie es eine wörtliche Auslegung nahe legt.[94]Howard 2022, 256 scheint das Votum wörtlich auszulegen und unterstreicht dementsprechend dessen Inkohärenz. Eine solche Interpretation wäre widersinnig, denn sie würde die einschränkende Präzisierung gegenstandslos machen und dem vom Gerichtshof im Urteil S.C.R.L. deklarierten Ziel zuwiderlaufen: sie könnte nicht verhindern, dass „die Einführung einer Neutralitätspolitik (…) zum Nachteil von Arbeitnehmern missbraucht wird, die religiöse Gebote beachten, die das Tragen einer bestimmten Bekleidung vorschreiben.“[95]S.C.R.L., Rn. 41. Sie würde auch die am Urteil Achbita geäusserte Kritik nicht entkräften, dass diskriminierende Kundenwünsche bei anderen Diskriminierungsgründen, wie z.B. der ethnischen Herkunft, (Urteil Feryn) nicht zulässig sind, doch bei der Religion und Weltanschauung legitim sein können, wenn das Unternehmen reale oder vermeintliche Präferenzen der Kundschaft antizipiert und eine Neutralitätsregel verabschiedet hat. Die erwähnten Inkohärenzen lassen sich vermeiden, wenn das Votum zum Urteil Bougnaoui als eine Wiedergabe des Sachverhalts verstanden wird, welcher dem Urteil zugrunde lag, und nicht als eine präzisierende Einschränkung des Grundsatzes, dass diskriminierende Kundenwünsche nicht relevant sein dürfen, wie es der Verweis auf das Urteil Feryn nahelegt.

Welche nachteiligen Konsequenzen, denen die Neutralitätsregel zu begegnen versucht, und die sich nicht aus diskriminierenden Kundenwünschen ergeben, wären in der Praxis vorstellbar? Der Gerichtshof begnügt sich diesbezüglich mit einem Verweis auf die „Art der Tätigkeit oder des Umfelds, in welchem sie ausgeführt wird“, was wenig Klarheit schafft. Aufgrund der Formulierung, die sich stark an die Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie (EU) 2000/78 anlehnt, liegt es nahe, dass die Neutralitätspolitik im Falle von Tendenzbetrieben einem wahren Bedürfnis entsprechen kann.[96]Djelassi Anissa/Mertens Romain/Wattier Stéphanie, Principe de neutralité dans les entreprises privées: la Cour de justice étoffe sa jurisprudence relative à l’interdiction des signes religieux … Continue reading Insbesondere in der französischsprachigen Lehre wird diskutiert, ob ein Unternehmen, das sich aufgrund einer internen Politik der religiösen und weltanschaulichen Neutralität verpflichtet, einen Tendenzbetrieb darstellen kann.[97]Djelassi Anissa/Mertens Romain/Wattier Stéphanie, 386 f. m.w.H. Diese Frage ist zu verneinen. Eine derart ausufernde Auslegung des Begriffs „Tendenzbetrieb“ würde der Einführung einer Neutralitätspolitik keine wirklichen Grenzen setzen. Sie würde weder der Leitidee der Toleranz entsprechen noch Missbräuchen einen Riegel schieben. Gerissene Arbeitgeber*innen – um Sharpstons Formulierung aufzugreifen – würden aus rein wirtschaftlichen Gründen gestützt auf die Neutralitätspolitik den Status des Tendenzbetriebs beanspruchen, um reale oder vermeintliche Kundenwünsche zu antizipieren.

Die verschiedenen von einer Neutralitätspolitik verfolgten Ziele, die einem wirklichen Bedürfnis entsprechen, sind im Urteil Wabe und Müller nicht abschliessend aufgezählt. Somit ist nicht ausgeschlossen, dass die Neutralitätsregel auch in anderen Konstellationen rechtfertigungsfähig ist. Im Urteil Achbita hatte der Gerichtshof auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Eweida gegen Vereinigtes Königreich verwiesen,[98]EGMR, Urteil vom 15. Januar 2013, Nr. 48420/10, 59842/10, 51671/10 and 36516/10, Eweida u.a. gegen Vereinigtes Königreich. um seine Auslegung zu untermauern, wonach „der Wunsch eines Arbeitgebers, den Kunden ein Bild der Neutralität zu vermitteln, zur unternehmerischen Freiheit [gehört], die in Art. 16 der Charta anerkannt ist“.[99]Achbita, Rn. 38. Im erwähnten Urteil hatte der Europäische Gerichtshof das „Corporate Image“ als legitimes Eingriffsinteresse anerkannt, jedoch gleichzeitig betont, dass dieses Interesse im Verhältnis zur Religionsfreiheit nicht zu stark ins Gewicht fallen dürfe. Er beanstandete, dass die nationalen Gerichte die wirtschaftlichen Interessen in diesem Fall zu stark gewichtet hatten.[100]Eweida, § 94: „(…) the Court has reached the conclusion in the present case that a fair balance was not struck. On one side of the scales was Ms Eweida’s desire to manifest her religious … Continue reading Dabei berücksichtigte er, dass die Arbeitgeberin (British Airways) nicht nachgewiesen hatte, dass das Tragen von religiösen Symbolen oder Kleidung ihr Unternehmensimage geschädigt hatte. Es ist bedeutsam, dass es im Urteil Eweida um eine Uniform und einen Dresscode ging, die religiös vorgeschriebene Kleidung wie das Kopftuch und den Turban bereits berücksichtigten, nicht aber andere religiöse Symbole, wie einen Anhänger mit einem Kreuz, welchen die Beschwerdeführerin trug. Die Berücksichtigung von Kleidervorschriften der muslimischen und sikhischen Minderheit zeigt, dass zwischen der Beachtung der Religionsfreiheit und der Prägung des Firmenimage durch das Erscheinungsbild der Angestellten kein unüberwindbarer Widerspruch bestehen muss.

Dies unterstreicht Generalanwältin Sharpstons Shadow Opinion:

„Where an employer does want to ensure that its employees project its corporate image, the standard way for it to do so is to create a uniform for them to wear. However, examples exist to demonstrate that such a uniform can – provided that the employer in question is serious about embracing religious diversity and respecting non-discrimination in the workplace – readily accommodate an employee’s need to wear mandated religious apparel.“[101]Sharpston, Shadow Opinion, Rn. 130.

Sharpstons Referenz auf die religiöse Diversität und Nichtdiskriminierung als Grundwerte eines Unternehmens stellt sicher, dass Unternehmen nicht auf Dresscodes und Uniformen zurückgreifen, um gewisse religiöse Kennzeichen vom Arbeitsplatz zu verbannen und de facto das gleiche Ergebnis erreichen wie auf dem Weg einer Neutralitätspolitik. Dem im angelsächsischen Raum entwickelte Ansatz der angemessenen Vorkehrungen („reasonable accommodation“) folgend sollten Unternehmen bei der Entwicklung von Kleidervorschriften Minderheiten und ihre Bedürfnisse einbeziehen und gemeinsam mit ihnen einen tragbaren Kompromiss suchen.[102]Für eine rechtsvergleichende Untersuchung zum Konzept der „angemessenen Vorkehrungen“, siehe Ventura Morgane, L’accommodement raisonnable comme nouvel outil dans la lutte contre la … Continue reading Im gleichen Sinne wären bereits bestehende Kleidervorschriften zu überprüfen, oder zumindest punktuell Ausnahmen zu gewähren, um faktische Benachteiligungen zu korrigieren. Wenn unterschiedslos anwendbare Bekleidungsvorschriften Arbeitnehmende einer bestimmten Konfession überproportional benachteiligen, stellen sie eine mittelbare Ungleichbehandlung dar, die rechtfertigungsbedüftig ist.[103]Siehe van den Brink, 867 f.

2. Verhältnismässigkeitsprüfung

Rechtfertigungen von mittelbaren Ungleichbehandlungen stellen keine Diskriminierung dar, wenn sie zur Erreichung eines rechtmässigen Ziels angemessen und notwendig sind (Art. 2 Abs. 2 lit. b i) Richtlinie (EU) 2000/78). Im Urteil Achbita stellte der Gerichtshof keine strengen Anforderungen an die Erfordernisse der Angemessenheit und der Notwendigkeit. Er erachtete eine Neutralitätspolitik als zulässig, sofern sie tatsächlich in kohärenter und systematischer Weise verfolgt wird und auf Arbeitnehmende mit Kundenkontakt beschränkt ist, wobei zu prüfen ist, ob den betroffenen Angestellten eine Stelle ohne Kundenkontakt angeboten werden könnte. Die Argumentation des Gerichtshofs ist auf erhebliche Kritik gestossen.[104]Hertig Randall/Kibboua, 321 f.; Lempen, 61; Weiler, 890; Ferri Marcella, The interplay between religious discrimination in the workplace and fundamental rights: the cherry-pick approach of the EU … Continue reading Die „Backoffice-Alternative“ liegt im Lichte der Grundanliegen des Diskriminierungsschutzes quer in der Landschaft. Wäre es zulässig, Menschen mit Behinderungen oder dunkler Hautfarbe, Frauen oder Angestellte, die sexuellen Minderheiten zugehören, aus der Sicht der Kundschaft zu verbannen? Und wie liesse sich dieser Ansatz mit dem Votum vereinbaren, dass diskriminierende Kundenwünsche keine Ungleichbehandlung zu rechtfertigen vermögen? Diese Fragen machen ersichtlich, dass die „Backoffice-Lösung“ unter dem Blickwinkel der Grundwerte von Inklusion, Pluralismus und Vielfalt schwer haltbar ist.[105]Für eine Kritik aus einer Gender-Perspektive, siehe Lempen, 65, die hervorhebt, dass die Backoffice-Lösung dem Anliegen zuwiderläuft, Frauen als Rollenmodelle in Berufen sichtbar zu machen, wo sie … Continue reading Kritische Stimmen machen zudem geltend, der EuGH habe im Urteil keine Güterabwägung zwischen den widerstreitenden Rechten und Interessen vorgenommen (Verhältnismässigkeit im engeren Sinne).[106]Hertig Randall/Kibboua, 321; Weiler, 885 ff.

Das Urteil Wabe und Müller stellt im Vergleich zum Urteil Achbita deutlich höhere Anforderungen an die Verhältnismässigkeitsprüfung. Zum einen muss die arbeitgebende Partei konkret nachweisen, dass die Neutralitätspolitik einem wirklichen Bedürfnis entspricht.[107]Siehe Ferri, 304. Zum anderen legt der Gerichtshof die Richtlinie 78/2000 im Lichte der europäischen Grundrechtecharta aus, was bedingt, dass alle betroffenen Rechtspositionen „miteinander in Einklang gebracht werden und dass zwischen ihnen ein angemessenes Gleichgewicht besteht“.[108]Wabe und Müller, Rn. 85. Somit entschied der Gerichtshof, dass die nationalen Gerichte bei der Beurteilung von Verboten religiöser Kennzeichen auch eine Verhältnismässigkeitsprüfung im engeren Sinne vorzunehmen haben. Er verdeutlicht auch beispielhaft, welche Grundrechte auf die Waagschale zu legen sind: der Grundsatz der Nichtdiskriminierung (Art. 10 Charta), die Gedankens‑, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 21 Charta), das Erziehungsrecht der Eltern (Art. 14 Abs. 3 Charta) und die unternehmerische Freiheit (Art. 16 Charta). Der Gerichtshof schweigt sich in den Urteilen Müller und Waabe sowie S.C.R. leider darüber aus, wie die einzelnen Rechtspositionen im Rahmen der zugrundeliegenden Rechtsstreitigkeiten zu gewichten sind.[109]Siehe die Kritik von Ferri, 304.

Kritik hat auch die Berücksichtigung der unternehmerischen Freiheit im Rahmen der Güterabwägung hervorgerufen. Es wird hervorgehoben, dass der EuGH bei anderen Diskriminierungsgründen wie bei der sexuellen Orientierung oder ethnischen Herkunft im Rahmen der Beurteilung der Angemessenheit und der Erforderlichkeit nie auf die unternehmerische Freiheit verweist[110]Van den Brink, 878. und finanzielle Erwägungen keine Ungleichbehandlung zu rechtfertigen vermögen.[111]Siehe Mulder, 1519: „Putting it bluntly, an employer may also have an interest in paying part-time workers less than full-time workers, given that it reduces the overall cost of running the … Continue reading Der gesetzliche Diskriminierungsschutz sei notwendig, weil Märkte kein Heilmittel gegen Diskriminierungen sind („markets will not cure discrimination“).[112]Siehe die Schlussanträge von Generalanwalt Maduro vom 10. Juli 2008 in der Rechtssache vom 12. März 2008 in der Rechtssache C-54/07, ECLI:EU:C:2008:155 – Feryn, Rn. 18, bezugnehmend auf Sunstein … Continue reading Das regulatorische Eingreifen des Staates zielt auf die Korrektur dieses Marktversagens ab, indem es verhindert, dass Unternehmen diskriminierenden Forderungen seitens der Kundschaft stattgeben und sich dadurch einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Unternehmen verschaffen, welche dem diskriminierenden Druck standhalten.

Die Bedenken an einer Berücksichtigung der unternehmerischen Freiheiten führt wieder zur Kritik zurück, dass eine Neutralitätspolitik in den meisten Fällen eine „verschleierte Diskriminierung“ („thinly veiled discrimination“)[113]Siehe Donegan Cara, Thinly veiled discrimination: Muslim women, intersectionality and the hybrid solution of reasonable accommodation and proactive measures, European journal of legal studies 2020, … Continue reading darstellen dürfte. Wie bereits erwähnt, hat der EuGH diese Beweggründe als grundsätzlich unzulässig zurückgewiesen. Seine Argumentation enthält jedoch noch Zweideutigkeiten, die Zweifel daran aufkommen lassen, ob einer wegen subjektiven Kundenpräferenzen verabschiedeten Neutralitätsregel gänzlich ein Riegel geschoben wurde. Die Erwägungen des EuGH sind, wie dargelegt,[114]Siehe oben, C.III.1. einer Auslegung zugänglich, welche diese Zweifel aus dem Weg räumen. Eine Güterabwägung zwischen den Rechten der betroffenen Arbeitnehmenden und der unternehmerischen Freiheit kommt folglich nicht in Betracht, wenn die arbeitgebende Partei in Wirklichkeit subjektive Präferenzen der Kundschaft berücksichtigen will.

Andere Konstellationen, in denen finanzielle Einbussen denkbar sind, dürften in den meisten Fällen von der Ausnahme der „wesentlichen und entscheidenden beruflichen Anforderung“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Richtlinie (EU) 2000/78 erfasst sein, die selbst eine direkte Ungleichbehandlung zu rechtfertigen vermag. Van den Brink führt das Beispiel eines Werbeunternehmens an, welches den Auftrag erhält, einen Werbespot für ein Shampoo zu drehen und eine Darstellerin sucht, die gewillt ist, ihre Haarpracht im Spot zur Schau zu stellen.[115]Van den Berg, 875.

Abgesehen von Anforderungen, die für die Ausübung der beruflichen Tätigkeit wesentlich und entscheidend sind, weist das vom EuGH als rechtmässig anerkannte Anliegen, im Unternehmen soziale Konflikte zu vermeiden, einen Bezug zur Wirtschaftsfreiheit auf. Wie oben dargelegt,[116]Siehe oben, C.III.1. dürfte eine zu diesem Zwecke verabschiedete Neutralitätspolitik einer stringenten Prüfung im Lichte der Verhältnismässigkeit kaum je standhalten.

Relevant sein können unternehmerische Interessen in Rechtsstreitigkeiten, welche den bereits angesprochenen Problemkreis der „angemessenen Vorkehrungen“ betreffen. Die Richtlinie (EU) 78/2000 sieht einen Anspruch auf angemessene Vorkehrungen ausdrücklich nur im Zusammenhang mit dem Diskriminierungsgrund der Behinderung vor (Art. 5). Angemessen sind solche Vorkehrungen, wenn sie die arbeitgebende Partei nicht „unverhältnismässig belasten“, was eine Güterabwägung zwischen den widerstreitenden Interessen bedingt. Beim Diskriminierungsgrund der Religion und der Weltanschauung kann das Interesse an einer angemessenen Vorkehrung bei der Prüfung von mittelbaren Ungleichbehandlungen im Rahmen der Verhältnismässigkeit im engeren Sinne berücksichtigt werden.[117]Hertig Randall/Kibboua, 310 m.w.H.; Śledzińska-Simon Anna, Is there a place for the Islamic veil in the workplace? Managerial prerogatives and the duty of reasonable accommodation in the EU … Continue reading Anders gesagt: machen Angestellte geltend, eine allgemein anwendbare Vorschrift, z.B. zu Feiertagen oder Firmenuniformen, benachteilige sie überproportional aufgrund der Religion, obliegt es den Arbeitgebenden zu prüfen, ob eine Anpassung der Vorschrift oder Ausnahmen möglich sind, welche das Unternehmen nicht unverhältnismässig belasten. Eine Verweigerung des Dialogs und der Prüfung der verschiedenen Möglichkeiten, der Religionsfreiheit der Angestellten Rechnung zu tragen, lassen auf eine Verletzung des Verhältnismässigkeitsprinzips schliessen. Im Rahmen der Güterabwägung darf das Anliegen, mit Kleidervorschriften ein bestimmtes „Corporate Image“ vermitteln zu wollen, nicht zu stark gewichtet werden. Dies legt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im bereits erwähnten Urteil Eweida nahe.[118]Siehe oben, C.III.1.

Weil sich die Frage angemessener Vorkehrungen im Hinblick auf die Religion oder die Weltanschauung häufiger stellt als bei anderen Diskriminierungsgründen, mit Ausnahme der Behinderung, ist es nicht stossend, dass der EuGH im Zusammenhang mit der vorzunehmenden Güterabwägung auch die unternehmerische Freiheit erwähnt. Um dies mit einem Beispiel zu illustrieren: ein Unternehmen könnte die schlechtere Entlöhnung von Teilzeitbeschäftigten, die zu einer mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts führt, selbstverständlich nicht mit finanziellen Gründen rechtfertigten. Es könnte jedoch geltend machen, für einen kleinen Betrieb mit nur sehr wenigen Angestellten, der einen grossen Teil des Umsatzes am Samstag realisiert, sei es wirtschaftlich nicht tragbar, eine Arbeitnehmer*in systematisch an diesem Tag von der Arbeitspflicht auszunehmen. Bei den angemessenen Vorkehrungen ist darauf zu achten, dass die vorgeschlagenen Alternativen für die betroffenen Angestellten zumutbar sind und nicht dem Grundanliegen des Diskriminierungsschutzes zuwiderlaufen. Die vom EuGH im Urteil Achbita entwickelte „Backoffice Lösung“ trägt dem erwähnten Vorbehalt nicht Rechnung. Abgesehen davon räumt sie den wirtschaftlichen Interessen ein zu starkes Gewicht ein. Bei der Güterabwägung darf „unternehmensinternen Zwängen“, unter dem Blickwinkel der angemessenen Vorkehrungen, Rechnung getragen werden. Demgegenüber ist das im Urteil Achbita erwähnte Erfordernis, dass das Unternehmen keine zusätzliche Belastung tragen müsse,[119]Achbita, Rn. 43: Das vorlegende Gericht hat zu prüfen, ob „ob es G4S, unter Berücksichtigung der unternehmensinternen Zwänge und ohne eine zusätzliche Belastung tragen zu müssen, möglich … Continue reading zu stark an der Wirtschaftsfreiheit orientiert.[120]Der U.S. Supreme Court hat in einem im Jahr 2023 ergangenen Urteil den Diskriminierungsschutz und die Religionsfreiheit der Arbeitnehmenden deutlich gestärkt. Entgegen der früheren Rechtsprechung … Continue reading

Das auf die Suche eines Kompromisses ausgerichtete Gebot der angemessenen Vorkehrungen ist auf Konstellationen zugeschnitten, in denen eine allgemein anwendbare Regel Angehörige einer religiösen Minderheit ungebührend belastet, weil deren Anliegen bei der Verabschiedung der Regel nicht mitgedacht wurden. Bei Unternehmen, die eine Neutralitätsregel verabschieden, mit dem Ziel, gewisse religiöse Kennzeichen, wie das Kopftuch, gegenüber der Kundschaft unsichtbar zu machen, dürfte dieser Ansatz wenig zielführend sein. Die arbeitgebende Partei wäre kaum gewillt, eine Ausnahme für das Kopftuch zuzugestehen, wenn es ihr gerade darum geht, ein Kopftuchverbot durchzusetzen.[121]Denkbar wäre, dass sich die beiden Parteien auf das Tragen einer alternativen Kopfbedeckung (z.B. Mütze) einigen. Dieser Kompromiss dürfte jedoch für viele muslimische Frauen nicht akzeptabel … Continue reading In dieser Konstellation gilt es den Grundsatz ernst zu nehmen, dass die Neutralitätspolitik nicht auf diskriminierende Kundenwünsche ausgerichtet sein darf, um der Anwendung der Neutralitätsregel einen Riegel zu schieben.

Das Urteil Wabe und Müller enthält zusätzlich zur Notwendigkeit einer umfassenden Güterabwägung noch eine weitere Präzisierung der Rechtsprechung. Der EuGH stellt klärend fest, dass die Richtlinie (EU) 2000/78 lediglich einen Mindeststandard festlegt und die nationalen Gerichte gestützt auf die innerstaatlichen Grundrechte ein höheres Schutzniveau gegenüber Diskriminierungen gewährleisten können.[122]Diese Auslegung wird durchwegs positiv gewürdigt, doch ein Teil der Lehre merkt kritisch an, dass der Verweis des EuGH auf den nationalen Gerichten zustehenden Wertungsspielraum im Bereich des … Continue reading Das vorlegende deutsche Gericht bezog sich in seiner Frage auf die Rechtslage in Deutschland, wonach die Einschränkung der Religionsfreiheit den Nachweis einer konkreten Gefahr der betroffenen Rechtsgüter erfordert. Wie oben dargelegt,[123]Oben, C.III.1. reicht die abstrakte Gefährdung des Schulfriedens, der negativen Religionsfreiheit oder der konfessionellen Neutralität laut Bundesverfassungsgericht für die Rechtfertigung eines Kopftuchverbots nicht aus. Der EuGH hält in diesem Zusammenhang fest, dass sich die Anforderungen des nationalen Rechts, wonach die arbeitgebende Partei eine hinreichend konkrete Gefahr der Beeinträchtigung des rechtmässigen Ziels zu belegen hat, in den von der Richtlinie „festgelegten Rahmen in Bezug auf die Rechtfertigung einer mittelbaren Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung fügt.“[124]Wabe und Müller, Rn. 85. Somit steht es den nationalen Gerichten offen, unter Rückgriff auf das nationale Recht einen besseren Diskriminierungsschutz zu gewährleisten. Sie können zum Beispiel zum Ergebnis gelangen, dass das blosse Tragen von religiösen Kennzeichen selbst gegenüber Kleinkindern keine konkrete Gefährdung der negativen Religionsfreiheit der Kinder oder des Erziehungsrechts der Eltern darstellt. Ebenso steht es ihnen offen zu argumentieren, dass das Verhältnismässigkeitsprinzip gebietet, Konflikten am Arbeitsplatz mit anderen Mitteln als mit Verboten von religiösen Kennzeichen zu begegnen. Intoleranz, Anfeindung und Ausgrenzung von religiösen Minderheiten ist weder gerechtfertigt, wenn sie von der Kundschaft, noch wenn sie von anderen Arbeitnehmenden ausgehen.

IV. Schlussgedanken

Die beiden Urteile Waabe und Müller sowie S.C.R.L. greifen verschiedene Kritikpunkte an den Urteilen Achbita und Bougnaoui auf. Bedeutsam ist, dass der EuGH die firmeninterne Politik der religiösen und weltanschaulichen Neutralität nicht mehr vorbehaltlos als ein legitimes Rechtfertigungsinteresse anerkennt, sondern fordert, dass sie einem wirklichen Bedürfnis entspricht, welches die arbeitgebende Partei nachzuweisen hat. Die Neutralitätspolitik stellt somit nicht mehr ein eigenständiges Ziel dar, sondern ein Mittel zur Verwirklichung anderer Interessen. Worin ein wirkliches Bedürfnis bestehen kann, klärt das Gericht nicht abschliessend, sondern beschränkt sich mit einem beispielhaften Verweis auf die in den Ausgangsverfahren angeführten Interessen (Schutz des Erziehungsrechts der Eltern und der Religionsfreiheit der Kinder; Vermeidung sozialer Konflikte), sowie auf die Beeinträchtigung der unternehmerischen Freiheit. Die erwähnten Rechtfertigungsgründe sind alle auslegungsbedürftig und einer Interpretation zugänglich, welche Verbote religiöser Symbole gestützt auf eine Neutralitätspolitik nur in seltenen Fällen zulässt und insbesondere subjektive, auf Vorurteilen beruhende Kundenwünsche ausschliesst. Zu bedauern ist, dass die Ausführungen des EuGH zu den subjektiven Kundenpräferenzen zweideutig sind und der Gerichtshof kein eindeutigeres Signal zugunsten des Schutzes religiöser Minderheiten am Arbeitsplatz gesetzt hat.

Die Klarstellung, dass die europäische Rechtsprechung einen Mindeststandard darstellt, erlaubt es den nationalen Gerichten, den Begriff der „wirklichen Bedürfnisse“ eng auszulegen und im Rahmen der erforderlichen Güterabwägung die Anliegen des Diskriminierungsschutzes und der Religionsfreiheit stark zu gewichten. Diesem Umstand sollten die schweizerischen Gerichte Rechnung tragen, wenn sie zur Beurteilung von Kopftuchverboten in privaten Unternehmen die Rechtsprechung des EuGH als Inspirationsquelle beiziehen. Sie sollten auch gewillt sein, sich mit Problemfeldern auseinanderzusetzen, welche der EuGH trotz erheblicher Kritik seitens der Lehre in den Urteilen Waabe und Müller und S.C.R.L. ausgeblendet hat. Im Vordergrund steht hier die Prüfung von Kopftuchverboten im Lichte von Mehrfachdiskriminierungen. Im Unterschied zum EuGH ist der Menschenrechtsausschuss nicht davor zurückgeschreckt, Verbote religiöser Kleidung, die sich vorwiegend auf muslimische Frauen auswirken, als eine intersektionelle Diskriminierung aufgrund von Religion und Geschlecht einzustufen. Diese Rechtsprechung kann für die Schweiz, welche an den UNO-Pakt seit 1992 gebunden ist, wertvolle Impulse liefern.

Die europäische Rechtsprechung zu religiösen Symbolen am Arbeitsplatz lässt auf einige Schwachstellen im europäischen Diskriminierungsrecht schliessen. Der sektorielle Regelungsansatz ist einer holistischen, intersektionellen Analyse im Einzelfall abträglich, weil es nicht nahe liegt, in einem Einzelfall mehrere Richtlinien anzuwenden, um alle relevanten Diskriminierungsgründe sowie ihr Zusammenwirkungen gebührend zu berücksichtigen. Hinzu kommen Schwierigkeiten, die sich aus der kategoriellen Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Diskriminierungen ergeben. Das Gemeinschaftsrecht stellt an die Rechtfertigung von unmittelbaren und mittelbaren Ungleichbehandlungen unterschiedliche Anforderungen, was die Gefahr birgt, dass indirekte Formen der Diskriminierung weniger ernst genommen und keiner stringenten Prüfung unterzogen werden. Diese Schwachstellen und Risiken sollten in der Schweiz berücksichtigt werden, wenn der Gesetzgeber die kritischen Impulse aus dem internationalen Menschenrechtsschutz aufgreift und den Ausbau des Diskriminierungsschutzes in privatrechtlichen Verhältnissen an die Hand nimmt.

Fussnoten

Fussnoten
1 Zur expansiven Tendenz von Kopftuchverboten, siehe Eva Brems, ECJ headscarf series (5): The Field in which Achbita will Land – A Brief Sketch of Headscarf Persecution in Belgium, 16. September 2016, Strasbourgobservers (https://strasbourgobservers.com/2016/09/16/ecj-headscarf-series-5-the-field-in-which-achbita-will-land-a-brief-sketch-of-headscarf-persecution-in-belgium/): „(…) headscarf bans expand like an oil stain from one sector to the next. This results in a situation which can, without exaggeration, be termed ‚headscarf persecution‘. Bans that affect mainly the Muslim headscarf are popping up in all sorts of environments, to the effect that the headscarf itself is de-normalized and is almost automatically problematized“. Brems Feststellung, dass sich Kopftuchverbote allmählich ausgeweitet haben, bezieht sich auf Belgien. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich auch in anderen Ländern, einschliesslich der Schweiz, verzeichnen. Siehe hierzu die Referenzen in den nachstehenden Fussnoten.
2 Siehe hierzu die Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Entlassung einer zum Islam konvertierten Lehrerin im Kanton Genf, BGE 123 I 296; EGMR, Entscheid vom 15. Februar 2001, Nr. 42393/98, Dahlab g. Schweiz.
3 Siehe BGE 148 I 160 betreffend das Gesetz über die Laizität des Staates des Kantons Genf vom 26. April 2018 (LLE/GE), welches unter anderem Beamt*innen verbietet, ihre Religionszugehörigkeit durch Verlautbarungen oder äusserliche Zeichen zur Schau zu stellen.
4 Siehe BGE 139 I 280 betreffend die Schulgemeinde Bürglen; BGE 142 I 49 betreffend die Schulgemeinde St. Margarethen.
5 Siehe BGE 144 I 281 betreffend die Tessiner Gesetze über die Gesichtsverhüllung im öffentlichen Raum und über die öffentliche Ordnung, die zur Umsetzung der im Jahr 2011 verabschiedeten Volksinitiative erlassen wurden. Mit der Annahme der eidgenössischen Volksinitiative „Ja zum Verhüllungsverbot“ am 7. März 2021 hat ein analoges Verbot auch Eingang in die Bundesverfassung (art. 10a BV) gefunden (BBl 2019 2913).
6 Siehe z.B. Lempen Karine, Travail, genre et religion: le port du hijab en Europe, in: Stöckli Andreas et al. (Hrsg.), Recht, Religion und Arbeitswelt, Zürich 2020, 33 ff.; Pärli Kurt/Pileggi Sefora, Religiöse Bekleidung und Symbole am Arbeitsplatz – Europarechtliche Antworten und ihre Auswirkungen auf die Schweiz, in Festschrift für Stephan Breitenmoser, Basel 2022, 1007 ff.
7 EuGH, Urteil vom 14. März 2017 in der Rechtssache C-157/15, ECLI:EU:C:2017:203 ‒ Samira Achbita und Centrum voor gelijkheid van kansen en voor racismebestrijding gegen G4S Secure Solutions NV.
8 EuGH, Urteil vom 14. März 2017 in der Rechtssache C-188/15, ECLI:EU:C:2017:204 ‒ Asma Bougnaoui und Association de défense des droits de l’homme (ADDH) gegen Micropole SA.
9 Für die Schweizer Presse, siehe z.B. Wenger Karin A., Firmen können Tragen von Kopftüchern verbieten, NZZ vom 14. Mai 2017 (online); Une entreprise peut interdire le port visible de signes religieux, selon la Cour de justice de l’UE, Le Temps vom 14. März 2017 (online).
10 Zur fast ausschliesslich kritischen Würdigung der beiden Urteile, siehe Mulder Jule, Religious neutrality policies at the workplace: Tangling the concept of direct and indirect religious discrimination. WABE and Müller, Common Market Law Review 2022, 1501–1522, 1501: „Rarely has an ECJ decision been so widely and unanimously criticized.“; Hennette Vauchez Stéphanie, Nous sommes Achbita, Revue trimestrielle de droit européen 2019, 105 ff. (auch zugänglich unter <https://hal.parisnanterre.fr/hal-03053812/document>) mit vielen Referenzen in Fussnote 2; siehe auch Howard Erica, Headscarves return to the CJEU: Unfinished business, Maastricht Journal of European and Comparative Law 2019, 10 f. mit zahlreichen Referenzen in Fn. 2.
11 EuGH, Urteil vom 15. Juli 2021 in der Rechtssache C-804/18 und C-341/19, ECLI:EU:C:2021:594 ‒ X gegen WABE eV und MH Müller Handels GmbH gegen MJ.
12 EuGH, Urteil vom 13. Oktober 2022, in der Rechtssache C‑344/20, ECLI:EU:C:2022:774 ‒ L.F. gegen S.C.R.L. Nach Abgabe des Manuskripts hat der EuGH noch ein weiteres Urteil zu Kopftuchverboten am Arbeitsplatz gefällt, welches die hier dargestellte Rechtsprechung auf den öffentlichen Arbeitsmarkt anwendet. Siehe EuGH, Urteil vom 22. November 2023 in der Rechtssache C-148/22, ECLI:EU:C:2023:924 – OP gegen Commune d’Ans.
13 Richtlinie (EU) 2006/54 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2006 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neufassung), ABl L 204 vom 26. Juli 2006, 23 ff.
14 Richtlinie (EU) 2000/43 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl L 180 vom 19. Juli 2000, 22 ff.
15 Richtlinie (EU) 2000/78 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl L 303 vom 2. Dezember 2000, 16 ff.
16 Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann vom 24. März 1995 (Gleichstellungsgesetz, GlG, SR 151.1.).
17 Im Arbeitsrecht sind insbesondere Bestimmungen zum Kündigungsschutz (Art. 336 OR) und zum Persönlichkeitsschutz (328 OR) relevant. Siehe Lempen, 66. Was andere privatrechtlichen Bestimmungen angeht, kommen etwa der allgemeine Persönlichkeitsschutz (Art. 27 ff. ZGB), oder etwas das Gebot von Treu und Glauben (Art. 2 und 3 ZGB) und die Bestimmungen zu den Schranken der Vertragsfreiheit (Art.19 f. OR) in Frage. Siehe Locher Reto, Der Zugang zur Justiz in Diskriminierungsfällen. Teilstudie 1: Grundsätze des Diskriminierungsschutzes, Bern, Juli 2015, 44 ff., <https://skmr.ch/assets/publications/160526_Teilstudie_1_Grundlagen_des_Diskriminierungsschutzes.pdf>.
18 Art. 8 Abs. 2 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV, SR 101).
19 Art. 15 BV.
20 Hierzu z.B. Malinverni et al., Droit constitutionnel suisse : Les droits fondamentaux, vol. II, Bern 2021, 67, Rn. 134.
21 Siehe z.B. Bericht der Arbeitsgruppe des Menschenrechtsrates zur allgemeinen regelmässigen Überprüfung (Universal Periodical Review) (Session vom 19. Juni – 14. Juli 2023), A/HRC/53/12, Empfehlung Nr. 39.82.; Ausschuss für soziale und wirtschaftliche Rechte, Abschliessende Empfehlungen vom 18. November 2019, E/C.12/CHE/CO/4, Rn. 20 f.
22 Zur Berücksichtigungspflicht, siehe Art. 16 Abs. 2 FZA.
23 Im Bereich des Diskriminierungsschutzes hat das Bundesgericht zum Beispiel die Argumentation des EuGH zur Zulässigkeit von Quoten zugunsten des unterrepräsentierten Geschlechts weitgehend übernommen. Siehe BGE 123 I 152, bezugnehmend auf das kontroverse Kalanke-Urteil (EuGH, Urteil vom 17. Oktober 1995 in der Rechtssache C-450/93, ECLI:EU:C:1995:322 – Kalanke gegen Freie Hansestadt Bremen).
24 BGE 148 I 160, E. 8.2., 185.
25 Für eine Übersicht über die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Verboten religiöser Kennzeichen am Arbeitsplatz, siehe Hertig Randall Maya/Kibboua Zohra, Le port de signes et tenues religieux dans l’emploi en droit européen. Un regard croisé sur la Convention européenne des droits de l’homme et le droit de l’Union européenne, Annuaire de droit de l’Union européenne 2017, 291 ff.; Pärli/Pileggi 1011 ff.; Lempen, 45 ff.
26 Art. 1 Richtlinie (EU) 2000/78.
27 Art. 2 Abs. 2 lit. a und b Richtlinie (EU) 2000/78.
28 Art. 2 Abs. 2 lit. b (i) Richtlinie (EU) 2000/78.
29 Den Unterschied zwischen den beiden Diskriminierungsformen unterstreicht Generalanwältin Medina wie folgt: „Im Wesentlichen basiert der ‚unmittelbare-Diskriminierung‘-Ansatz auf der Normalisierung solcher Unterschiede am Arbeitsplatz durch eine strengere Kontrolle der Voreingenommenheit. Er geht von der Annahme aus, dass an Unterschiede, die sich aus der Religion und religiösen Weltanschauungen ergeben, besser durch die Förderung von Toleranz und Respekt herangegangen wird, was wiederum zur Akzeptanz einer größeren Vielfalt führt. Demgegenüber nimmt ein ‚mittelbare-Diskriminierung‘- Ansatz die Notwendigkeit an, einen bestimmten Grad an Voreingenommenheit der Öffentlichkeit gegenüber religiösen Unterschieden zu tolerieren, wenn nachgewiesen wird, dass das betroffene Unternehmen andernfalls ernste wirtschaftlich nachteilige Konsequenzen zu tragen hätte. Unterschiede, die sich aus der Religion und religiösen Weltanschauungen ergeben, werden in diesem Kontext als Umstände angesehen, an die am Arbeitsplatz besser durch die Förderung der Einheitlichkeit im Wege einer allgemeinen Untersagung herangegangen wird, die aus einer internen Neutralitätsregel folgt.“ (EuGH, Schlussanträge der Generalanwältin vom 28. April 2022 in der Rechtssache C-344/20: ECLI:EU:C:2022:328 – S.C.R.L., Rn. 59).
30 Art. 4 Abs. 1 Richtlinie (EU) 2000/78. Eine weitere Ausnahme ist für berufliche Tätigkeiten innerhalb Kirchen und anderen religiösen oder weltanschaulichen Organisation vorgesehen (Art. 4 Abs. 2 Richtlinie (EU) 2000/78).
31 Art. 2 Abs. 2 lit. b i) Richtlinie (EU) 2000/78.
32 Waabe und Müller, Rn. 53.
33 EuGH, Urteil vom 10. Juli 2008 in der Rechtssache C-54/07, ECLI:EU:C:2008:397 – Feryn.
34 S.C.R.L., Rn. 54.
35 S.C.R.L., Rn. 55.
36 S.C.R.L., Rn. 23.
37 Eine direkte Diskriminierung befürworten z.B. Howard Erica, Headscarves and the CJEU: Protecting fundamental rights and pandering to prejudice, the CJEU does both, Maastricht Journal of European and Comparative Law 2022, 245-262, 251 f.; Hennette-Vauchez Stéphanie/Wolmark Cyril, Plus vous discriminez, moins vous discriminez. A propos des conclusions de l’avocat générale dans l’affaire CJUE Achbita, C-157/15. Semaine sociale Lamy, 2016, 5-8, 6 f.; Cloots Elke, Safe harbour or open sea for corporate headscarf bans? Achbita and Bougnaoui, Common Market Law Review 2018, 589–624, 605 ff., mit Hinweisen auf andere Urteile, in welchen der EuGH den Begriff der direkten Diskriminierung weiter ausgelegt hat; Hertig Randall/Kibboua, 309; Siehe auch Generalanwältin Sharpstons Shadow Opinion in der Rechtssache Wabe und Müller (zit. Shadow Opinion), <http://eulawanalysis.blogspot.com/2021/03/shadow-opinion-of-former-advocate.html>, Rn. 261 ff., die eine weitere Definition von direkter Diskriminierung vorschlägt; in diese Richtung auch Mulder, 1508 ff.; für eine indirekte Diskriminierung, siehe z.B. van den Brink Martijn, The Protected Grounds of Religion and Belief: Lessons for EU Non-Discrimination Law, German Law Journal 2023, 855–880; Vickers Lucy, Religious Headscarves and Discrimination—Take Two, Oxford Human Rights Hub, 29 Juli 2021 <https://ohrh.law.ox.ac.uk/religious-discrimination-and-headscarves-take-two/>; Bell Mark, Leaving Religion at the Door? The European Court of Justice and Religious Symbols in the Workplace, 17 Human Rights Law Review 2017, 784-796, 791. Das Bundesgericht nimmt in seinem Urteil zum Genfer Laizitätsgesetz auf die Rechtsprechung des EuGH Bezug, um zu verneinen, dass das an Staatsangestellte adressierte Verbot, ihre Religionszugehörigkeit durch äusserliche Zeichen zu bekunden, eine direkte Diskriminierung darstellt. Im Unterschied zur Argumentation des EuGH, wonach die Neutralitätsregel zu einer indirekten Diskriminierung führen kann, verneint das Bundesgericht auch das Vorliegen einer mittelbaren Diskriminierung, ohne sich mit den europäischen Urteilen auseinanderzusetzen; siehe BGE 148 I 60 E. 8.2., 185: „En l’espèce, l’art. 3 al. 3 et 5 LLE/GE interdit à certaines personnes (membres du Conseil d’Etat, d’un exécutif communal, agents de l’Etat, etc.) de signaler leur appartenance religieuse lorsqu’elles sont en contact avec le public dans le cadre de leurs fonctions au service de l’Etat. Cette interdiction s’applique à ces personnes indépendamment de leur éventuelle foi dans une croyance particulière (respectivement de leur rejet de tout type de foi), de sorte qu’elle n’est pas discriminatoire par rapport à la religion suivie par celles-ci (dans ce sens, bien que s’agissant d’une règle interne d’une entreprise privée et non d’une disposition légale adoptée par un Etat, cf. arrêt de la CJUE du 15 juillet 2021 dans les affaires jointes C-804/18 [par. 52 et 55] et C-341/19 [par. 73 et 78, avec quelques nuances]). En particulier, pour ce qui concerne les recourants, elle n’est pas discriminatoire (même indirectement) envers les musulmans. Quant à l’argumentation des intéressés relative à la discrimination entre croyants et non-croyants, elle ne peut pas non plus être retenue. Les premiers ne sont en effet pas traités différemment des seconds. Contrairement à l’opinion des recourants, la norme critiquée n’interdit notamment pas aux personnes croyantes l’accès aux fonctions étatiques en question, mais se limite à demander à celles-ci de (i) observer la neutralité religieuse dans le cadre de leurs fonctions (interdiction de discrimination) et (ii) renoncer à manifester leur appartenance religieuse dans certaines situations“.
38 Siehe die Kritik in: EuGH, Schlussanträge der Generalanwältin Medina vom 28. April 2022 in der Rechtssache C-344/20: ECLI:EU:C:2022:328 – S.C.R.L., Rn. 50: „Ich muss zugeben, dass der Gerichtshof meines Erachtens im Urteil WABE die Gruppe für Vergleichszwecke in einer solchen Weise gefasst hat, dass Hinweisen auf Ungleichbehandlung im Hinblick auf Arbeitnehmer, die ihre Religion oder ihre religiösen Weltanschauungen nicht schlicht bekunden, sondern sie durch das Tragen bestimmter Bekleidung achten, ihre Konturen genommen wurden.“ Der Gerichtshof präzisiert, dass seine Auslegung, wonach Religion oder Weltanschauung einen einheitlichen Diskriminierungsgrund darstellen, „weder Vergleichen zwischen Arbeitnehmern mit religiösen Überzeugungen und Arbeitnehmern mit anderen Überzeugungen noch solchen zwischen Arbeitnehmern mit unterschiedlichen religiösen Überzeugungen entgegen[steht]“ und dass sich die Vergleichsgruppe „nicht auf Personen beschränkt, die nicht einer bestimmten Religion oder Weltanschauung anhängen“. (S.C.R.L., Rn. 59 f.). Angesichts der Tatsache, dass der Gerichtshof die Neutralitätsregel nicht als unmittelbare Diskriminierung einstuft, ist diese Präzisierung jedoch nicht geeignet, den vom nationalen Gericht angestrebten Schutz gegen direkte Diskriminierungen auszubauen. Zur Tragweite der erwähnten Präzisierung, siehe Tardivo Davide, Commentary. European Court of Justice Returns to Religious Neutrality Policies in Private Workplaces, International Labor Rights Case Law 2023, 201–205, 204.
39 Siehe z.B. Cloots, 601 ff.; van den Brink, 868 ff.; Hennette-Vauchez, European Constitutional Law Review 2017, 747 f.; Nozizwe Dube, Not just another Islamic headscarf case: LF v SCRL and the CJEU’s missed opportunity to inch closer to acknowledging intersectionality, European Law Blog, Blogpost 4/2023, 19. Januar 2023, <https://europeanlawblog.eu/2023/01/19/not-just-another-islamic-headscarf-case-lf-v-scrl-and-the-cjeus-missed-opportunity-to-inch-closer-to-acknowledging-intersectionality/>.
40 Das Kriterium der Absicht stellt Sharpston, Shadow Opinion, Rn. 207 in den Vordergrund: „Indirect discrimination occurs when an apparently neutral criterion is applied to everyone, but the result is a disparate adverse impact upon a particular sub-group of those to whom that criterion is applied. Because the criterion is, indeed, neutral rather than overtly discriminatory, that may perhaps generate a kind of unspoken assumption that in applying that neutral criterion, the employer’s intentions were straightforward and honourable. He did not mean to discriminate (had he had such an intention, he would have picked and used an overtly discriminatory criterion). Any discrimination that in fact occurred as a result of applying that neutral criterion was not the objective of the employer’s action, but merely an unfortunate side-effect. It is very easy to carry that unspoken assumption (if it is made) across to the subsequent analysis of the justification advanced and to scrutinise the latter with a correspondingly friendly eye.“
41 Die Schwangerschaft stellt z.B. ein mit dem Geschlecht unmittelbar verbundenes Kriterium dar.
42 In diesem Sinne Sharpston, Shadow Opinion, Rn. 217, 261.
43 EGMR (GK), Urteil vom 1. Juli 2014, Nr. 43835/11, S.A.S. g. Frankreich.
44 Menschenrechtsausschuss, Entscheidung vom 17. Juli 2018, Nr. 2747/2016, Sonya Yeker g. Frankreich.
45 S.A.S. g. Frankreich, Rn. 151: „The Court is aware of the fact that the impugned ban mainly affects Muslim women who wish to wear the full-face veil. It nevertheless finds it to be of some significance that the ban is not expressly based on the religious connotation of the clothing in question but solely on the fact that it conceals the face.“
46 Siehe unten, C.III.
47 Loi n° 2004-228 encadrant le port de signes ou de tenues manifestant une appartenance religieuse dans les écoles, collèges et lycées public vom 3. März 2004. Siehe auch das Genfer Laizitätsgesetz, welches es dem Staatsrat erlaubt, das Tragen auffälliger religiöser Zeichen in öffentlichen Gebäuden für eine beschränkte Zeit einzuschränken, um schwere Störungen der öffentlichen Ordnung zu verhindern. (Art. 7 Abs. 1 Loi sur la laïcité de l’Etat (LLE) vom 26. April 2018, rsGE A 2 75).
48 Wabe und Müller, Rn. 72.
49 Wabe und Müller, Rn. 73.
50 Wabe und Müller, Rn. 73.
51 Van den Brink, 866; kritisch auch Mulder, 1513 s.
52 Diesbezüglich bestehen bedeutende Unterschiede zwischen dem Christentum, einerseits, und dem Judentum sowie dem Islam andererseits. Siehe hierzu die historischen, theologischen und soziologischen Ausführungen von Weiler Joseph H.H., Je Suis Achbita! International Journal of Constitutional Law 2017, 879-906, 883 ff.
53 Zu dieser „dreifachen Diskriminierung“, siehe Generalanwältin Sharpstons Shadow Opinion, Rn. 41. Zur Kritik der Kopftuchurteile des EuGH aus der Warte der Intersektionalität, siehe Hertig Randall/Kibboua, 31 ff.; Lempen, 39 ff.
54 Zur intersektionellen Diskriminierung, siehe Kleber Eleanor, La discrimination multiple. Etude de droit itnernational, suisse et européen, Zurich 2015, 32 ff.; Malinverni et al., 583 f., Rn. 1182.
55 Siehe hierzu Kimberele Crenshaws grundlegenden Aufsatz, der Schutzlücken im Antidiskriminierungsrecht anhand von Gerichtsentscheiden aufzeigt, die schwarze Frauen betreffen. Die Autorin verweist z.B. auf ein Urteil zu Massenentlassungen durch das Unternehmen General Motors. Es war nicht bestritten, dass schwarze Frauen disproportional betroffen waren. Weil jedoch die allgemeine Kategorie der Frauen gleichermassen betroffen war wie diejenige der Männer, wies das Gericht eine Geschlechterdiskriminierung zurück. Es verwarf auch eine rassistische Diskriminierung, weil die Gruppe der schwarzen Arbeitnehmenden gegenüber weissen Arbeitnehmenden de facto nicht stärker betroffen war. Der Umstand, dass das Zusammenwirken von Geschlecht und Hautfarbe zu einer faktischen Schlechterstellung von schwarzen Frauen führte, konnte der gängige Ansatz im Diskriminierungsrecht nicht erfassen. Siehe Crenshaw Kimberele, Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics, University of Chicago Legal Forum 1989, Article 8, 139-176.
56 Siehe Fredman Sandra, Intersectional discrimination in EU gender equality and non-discrimination law, Luxemburg 2016, 66 ff., 87.
57 Vgl. Donegan Cara, Thinly veiled discrimination: Muslim women, intersectionality and the hybrid solution of reasonable accommodation and proactive measures, European journal of legal studies, 2020, 143 ff., die festhält, es sei wenig wahrscheinlich, dass sich der EuGH im jetzigen Regelungsrahmen mit Mehrfachdiskriminierungen auseinandersetzt. Die Bestrebungen in der EU, eine allgemeine horizontale Antidiskriminierungsrichtlinie zu verabschieden, wäre aus dem Blickwinkel der Intersektionalität zu begrüssen. Siehe die Entschliessung des Europäischen Parlaments vom 19. April 2023 zur Bekämpfung von Diskriminierung in der EU – die seit Langem erwartete horizontale Antidiskriminierungsrichtlinie (2023/2582(RSP)), Rn. 14, welche fordert, dass eine solche Richtlinie intersektionelle Diskriminierungen explizit untersagt.
58 Richtlinie (EU) 2000/78 für die Religion, Richtlinie (EU) 2000/43 für die ethnische Herkunft und Richtlinie (EU) 2006/54 für das Geschlecht.
59 Hierzu Hertig Randall/Kibboua, 312 m.w.H.; siehe auch den Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Anwendung der Richtlinie 2000/43/EG zur Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft („Rassismusbekämpfungsrichtlinie“) und der Richtlinie 2000/78/EG des Rates zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf („Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie“) COM(2021) 139 final vom 19. März2021, 6.
60 Für weitere Beispiele aus der ausländischen Rechsprechung, siehe Bribosia Emmanuelle/Médard Inghilterra Robin/Rorive Isabelle, Discrimination intersectionnelle en droit: mode d’emploi, Revue trimestrielle des droits de l’homme 2021, 241-274; Hertig Randall/Kibboua, 312.
61 BVerfGE 138, 296.
62 BVerfGE 138, 296, Rn. 96.
63 BVerfGE 138, 296, Rn. 96.
64 Menschenrechtsausschuss, Entscheidung vom 18. August 2018, Nr. 2662/2015, F.A. g. Frankreich.
65 Menschenrechtsausschuss, Entscheidung vom 17. Juli 2018, Nr. 2747/2016, Sonya Yeker g. Frankreich.
66 Sharpston, Shadow Opinion, Rn. 43: „Where an act by an employer is classified as direct discrimination, the available avenues under Directive 2000/78 nevertheless to justify it are both few in number and construed restrictively. If, where an act is classified as indirect discrimination, a relatively lax approach is taken towards scrutinising a possible justification advanced by the employers, that risks creating a significant gap in protection: a kind of legal black hole in which acts that escape being classified as direct discrimination then escape proper scrutiny and are not sanctioned.“
67 Siehe oben, B.
68 Dies entspricht jedenfalls der schweizerischen Neutralitätskonzeption. Vgl. BGE 142 I 39 E. 3.3, 52, E 3.5., 54, E. 9.2., 70: Das Bundesgericht bringt in diesem Urteil klar zum Ausdruck, dass sich die konfessionelle Neutralität gegen den Staat richtet und hält dementsprechend fest, dass Schüler*innen keiner Neutralitätspflicht unterworfen sind. Aus dieser Unterscheidung zwischen dem Staat und Privatpersonen folgt, dass auch private Unternehmen keiner Pflicht zur konfessionellen Neutralität unterliegen.
69 Siehe Hertig/Kibboua, 317.
70 Zu recht kritisch zu dieser Neutralitätskonzeption, Mulder, 1511: „Essentially, what neutrality policies do is to impose what is perceived as ‚normal‘ in the European, predominantly Christian world. But the European ‚normal‘ is far from neutral. By conforming with the status quo, it is then often not necessary to grant exceptions to Western or occidental cultures and traditions. As such, it fails to recognize the needs of diverse groups of minorities.“
71 BVerfGE 138, 296. Rn. 110.
72 BVerfGE 138, 296, Rn. 105.
73 Siehe z.B. Cloot, 631 f.; van den Brink, 877; Hennette-Vauchez, European Constitutional Law Review 2017, 745; Hertig Randall/Kibboua, 320; Sharpston, Shadow Opinion, Rn. 42.
74 Sharpston, Shadow Opinion, Rn. 42.
75 S.C.R.L., § 41.
76 EGMR, Entscheid vom 15. Februar 2001, Nr. 42393/98, Dahlab g. Schweiz.
77 Der EGMR anerkennt im Entscheid Dahlab, dass es schwierig ist, einen konkreten Einfluss nachzuweisen und begnügt sich mit der Möglichkeit einer Beeinflussung.
78 Siehe BVerfGE 108, 282, Rn. 55 f.
79 EGMR (GK) Urteil vom 18. März 2011, Nr. 30814/06, Lautsi g. Italien.
80 Lautsi g. Italien, Rn. 69 ff.
81 BVerfGE, 93, 1.
82 BVerfGE, 138, 296.
83 BGE 142 I 49 E. 8.2.2., 67. Siehe auch ebenda, E. 9.4.2., 72: „Es ist auch nicht ersichtlich, inwiefern ein Verbot der religiösen Kopfbedeckungen erforderlich wäre, um die Glaubensfreiheit der Mitschülerinnen und Mitschüler zu wahren: Ebenso, wie ein gläubiger Schüler nicht verlangen kann, dass die Mitschülerinnen und Mitschüler anderen Glaubens ihren Körper entsprechend seinen religiösen Bekleidungsvorschriften verhüllen (…), ist es Mitschülern zuzumuten, das Tragen von religiösen Symbolen durch die Mitschülerin hinzunehmen. Durch die Wahrnehmung anderer Glaubensbekenntnisse oder anderer Weltanschauungen werden individuelle Glaubensbekenntnisse in aller Regel relativiert und ausgeglichen. (…) Ein Zwang für andere Schüler, in eine religiöse Handlung einbezogen zu werden, liegt durch das Tragen eines Kopftuchs durch eine Mitschülerin nicht vor (Art. 15 Abs. 4 BV; vgl. hiervor E. 3.4). Die Grundrechte der Mitschüler und Eltern erfordern gestützt auf die vorgebrachten Umstände kein allgemeines Kopfbedeckungsverbot.“
84 EGMR, Urteil vom 26. November 2015, Nr. 64846/11, Ebrahimian g. Frankreich.
85 Vgl. BGE 142 I 49, E. 7.2., 65; BGE 139 I 280 E. 5.2., 285, in denen das Bundesgericht unterstreicht, ein „Kopftuchverbot an der Schule brächte die Schülerin in den Konflikt, entweder einem staatlichen oder aber einem religiösen, durch ihre Herkunft und die Familie vermittelten Gebot zuwiderhandeln zu müssen“, was die betroffenen Kinder stark belasten würde. Das Bundesgericht schweigt sich jedoch in BGE 148 I 60 zum Dilemma aus, zu welchem ein Verbot sichtbarer religiöser Zeichen für Staatsangestellte führt, und minimisiert den Grundrechtseingriff, indem es festhält, die erwähnte Vorschrift verbiete nicht den Zugang zu den betroffenen Ämtern (siehe oben, Fn. 37). Den Eingriff minimisiert auch der EuGH im Urteil Wabe und Müller, Rn. 53, wenn er von „besonderen Unannehmlichkeiten“ spricht. Siehe die Kritik von EuGH, Schlussanträge der Generalanwältin vom 28. April 2022 in der Rechtssache C-344/20: ECLI:EU:C:2022:328 – S.C.R.L., Rn. 66: „Wenn z. B. Arbeitgeber interne Neutralitätsregeln als allgemeinen Grundsatz aufstellen, können muslimische Frauen tatsächlich nicht nur ‚besondere Unannehmlichkeiten‘, sondern einen gravierenden Nachteil bei der Anstellung erfahren. Dies kann wiederum dazu führen, sie vom Arbeitsmarkt – einem Quell persönlicher Entwicklung und sozialer Integration – auszugrenzen, was dann zu einer Diskriminierung führt, die über die Religion hinausgeht und sich auch auf das Geschlecht erstreckt.“
86 Menschenrechtsausschuss, Entscheidung vom 16. Dezember 2008, Nr. 1852/2008: „The turban is not worn with a view to proselytize – a concept which is foreign to the Sikh religion.“
87 Siehe BVerfGE 138, 296, Rn. 105, welches zwischen dem blossen Tragen eines religösen Symbols und dem Tragen des Symbols, einhergehend mit verbalem Werben für eine Religion unterscheidet.
88 Art. 2 Abs. 3 Richtlinie (EU) 2000/78.
89 S.C.R.L., § 41, siehe weiter oben in diesem Abschnitt.
90 Van den Brink, 879. In diese Richtung auch die Rechtsprechung des U.S. Supreme Courts zum weiter unten aufgegriffenen Problemkreis der angemessenen Vorkehrungen („reasonable accommodation“). Arbeitgebende können angemessene Vorkehrungen zugunsten der Religionsfreiheit der Arbeitnehmenden nicht mit der Begründung verweigern, die betroffene Religion stosse auf Ablehnung seitens der Angestellten: „Impacts on coworkers are relevant only to the extent those impacts go on to affect the conduct of the business. A court must analyze whether that further logical step is shown. Further, a hardship that is attributable to employee animosity to a particular religion, to religion in general, or to the very notion of accommodating religious practice, cannot be considered ‚undue‘. Bias or hostility to a religious practice or accommodation cannot supply a defense.“ (U.S. Supreme Court, Groff v. DeJoy, 600 U.S.___ (2023), 5.
91 Wabe und Müller, Rn. 67.
92 Siehe auch EuGH, Urteil vom 25. April 2013 in der Rechtssache C‑81/12, ECLI:EU:C:2013:275 – Asociaţia Accept, betreffend öffentliche Äußerungen, mit denen die Einstellung eines als homosexuell dargestellten Fußballspielers ausgeschlossen wird.
93 Wabe und Müller, Rn. 66.
94 Howard 2022, 256 scheint das Votum wörtlich auszulegen und unterstreicht dementsprechend dessen Inkohärenz.
95 S.C.R.L., Rn. 41.
96 Djelassi Anissa/Mertens Romain/Wattier Stéphanie, Principe de neutralité dans les entreprises privées: la Cour de justice étoffe sa jurisprudence relative à l’interdiction des signes religieux (obs. sous C.J.U.E., Gde Ch., arrêt IX c. WABE eV et MH Müller Handels GmbH c. MJ, 15 juillet 2021, aff. jtes no C-804/18 et no C-341/19), Revue trimestrielle des droits de l’Homme 2022, 373-395, 386 f.
97 Djelassi Anissa/Mertens Romain/Wattier Stéphanie, 386 f. m.w.H.
98 EGMR, Urteil vom 15. Januar 2013, Nr. 48420/10, 59842/10, 51671/10 and 36516/10, Eweida u.a. gegen Vereinigtes Königreich.
99 Achbita, Rn. 38.
100 Eweida, § 94: „(…) the Court has reached the conclusion in the present case that a fair balance was not struck. On one side of the scales was Ms Eweida’s desire to manifest her religious belief. As previously noted, this is a fundamental right: because a healthy democratic society needs to tolerate and sustain pluralism and diversity; but also because of the value to an individual who has made religion a central tenet of his or her life to be able to communicate that belief to others. On the other side of the scales was the employer’s wish to project a certain corporate image. The Court considers that, while this aim was undoubtedly legitimate, the domestic courts accorded it too much weight.“
101 Sharpston, Shadow Opinion, Rn. 130.
102 Für eine rechtsvergleichende Untersuchung zum Konzept der „angemessenen Vorkehrungen“, siehe Ventura Morgane, L’accommodement raisonnable comme nouvel outil dans la lutte contre la discrimination – Etude de droit comparé (Etats-Unis, Canada, Suisse), Zürich 2023; Hertig Randall Maya, La jurisprudence du Tribunal fédéral en matière de liberté religieuse sous le prisme de l’accommodement raisonnable, in mélanges en l’honneur du professeur Barbara Wilson, Genf 2016, 265 ff.
103 Siehe van den Brink, 867 f.
104 Hertig Randall/Kibboua, 321 f.; Lempen, 61; Weiler, 890; Ferri Marcella, The interplay between religious discrimination in the workplace and fundamental rights: the cherry-pick approach of the EU Court of Justice, Eurojus Heft 1, 2022 <https://rivista.eurojus.it/wp-content/uploads/pdf/Qui25.pdf>, 291-311, 303.
105 Für eine Kritik aus einer Gender-Perspektive, siehe Lempen, 65, die hervorhebt, dass die Backoffice-Lösung dem Anliegen zuwiderläuft, Frauen als Rollenmodelle in Berufen sichtbar zu machen, wo sie untervertreten sind. Dies ist vor allem für den Fall Bougnaoui (Softwaredesignerin) relevant.
106 Hertig Randall/Kibboua, 321; Weiler, 885 ff.
107 Siehe Ferri, 304.
108 Wabe und Müller, Rn. 85.
109 Siehe die Kritik von Ferri, 304.
110 Van den Brink, 878.
111 Siehe Mulder, 1519: „Putting it bluntly, an employer may also have an interest in paying part-time workers less than full-time workers, given that it reduces the overall cost of running the business. However, we would not consider that interest when assessing whether the ‚particular disadvantage‘ can be justified under the scope of indirect sex discrimination. Indeed, financial considerations have been rejected as a possible objective justification within the context of indirect sex discrimination.“
112 Siehe die Schlussanträge von Generalanwalt Maduro vom 10. Juli 2008 in der Rechtssache vom 12. März 2008 in der Rechtssache C-54/07, ECLI:EU:C:2008:155 – Feryn, Rn. 18, bezugnehmend auf Sunstein Cass R., Why markets don’t stop discrimination, in: Free markets and social justice, Oxford 1997, 165. Siehe auch Cloots, 613.
113 Siehe Donegan Cara, Thinly veiled discrimination: Muslim women, intersectionality and the hybrid solution of reasonable accommodation and proactive measures, European journal of legal studies 2020, 143-179.
114 Siehe oben, C.III.1.
115 Van den Berg, 875.
116 Siehe oben, C.III.1.
117 Hertig Randall/Kibboua, 310 m.w.H.; Śledzińska-Simon Anna, Is there a place for the Islamic veil in the workplace? Managerial prerogatives and the duty of reasonable accommodation in the EU anti-discrimination governance, ERA Forum (17) 2016, 203–220, 218.
118 Siehe oben, C.III.1.
119 Achbita, Rn. 43: Das vorlegende Gericht hat zu prüfen, ob „ob es G4S, unter Berücksichtigung der unternehmensinternen Zwänge und ohne eine zusätzliche Belastung tragen zu müssen, möglich gewesen wäre, ihr in Anbetracht dieser Weigerung einen Arbeitsplatz ohne Sichtkontakt mit Kunden anzubieten, statt sie zu entlassen.“ (Hervorhebung durch die Autorin).
120 Der U.S. Supreme Court hat in einem im Jahr 2023 ergangenen Urteil den Diskriminierungsschutz und die Religionsfreiheit der Arbeitnehmenden deutlich gestärkt. Entgegen der früheren Rechtsprechung (Trans World Airlines, Inc. v. Hardison, 432 U. S. 63 [1977]), haben Arbeitgebende nicht nur minimale Kosten hinzunehmen, sondern eine „erhebliche Kostensteigerungen im Zusammenhang mit der Ausübung ihrer jeweiligen Tätigkeit“ („substantial increased costs in relation to the conduct of its particular business“) darzulegen; siehe U.S. Supreme Court, Groff v. Dejoy, 600 U.S. ____ (2023), 18.
121 Denkbar wäre, dass sich die beiden Parteien auf das Tragen einer alternativen Kopfbedeckung (z.B. Mütze) einigen. Dieser Kompromiss dürfte jedoch für viele muslimische Frauen nicht akzeptabel sein und stösst auch bei den Arbeitgebenden teils auf Widerstand. Siehe hierzu den Fall S.C.R.L. (oben, B.III.), in welchem das Unternehmen einen solchen Kompromiss verworfen hatte, und BVerfGE 138, 296 betreffend eine Lehrerin, die als Kompromisslösung eine Wollmütze tragen wollte.
122 Diese Auslegung wird durchwegs positiv gewürdigt, doch ein Teil der Lehre merkt kritisch an, dass der Verweis des EuGH auf den nationalen Gerichten zustehenden Wertungsspielraum im Bereich des Diskriminierungsschutzes quer in der Landschaft liegt (siehe z.B. Howard 2022, 260 m.w.H.). Bei anderen Diskriminierungsgründen (z.B. Geschlecht, ethnische Herkunft, sexuelle Orientierung) wäre es schwer haltbar zu argumentieren, die Mitgliedstaaten könnten „im Hinblick auf die Vielfalt der von diesen verfolgten Ansätzen“ (Müller und Waabe, Rn. 86) und den fehlenden Konsens unterschiedliche Schutzniveaus gewährleisten. Anders gesagt, die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entwickelte „Margin of Appreciation“ Doktrin kann nicht ohne weiteres von der Religionsfreiheit auf das Diskriminierungsgebot übertragen werden.
123 Oben, C.III.1.
124 Wabe und Müller, Rn. 85.