Risiko & Recht

Ausgabe 02 / 2023

Legistische Herausforderungen im Polizeirecht

Arthur Brunner / Matthias Kradolfer*

Gesetzgebung im Bereich des Polizeirechts ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Es gilt konfligierende Interessen auszutarieren und im Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit Lösungen zu finden, welche mit übergeordnetem Recht vereinbar sind, es gleichzeitig aber auch erlauben, den verschiedenen Formen von Bedrohungslagen und der dynamischen Fortentwicklung technischer Möglichkeiten Rechnung zu tragen. Die hohe Kadenz, mit welcher die kantonalen Polizeigesetze in den letzten Jahren überarbeitet wurden, zeigt, dass sich in diesem Umfeld Lösungen oftmals nur auf Zeit finden lassen. Es ist eine hohe Unbeständigkeit von Polizeierlassen zu konstatieren. Der vorliegende Beitrag nimmt vor diesem Hintergrund die formell-rechtsstaatlichen Anforderungen an die Normierung des präventiv-polizeilichen Handelns durch die Kantone unter die Lupe. Zunächst werden die Implikationen erörtert, die sich für den kantonalen Polizeigesetzgeber aus der Zuständigkeit des Bundes für den Erlass des Strafprozessrechts ergeben. Es folgen Überlegungen zu Legalitätsprinzip und polizeilicher Generalklausel. Im Vordergrund steht dabei jeweils die Frage, wie die kantonalen Polizeigesetzgeber – aus rechtlicher Sicht – auf eine höhere Beständigkeit ihrer Erlasse hinwirken können, die unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten wünschbar ist.

* Dr. Arthur Brunner ist Richter am Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen und Lehrbeauftragter für öffentliches Recht an den Universitäten Zürich und St. Gallen. PD Dr. Matthias Kradolfer war bis 31. Dezember 2023 Richter am Obergericht Thurgau und nebenamtlicher Bundesrichter. Seit 1. Januar 2024 ist er Richter an der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts und nebenher Privatdozent für öffentliches Recht an der Universität Zürich.

Inhalt

  1. Einführung
  2. Beachtung der bundesstaatlichen Zuständigkeitsordnung
    1. Abgrenzung der Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes und
      der Kantone
    2. Der „Anfangsverdacht“ als Anknüpfungspunkt für die
      (ausschliessliche) Anwendung der StPO
    3. Verwertbarkeit präventiv-polizeilich gewonnener Beweismittel
      im Strafprozess

      1. Grundlagen
      2. Grundsatz: Präventiv-polizeilich gewonnene Beweismittel dürfen
        im Strafverfahren beigezogen werden
      3. Anforderungen an die Rechtmässigkeit präventiv-polizeilich
        gewonnener Beweismittel aus Sicht des Strafprozessrechts
      4. Verwertbarkeit von durch die Polizei erhobenen Beweismitteln
        ohne Rechtsgrundlagen?
    4. Implikationen für die polizeirechtliche Gesetzgebungspraxis
  3. Legalitätsprinzip und polizeiliche Generalklausel
    1. Grundlagen
    2. Zielkonflikte im Polizeirecht
    3. Anforderungen an die Normdichte (Bestimmtheitsgebot)
      1. Normbezogene und sachbezogene Topoi zur Konkretisierung des
        Bestimmtheitsgebots
      2. Rechtssatz für Zweckänderung der Informationsbearbeitung?
    4. Anforderungen an die Normstufe (Erfordernis der Gesetzesform)
    5. Beschränkte Tragweite der polizeilichen Generalklausel
  4. Schluss
  5. Literaturverzeichnis

I. Einführung

Die kantonalen Gesetzgeber müssen beim Erlass neuen Polizeirechts multiplen Interessen Rechnung tragen: Sie wollen den kantonalen Polizeikorps Instrumente in die Hand geben, welche die Sicherheit der Bevölkerung bestmöglich gewährleisten, ohne übermässig in die Freiheitssphäre der Einzelnen einzugreifen. Sie müssen neu auftretenden Problemlagen begegnen, die sich aufgrund der stetigen Veränderung der Technik und des sicherheitspolitischen Umfelds ergeben. Die dafür eingesetzten neuen Technologien sind jedoch missbrauchsanfällig und können zumindest potenziell die demokratische Grundordnung gefährden (zu denken ist beispielsweise an die Überwachung einer Vielzahl von Personen in Kombination mit dem vollautomatisierten Datenabgleich, wie sie bei der automatisierten Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung stattfindet). Und nicht zuletzt will die Politik Wahlversprechen einlösen, sollte dabei aber der Versuchung widerstehen, Symbolpolitik zu betreiben, die für die kantonalen Polizeikorps erheblichen Aufwand zur Folge haben kann, ohne dass sich die angepeilten Ziele wirklich erreichen liessen. Dieses Spannungsfeld faktischer Interessen bettet sich in einen bundesrechtlichen Rahmen ein. Dieses übergeordnete Recht ist – ebenso wie die Rechtsprechung des Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – in stetiger Fortentwicklung begriffen. Nicht selten fehlt es deshalb im Zeitpunkt eines konkreten kantonalen Gesetzgebungsvorhabens für rechtliche Streitfragen an verbindlichen Antworten (des Bundesgerichts oder des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte). Die rechtswissenschaftliche Literatur trägt hier nur punktuell zur Klärung bei, zumal zum Polizeirecht – im Vergleich beispielsweise zum Strafprozessrecht, dessen wissenschaftliche Durchdringung seit der schweizweiten Vereinheitlichung im Jahr 2007 erheblich zugenommen hat – immer noch recht wenig geschrieben wird.

Die dargelegten Rahmenbedingungen lassen die Gesetzgebung im Bereich des Polizeirechts als anspruchsvoll erscheinen. Die hohe Kadenz, mit welcher die kantonalen Polizeigesetze in den letzten Jahren überarbeitet wurden,[1]So erfolgten beispielsweise zum St. Galler Polizeigesetz vom 10. April 1980 (PG/SG, sGS 451.1) in den letzten zehn Jahren – neben einer Änderung im Zusammenhang mit einer Anpassung des … Continue reading zeigt, dass sich Lösungen oftmals nur für eine beschränkte Zeit finden lassen. Öfters wurde ausserdem in den letzten Jahren das Bundesgericht im Rahmen abstrakter Normenkontrollen mit neuen Polizeierlassen befasst;[2]BGE 140 I 381 (Observation, verdeckte Fahndung und verdeckte Vorermittlung); BGE 124 I 85 (Verpflichtung der Polizeibeamten zum Tragen von Namensschildern); BGE 109 Ia 146 (Identitätskontrollen, … Continue reading das Bundesgericht hat die angefochtenen kantonalen Erlasse dabei wiederholt auch aufgehoben.[3]BGE 147 I 103 (automatische Verbindung zwischen Wegweisungs- und Fernhaltungsmassnahmen mit einer Strafandrohung nach Art. 292 StGB; Wegweisungsbestimmung, die sich gegen Fahrende richtet; … Continue reading

Der vorliegende Beitrag nimmt vor diesem Hintergrund die formell-rechtsstaatlichen Anforderungen an die Normierung des präventiv-polizeilichen Handelns[4]Unter präventiv-polizeilichem Handeln wird in diesem Beitrag die auf Gefahrenabwehr oder auf Erkennung und Verhinderung einer potenziellen Straftat ausgerichtete polizeiliche Aktivität verstanden; … Continue reading durch die Kantone unter die Lupe. Zunächst werden die Implikationen erörtert, die sich für den kantonalen Polizeigesetzgeber aus der Zuständigkeit des Bundes für den Erlass des Strafprozessrechts ergeben (vgl. Ziff. II hiernach). Es folgen Überlegungen zu Legalitätsprinzip und polizeilicher Generalklausel (vgl. Ziff. III hiernach). Im Vordergrund steht dabei jeweils die Frage, wie die kantonalen Polizeigesetzgeber – aus rechtlicher Sicht – auf eine höhere Beständigkeit ihrer Erlasse hinwirken können, die unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten wünschbar ist.

II. Beachtung der bundesstaatlichen Zuständigkeitsordnung

1. Abgrenzung der Gesetzgebungszuständigkeiten des Bundes und der Kantone

Die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Strafprozessrechts ist Sache des Bundes (Art. 123 Abs. 1 BV). Gestützt auf diese Kompetenznorm hat der Bundesgesetzgeber am 5. Oktober 2007 die schweizerische Strafprozessordnung (StPO, SR 312.0) erlassen.

Ausgangspunkt eines jeden Strafverfahrens bildet der Verdacht, dass eine strafbare Handlung begangen worden sein könnte (Art. 1 Abs. 1 StPO); die StPO regelt die Vorkehrungen, mit welchen die Richtigkeit dieses Verdachts überprüft und gegebenenfalls die Straftat beurteilt wird, und sie strukturiert das Verfahren.[5]BGE 140 I 353 E. 4.1; Urteile des Bundesgerichts 1C_269/2021 vom 13. Oktober 2022 E. 3.1.1 und 6B_1061/2020 vom 26. Oktober 2022 E. 1.4.2. In ihrem 5. Titel („Zwangsmassnahmen“) stellt sie den Strafverfolgungsbehörden – zu denen namentlich die Kriminalpolizei gehört (Art. 12 lit. a StPO) – verschiedene grundrechtsintensive Massnahmen zur Verfügung, welche die Aufklärung und strafrechtliche Verfolgung von Straftaten ermöglichen sollen.

Nicht in der StPO geregelt ist demgegenüber die präventiv-polizeiliche Tätigkeit, welche insbesondere der Erkennung und Verhinderung von Straftaten dient.[6]BGE 143 IV 27 E. 2.5. Für entsprechende Regelungen sind die Kantone zuständig, die auf ihrem Hoheitsgebiet über die originäre Kompetenz zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verfügen.[7]Botschaft des Bundesrats vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 236 f.; Urteil des Bundesgerichts 1C_39/2021 vom 29. November 2022 E. 4.1 (zur Publikation vorgesehen), … Continue reading Aufgrund ihrer diesbezüglichen Gesetzgebungszuständigkeiten sind die Kantone etwa für Regelungen betreffend die Erfassung der Geschwindigkeit von Fahrzeugen mittels Radargeräts[8]Urteil des Bundesgerichts 6B_372/2018 vom 7. Dezember 2018 E. 2.3.1. oder betreffend die automatische Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung[9]BGE 146 I 11. zuständig, für die es im Strafprozessrecht des Bundes in dieser Form keine Äquivalente gibt. Daneben sind die kantonalen Polizeikorps für eine wirkungsvolle Durchführung ihrer präventiv-polizeilichen Aufgaben auf Instrumente angewiesen, die sich in – mehr oder weniger – vergleichbarer Weise auch in der StPO finden; dazu gehören z.B. die geheimen Überwachungsmassnahmen (Observation [Art. 282 f. StPO],[10]Vgl. hierzu auch BGer 6B_1061/2020 E. 1.5.2, wonach „Observationen vor Erlass der eidgenössischen Strafprozessordnung überwiegend nicht als strafprozessuale Massnahme verstanden“ worden seien. … Continue reading verdeckte Ermittlung [Art. 285a ff. StPO], verdeckte Fahndung [Art. 298a ff. StPO], die polizeirechtliche Äquivalente in Form der polizeilichen Kontaktnahme [z.B. § 32d PolG/ZH[11]Polizeigesetz des Kantons Zürich vom 23. April 2007; LS 550.1.] bzw. der polizeilichen Vorermittlung [z.B. § 32e PolG/ZH besitzen[12]Vgl. Urteil des Bundesgerichts 6B_1261/2015 vom 28. September 2016 E. 4.) oder auch Massnahmen, welche die physische Festhaltung einer Person zum Gegenstand haben (vorläufige Festnahme [Art. 217 ff. StPO] und Polizeigewahrsam [z.B. § 25 PolG/ZH]).[13]Dies gilt nicht nur für das Polizeirecht, sondern generell für das Verwaltungs(verfahrens)recht. Wenn das Bundesgericht für die Abgrenzung des Anwendungsbereichs von Strafprozessrecht und … Continue reading

In der Praxis kann sich die Abgrenzung des präventiv-polizeilichen vom kriminalpolizeilichen Wirkungskreis als anspruchsvoll erweisen, zumal die Tätigkeiten oftmals ineinanderfliessen. So können Polizeimitarbeitende in Ausübung präventiv-polizeilicher Aufgaben auf strafrechtlich relevante Sachverhalte stossen.[14]Vgl. für ein gutes Anschauungsbeispiel BGE 143 IV 27: Ein Ermittler der Kantonspolizei Zürich hielt in Kinder- und Jugendchaträumen Ausschau nach Anzeichen pädosexueller Aktivitäten und … Continue reading Oder sie sind zur Aufdeckung schwerwiegender Straftaten – z.B. im Bereich des Menschenhandels – darauf angewiesen, Vorermittlungen[15]Vorermittlungen bezwecken nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung „die Feststellung, ob überhaupt strafprozessual abzuklärende Sachverhalte vorliegen oder nicht, und im bejahenden Fall eine … Continue reading durchzuführen, wobei sie ihre diesbezüglichen (auf „Verdachtsbegründung“ ausgerichteten) Nachforschungen notgedrungen an kriminalistischen Erfahrungswerten ausrichten werden (z.B. verstärkte Kontrollen in „bekannten Etablissements“[16]Vgl. Botschaft des Regierungsrates des Kantons Thurgau zur Änderung des Polizeigesetzes vom 5. Juli 2022, 12, abrufbar unter <https://grgeko.tg.ch/o/grgeko-portlet/activity/5148469> (zuletzt … Continue reading),[17]Vgl. zu der – unter dem Aspekt des Diskriminierungsverbots (Art. 8 Abs. 2 BV) – heiklen Frage, unter welchen Umständen eine polizeiliche Personenkontrolle, die (auch) an äusserliche Merkmale … Continue reading die sich im Einzelfall relativ rasch zu einem konkreten Tatverdacht verdichten können.[18]Vgl. für einen anschaulichen Fall Urteil des Bundesgerichts 6B_1409/2019 vom 4. März 2021. Zu beurteilen war, ob der beschuldigte Geschäftsführer eines Clublokals von den kantonalen Instanzen zu … Continue reading Eine Bestimmung in einem kantonalen Polizeigesetz, die es der Kantonspolizei „aus Gründen der Beweissicherung“ erlaubt, Teilnehmerinnen oder Teilnehmer einer öffentlichen Veranstaltung aufzuzeichnen, sofern die konkrete Gefahr besteht, dass Straftaten begangen werden, ordnete das Bundesgericht als „doppelfunktionale Massnahme“[19]Vgl. zu diesem Begriff Kommentar PolG/ZH-Zimmerlin, Rz. 54 ff. zu Aufsicht und Rechtsschutz, mit Hinweisen. dem präventiv-polizeilichen Bereich zu;[20]BGer 6B_1061/2020 E. 1.5.3 und 1.5.4. entsprechend bejahte es die Gesetzgebungszuständigkeit des Kantons (Basel-Stadt).[21]BGer 6B_1061/2020 E. 1.5.5.

2. Der „Anfangsverdacht“ als Anknüpfungspunkt für die (ausschliessliche) Anwendung der StPO

Entscheidendes Abgrenzungskriterium für die Frage, ob im konkreten Einzelfall auf das – äusserlich zuweilen nicht klar zuordenbare – Handeln der Angehörigen der Polizeikorps (kantonales) Polizeirecht oder (eidgenössisches) Strafprozessrecht anwendbar ist, bildet das Vorliegen eines Anfangsverdachts einer Straftat (Art. 1 Abs. 1, Art. 15 Abs. 1 und Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO).[22]BGE 143 IV 27 E. 2.5, m.w.H.; Zimmerlin, 272; BSK StPO-Riedo/Boner, Art. 299 Rz. 15. Lehre und Praxis sprechen auch vom Gebot der strafprozessualen Verdachtssteuerung.[23]Urteil des Bundesgerichts 1B_256/2021 vom 22. Juli 2021 E. 2.2; Rechenschaftsbericht des Obergerichts Thurgau (RBOG) 2020 Nr. 27, E. 2a/cc; Albrecht, 64; Natterer, 3. Der Anfangsverdacht, der die (ausschliessliche) Anwendbarkeit der StPO zur Folge hat, kann nach der Rechtsprechung bloss vage sein.[24]BGE 140 I 353 E. 5.4. Vgl. auch SK StPO-Landhut/Bosshard, Art. 309 Rz. 26. Nicht entscheidend ist dabei, entgegen anderslautender Andeutungen in der Rechtsprechung,[25]Vgl. BGer 2C_479/2022 E. 7.2.4. Für die Anwendbarkeit der StPO ist eine formelle Strafanzeige (Art. 299 ff. StPO) nicht erforderlich. dass formell Strafanzeige erhoben worden ist. Es erscheint sachrichtig, diesbezüglich relativ tiefe Hürden anzusetzen, zumal sonst die Gefahr besteht, strafprozessuale Rechte des Beschuldigten auszuhöhlen.[26]Vgl. zur Kluft zwischen Strafprozess- und Polizeirecht Simmler, 451 f.

Besonders sensitiv ist die Konkretisierung des strafprozessualen Anfangsverdachts im Bereich des polizeilichen Bedrohungsmanagements, das in jüngerer Zeit insbesondere im Bereich der häuslichen und sexuellen Gewalt (in intimen Beziehungen), aber auch bei Drohungen und physischer Gewalt gegenüber Behörden oder Drittpersonen sowie gegenüber Personen mit extremistischem oder radikalem Hintergrund verstärkt zur Anwendung gelangt[27]Vgl. Simmler/Markwalder/Brunner/Belôrf, 17 f. und im Wesentlichen das Ziel verfolgt, von Individuen ausgehende Gefahren frühzeitig zu erkennen, niederschwellig (z.B. mittels regelmässiger Kontaktnahmen) zu deeskalieren und damit Delikte zu verhindern.[28]Bericht des Bundesrats vom 11. Oktober 2017 in Erfüllung des Postulates Feri 13.3441, Bedrohungsmanagement, insbesondere bei häuslicher Gewalt, Überblick über die rechtliche Situation und … Continue reading Polizeiliche Interventionen im Bereich des polizeilichen Bedrohungsmanagements finden in einem Zeitpunkt statt, in denen sich ein Tatverdacht (auf ein Offizialdelikt) noch nicht hinreichend verdichtet hat. Sie erfolgen jedoch nicht „anlasslos“, sondern gegenüber Personen, von denen mutmasslich ein gewisses Gefährdungspotenzial ausgeht. In der Regel und insbesondere bei häuslicher Gewalt basiert das präventiv-polizeiliche Vorgehen mithin auf konkreten Vorfällen, bei denen der Tatverdacht – und damit die Anwendbarkeit der StPO mit ihren zahlreichen Formalismen – greifbar ist bzw. jedenfalls nicht weit entfernt scheint.

Wenn in solchen Konstellationen gleichwohl präventiv-polizeilich interveniert wird, was in der Sache durchaus wünschbar sein kann, stellt sich die Frage, wie mit Situationen umzugehen ist, in denen es später doch zu einem Strafverfahren kommt. Nicht auf der Hand liegt insbesondere, ob und inwieweit präventiv-polizeilich gewonnene Beweismittel in einem solchen Strafprozess verwertet werden dürfen. Aufgrund der präventiv-polizeilichen Interventionen, die ihren Zweck nur erfüllen können, wenn sie niederschwellig erfolgen, werden die „Gefährder“ nämlich kaum je damit rechnen (müssen), dass allfällige Erkenntnisse direkt in ein späteres Strafverfahren einfliessen können. Müsste damit gerechnet werden, würde dies im Gegenteil die für den Erfolg des polizeilichen Bedrohungsmanagements unabdingbare Kooperationsbereitschaft der Betroffenen in Frage stellen.

3. Verwertbarkeit präventiv-polizeilich gewonnener Beweismittel im Strafprozess

a) Grundlagen

Nach Art. 139 Abs. 1 StPO setzen die Strafbehörden zur Wahrheitsfindung alle nach dem Stand von Wissenschaft und Erfahrung geeigneten Beweismittel ein, die rechtlich zulässig sind. Beweise die unrechtmässig erlangt worden sind, können unter Umständen (vgl. hierzu Ziff. II.3.d) hiernach) nicht verwertet werden, d.h. die zuständige Strafbehörde muss sie bei der Beurteilung der Angelegenheit ausblenden (vgl. Art. 140 f. StPO).

Die Beweisverbotsregeln der StPO müssen auch dann zur Anwendung gelangen, wenn ein Beweismittel im Rahmen präventiv-polizeilicher Tätigkeit erhoben worden ist,[29]BGE 146 I 11 E. 4.1. ansonsten die Sammlung von Beweisen ausserhalb der strafprozessualen Regeln ins Belieben oder zur freien Disposition der Behörden gestellt würde.[30]Vgl. BSK StPO-Gless, Art. 141 Rz. 38 f.; Bürge, 81 ff.

b) Grundsatz: Präventiv-polizeilich gewonnene Beweismittel dürfen im Strafverfahren beigezogen werden

Die durch präventiv-polizeiliche Tätigkeit gewonnenen Informationen können über den Aktenbeizug (Art. 194 Abs. 2 StPO) in ein Strafverfahren überführt werden.[31]Vgl. BSK StPO-Dzierzega Zgraggen, Art. 194 Rz. 1; unzulässig wäre hingegen, wenn die Staatsanwaltschaft gegenüber der Polizei eine Beschlagnahmeverfügung erlässt. Die Regeln über die … Continue reading Beweismittel, die formell betrachtet aus einem Drittverfahren stammen, sind im Prinzip verwertbar, sofern dadurch die strafprozessualen Regeln und die Rechte der beschuldigten Person nicht ausgehöhlt werden.[32]Vgl. (jeweils für das Verhältnis von Verwaltungs- und Strafverfahren) BGE 142 IV 207 E. 8.3.1 f.; BGE 140 II 384 E. 3.3.4; BGE 138 IV 47 E. 2.6.1 f. Das gilt auch für „tatverdachtsbegründende“ Beweise, die im Rahmen präventiv-polizeilicher Tätigkeit rechtmässig erhoben wurden.[33]BGer 6B_1061/2022 E. 1.7.5; Bürge, 83; Zimmerlin, 273, m.w.H. auf abweichende Meinungen.

Das Bundesgericht hat – hiervon abweichend – im Zusammenhang mit Alkoholtestkäufen auch die Auffassung vertreten, dass die von der Gewerbepolizei durch Testkäufe gewonnenen Erkenntnisse nur als rechtmässig angesehen werden könnten, wenn sie den Anforderungen des (damals noch anwendbaren) Bundesgesetzes vom 20. Juni 2003 über die verdeckte Ermittlung (AS 2004 1409) genügten; es stellte mithin darauf ab, dass die durch die Testkäufe gewonnenen Erkenntnisse zur Strafverfolgung verwendet wurden.[34]Urteil des Bundesgerichts 6B_334/2011 vom 10. Januar 2012 E. 4.2. Zur Begründung führte es aus, es gelte zu vermeiden, dass die – im Verhältnis zu den verwaltungs(prozess)rechtlichen Vorschriften strengeren – strafprozessualen Vorgaben nicht umgangen werden dürften.

Die Befürchtung, strafprozessrechtliche Vorgaben könnten durch weitgehende Beweiserhebungen in verwaltungsrechtlichen Verfahren unterlaufen werden, erscheint im Grundsatz berechtigt. Der Gefahr einer missbräuchlichen Instrumentalisierung von – verglichen mit dem Strafprozessrecht – grosszügigeren verwaltungs(prozess)rechtlichen Beweiserhebungsregeln ist durch eine strikte Handhabung des Gebots der Verdachtssteuerung Rechnung zu tragen. Die Schwelle für die Annahme eines Tatverdachts (auch retrospektiv, im Rahmen eines Strafprozesses bei der Prüfung der Verwertbarkeit von Beweismitteln) ist niedrig anzusetzen und Beweismittel, die – trotz Vorliegens eines Tatverdachts – gestützt auf kantonales Verwaltungsprozessrecht erhoben worden sind, sollten als widerrechtlich qualifiziert werden. Präventiv-polizeilich zulässig gewonnene Beweismittel jedoch nur dann als verwertbar zu erklären, wenn sie zusätzlich den Vorgaben der StPO genügen,[35]In diese Richtung Karnusian, 354; Wohlers, 62. würde die Strafverfolgung über Gebühr erschweren, ohne dass dafür ein erkennbares Schutzbedürfnis oder ein anderer sachlicher Grund bestünde;[36]Ähnlich Zimmerlin, 273 f. zudem müssten die Verwaltungsbehörden bei ihrer – auf die Verwirklichung öffentlicher Interessen ausgerichteten – Tätigkeit immer mögliche strafprozessuale Implikationen ihres Vorgehens mitbedenken, was sachfremd erscheint.

In Fällen, welche die strafrechtliche Sanktionierung von Geschwindigkeitsüberschreitungen zum Gegenstand hatten, stellte das Bundesgericht denn auch zutreffend allein darauf ab, dass im kantonalen Recht eine hinreichende gesetzliche Grundlage für die massgebliche Radarkontrolle bestand. Dabei erwog es, dass die Kontrolle des Strassenverkehrs in der Konsequenz zwar immer auch der Ermittlung fehlbarer Fahrzeuglenker und der Sicherstellung von Beweisen im Hinblick auf ein späteres Strafverfahren diene; dies lasse sich jedoch nicht vermeiden und ändere nichts daran, dass dies nicht den primären Zweck, sondern lediglich eine Begleiterscheinung von primär präventiv ausgerichteten Verkehrskontrollen darstelle.[37]Vgl. Urteil des Bundesgerichts 6B_1143/2015 vom 6. Juni 2016 E. 1.3.1. Mit derselben Begründung ist auch die Rechtmässigkeit von Alkoholtestkäufen bzw. die Verwertbarkeit der daraus gewonnenen Erkenntnisse im Strafverfahren in erster Linie danach zu beurteilen, ob die Vorgaben des anwendbaren kantonalen Verfahrensrechts eingehalten sind.

c) Anforderungen an die Rechtmässigkeit präventiv-polizeilich gewonnener Beweismittel aus Sicht des Strafprozessrechts

Für die strafprozessuale Verwertbarkeit präventiv-polizeilich gewonnener Beweismittel ist nach dem oben Ausgeführten grundsätzlich vorausgesetzt, dass die betreffenden Beweismittel für sich genommen rechtmässig erhoben wurden. Die geforderte Rechtmässigkeit ist eine doppelte. Einerseits muss das kantonale Polizeirecht die Erhebung des Beweises erlauben (Rechtmässigkeit in der Rechtsanwendung), anderseits muss die herangezogene polizeirechtliche Bestimmung für sich genommen rechtmässig – d.h. insbesondere mit der bundesstaatlichen Zuständigkeitsordnung und dem Legalitätsprinzip – vereinbar sein (Rechtmässigkeit des angewendeten Rechtssatzes). Letzteres ist von den Strafbehörden (und insbesondere den Strafgerichten) – auf hinreichende Rüge hin[38]Zu den diesbezüglich gesteigerten Rügeanforderungen im bundesgerichtlichen Verfahren BGer 6B_1143/2015 E. 1.6.2. – im Rahmen einer inzidenten Normenkontrolle zu prüfen.[39]Vgl. BGE 146 I 11 für einen Fall, in dem das Bundesgericht das Bestehen einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage für den in Frage stehenden (schweren) Eingriff in die Privatsphäre (Art. 13 … Continue reading

Bei Prüfung der Frage, ob präventiv-polizeilich gewonnene Beweismittel rechtmässig erlangt worden sind, ist überdies im Auge zu behalten, ob sich das polizeiliche Handeln in der betreffenden Situation überhaupt auf das kantonale Polizeirecht abstützen konnte; dies ist nicht der Fall, wenn bereits ein Tatverdacht bestand (Art. 1 Abs. 1 und Art. 15 Abs. 1 StPO). Entsteht im Rahmen präventiv-polizeilicher Tätigkeit ein Tatverdacht, ist ab diesem Zeitpunkt die StPO anwendbar (vgl. Ziff. II.1.). Stützt die Polizei ihre weiteren Ermittlungen trotzdem auf (weniger restriktives) kantonales Polizeirecht, führt dies zur Rechtswidrigkeit der dadurch erlangen Beweismittel, und zwar entgegen anderweitiger Andeutungen (auch) des Bundesgerichts[40]BGer 6B_1143/2015 E. 1.7.5. unabhängig davon, ob eine Umgehungsabsicht besteht.[41]Scheinbar anderer Meinung Bürge, 82, der eine „missbräuchliche Umgehung“ der Anwendung der StPO verlangt. Präventiv-polizeiliche Aktivität auf falscher Rechtsgrundlage erweist sich nämlich in mehrfacher Hinsicht als rechtsstaatlich unzulässig: Erstens unterläuft sie die Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Kantonen (siehe Ziff. II.1.); zweitens umgeht sie das strafprozessuale Gebot der Verdachtssteuerung (siehe Ziff. II.2.) und läuft damit – drittens – Gefahr, die Vorschriften der StPO sowie die Verteidigungsrechte der Betroffenen auszuhebeln (siehe Ziff. II.3.b).

Da in der Praxis der Entstehungszeitpunkt eines Anfangsverdachts oftmals schwer zu bestimmen ist, empfiehlt sich für den kantonalen Polizeigesetzgeber, die Standards für die präventiv-polizeilichen Massnahmen nicht tiefer anzusetzen, als es die StPO für den Bereich kriminalpolizeilicher Massnahmen tut.[42]Zur Konvergenz von StPO und Polizeirecht siehe auch Ziff. III.3.a) hiernach. Dies kann etwa dadurch bewerkstelligt werden, dass für die Voraussetzungen polizeirechtlicher Massnahmen im kantonalen Polizeigesetz (dynamisch) auf die StPO verwiesen wird, die dann als subsidiäres kantonales Recht anwendbar ist.[43]BGE 140 I 353 E. 8.2. Die vom Bundesgericht – im Lichte der engen praktischen Bezüge von präventiv- und repressiv-polizeilicher Tätigkeit – als wünschbar[44]BGE 140 I 353 E. 5.5.3. bezeichnete enge Abstimmung von kantonalem Polizeirecht und StPO ist hierdurch am besten gewährleistet. Weiter werden damit allfällige Anreize zur Umgehung strafprozessualer Vorschriften durch Rückgriff auf kantonales Polizeirecht vermieden. Eine solche Herangehensweise rechtfertigt sich schliesslich auch deshalb, weil ein polizeiliches Vorgehen jedenfalls kaum grundrechtsintensiver ausgestaltet werden darf als das strafprozessuale Instrumentarium zur Klärung eines konkreten Tatverdachts.

d) Verwertbarkeit von durch die Polizei erhobenen Beweismitteln ohne Rechtsgrundlagen?

Was sind die Konsequenzen, wenn ein Beweismittel nicht dem dargelegten „Rechtmässigkeits-Doppelstandard“ entspricht? In einem anschliessenden Strafverfahren stellen sich Verwertungsprobleme.

Nach Art. 141 Abs. 2 StPO dürfen Beweise, die in strafbarer Weise oder unter Verletzung von Gültigkeitsvorschriften erhoben wurden, nicht verwertet werden, es sei denn, ihre Verwertung sei zur Aufklärung schwerer Strafteten unerlässlich. Demgegenüber sind Beweise, die (bloss) in Verletzung von Ordnungsvorschriften erhoben wurden, nach Art. 141 Abs. 3 StPO verwertbar. Die Rechtsprechung des Bundesgerichts unterstellt ohne Rechtsgrundlage erhobene Beweise in der Regel Art. 141 Abs. 2 StPO.[45]So in den sog. Dash-Cam-Fällen: BGE 146 IV 226 E. 3, präzisierend BGE 147 IV 16 E. 5. Mit Blick auf die Bedeutung des Legalitätsprinzips im Polizeirecht (siehe Ziff. III) muss diese Qualifikation auch für rechtswidrige Beweismittel aus präventiv-polizeilicher Tätigkeit gelten.[46]Ähnlich BSK StPO-Gless, Art. 141 Rz. 84, wonach unzulässige Beweissammlungen konsequent zu sanktionieren seien.

Die nach Art. 141 Abs. 2 StPO grundsätzliche Unverwertbarkeit von Beweismitteln erstreckt sich nach Lehre und Praxis auch auf Folgebeweise, die ohne den Erstbeweis nicht hätten erhoben werden können.[47]BGE 147 IV 16 E. 7.3; BGE 138 IV 169 E. 3.1; Urteil des Bundesgerichts 6B_654/2019 vom 12. März 2020, E. 3.2.3; BSK StPO-Gless, Art. 141 Rz. 92 f.; Poulikakos, 149 ff. Diese Fernwirkung hat in einem Strafverfahren, in dem der Anfangsverdacht ausschliesslich durch präventiv-polizeiliche Aktivitäten generiert wurde, einen juristischen Dominoeffekt zur Folge: Sämtliche auf dem rechtswidrigen Beweis basierenden Folgebeweise leiden an der gleichen Unverwertbarkeit wie der Erstbeweis.[48]Vgl. aus der kantonalen Praxis: Rechenschaftsbericht des Obergerichts Thurgau (RBOG) 2022 Nr. 41, passim.

Die potenziell weitreichenden Konsequenzen dieser an die amerikanische „fruit of the poisonous tree“-Doctrine[49]Dazu Gless, 13 f. angelehnte Betrachtungsweise schwächt die Praxis massgeblich ab. Einerseits gesteht sie der Staatsanwaltschaft zu, die Erlangbarkeit eines Folgebeweises innerhalb eines hypothetischen Verlaufs des Ermittlungsverfahrens darzutun.[50]BGE 138 IV 169 E. 3.3.3; vgl. neben dem bereits zitierten BGer 6B_654/2019 E. 3.2.3 die Urteile des Bundesgerichts 6B_75/2019 vom 15. März 2019, E. 1.4.4; 6B_640/2012 vom 10. Mai 2013 E. 2.1. Andererseits legt die Praxis den in Art. 141 Abs. 2 StPO explizit erwähnten Vorbehalt („zur Aufklärung schwerer Straftaten“) tendenziell weit aus. Das ermöglicht den Gerichten, im Rahmen einer Abwägung ein an sich rechtswidrig erlangtes Beweismittel gleichsam zu legalisieren. Eine schwere Straftat liegt nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung losgelöst von der abstrakten Strafandrohung im Gesetz vor, wenn die konkret zu beurteilende Tat eine gewisse Schwere aufweist. Kriterien dafür sind das geschützte Rechtsgut, das Ausmass der Gefährdung beziehungsweise der Verletzung, die Vorgehensweise, die kriminelle Energie und das Tatmotiv.[51]BGE 147 IV 9 E. 1.4.2; BGE 147 IV 16 E. 7.2

Der Nachweis eines hypothetischen Ermittlungsverlaufs dürfte für die Staatsanwaltschaft bei einem auf präventiv-polizeilich gewonnenen Erkenntnissen aufbauenden Strafverfahren schwierig zu führen sein. Die hypothetische Erlangbarkeit eines Folgebeweises muss nach der Rechtsprechung mit grosser Wahrscheinlichkeit erstellt sein; die bloss theoretische Möglichkeit, den Beweis rechtmässig zu erlangen, genügt nicht.[52]BGE 138 IV 169 E. 3.3.3; vgl. neben dem bereits zitierten BGer 6B_654/2019 E. 3.2.3 die Urteile des Bundesgerichts 6B_75/2019 vom 15. März 2019, E. 1.4.4; 6B_640/2012 vom 10. Mai 2013 E. 2.1. Ein solcher Ermittlungsverlauf lässt sich nur erfolgreich nachweisen, wenn die Strafverfolgungsbehörden über verschiedene Anknüpfungspunkte für einen Anfangsverdacht verfügen.[53]Vgl. z.B. Urteil des Bundesgerichts 6B_75/2019 vom 15. März 2019, E. 1.4.4. Wurde dieser ausschliesslich durch rechtswidrige Erkenntnisse der Polizei generiert, dürften alternative Anknüpfungspunkte fehlen. Ein hypothetischer Ermittlungsverlauf ist diesfalls schwer vorstellbar.[54]Soweit die bundesgerichtliche Rechtsprechung auch ein unverwertbares Beweismittel als „Spurensatz“ für weitere Ermittlungstätigkeiten oder zur Begründung eines Anfangsverdachts zulässt (so … Continue reading

Das Abwägungsmodell von Art. 141 Abs. 2 StPO ist im Vergleich zur Rechtsprechung zu den Folgebeweisen flexibler und lässt sich ohne weiteres auf rechtswidrige Beweise aus präventiv-polizeilicher Tätigkeit anwenden. Aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden ist diese Flexibilität zu begrüssen. Sie entkräftet jedoch die Steuerungs- und Disziplinierungsfunktionen von Beweiserhebungsregeln.[55]Kritisch BSK StPO-Gless, Art. 141 Rz. 74: „Die Anwendung von Art. 141 Abs. 2 in der Rechtsprechung erscheint oft einzelfallorientiert, und man kann sich des Eindrucks nicht verwehren, dass … Continue reading Im Bereich des präventiv-polizeilichen Handelns kommt hinzu, dass rechtswidrige Beweismittel immer auch in Verletzung der bundesstaatlichen Kompetenzordnung entstanden (vgl. Ziff. II.3.c). Diese bundesstaatliche Komponente wird in der Rechtsprechung zu Art. 141 Abs. 2 StPO zu wenig beachtet. Im Rahmen der Interessenabwägung sollte ein strengerer Massstab Anwendung finden, wenn ein Beweismittel auch in Verletzung der Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Kantonen zustande kam.

4. Implikationen für die polizeirechtliche Gesetzgebungspraxis

Die bundesstaatliche Zuständigkeitsordnung ist für den kantonalen Gesetzgeber zunächst einmal ganz unmittelbar insofern von Bedeutung, als er Gefahr läuft, dass Bestimmungen, die in den Zuständigkeitsbereich des Bundesgesetzgebers eingreifen, vom Bundesgericht wegen Verletzung von Art. 49 Abs. 1 BV aufgehoben werden. In diesem Zusammenhang hatte das Bundesgericht in einem jüngst ergangenen Entscheid[56]Vgl. BGer 1C_269/2021. die Frage zu klären, ob § 51a Abs. 2 PolG/ZH, der die polizeiliche Informationstätigkeit zum Gegenstand hat (und vorschreibt, dass grundsätzlich die Staatsangehörigkeit der Täterinnen und Täter, Tatverdächtigen und Opfer bekanntzugeben sei), in den von der StPO abschliessend geregelten Bereich eingreift. Es bedurfte vonseiten des Bundesgerichts einiger interpretatorischer Kunstgriffe, um den Bedeutungsgehalt der Bestimmung trotz der Bezugnahme auf Täter und Opfer – Begriffe also, die einen Tatverdacht inhärent voraussetzen – auf das bundesstaatlich Erlaubte (nämlich die Informationstätigkeit der Polizei über ihre Aufgabenerfüllung im Bereich der Gefahrenabwehr sowie der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie die Aufklärung der Bevölkerung im Rahmen von Präventionskampagnen allgemein über Gefahren oder über aktuelle Deliktsformen) zurückzustutzen.[57]BGer 1C_269/2021 E. 3.2.4, wonach die Begriffe „Täterinnen und Täter, Tatverdächtige […] und Opfer“ in einem übertragenen, untechnischen Sinn auszulegen seien im Sinne von „in einen … Continue reading

Die in dem Entscheid vorzufindende Erwägung des Bundesgerichts, dass der kantonale Gesetzgeber bei Erlass der Bestimmung zu wenig zwischen polizeilicher Tätigkeit innerhalb und ausserhalb eines Strafverfahrens unterschieden habe und die Bestimmung von § 51a Abs. 2 PolG/ZH (deshalb) über einen wesentlich eingeschränkteren Anwendungsbereich verfüge als vom kantonalen Gesetzgeber wohl beabsichtigt, lässt sich auf weitere Fälle übertragen. So wurde im Mai 2023 im Thurgauer Grossen Rat (in zweiter Lesung) der Erlass einer Bestimmung diskutiert, die es der Kantonspolizei erlaubt hätte, „zur Gefahrenabwehr und zur Erkennung von Vergehen und Verbrechen […] elektronische Geräte vor Ort in Anwesenheit der betroffenen Personen“ einzusehen.[58]Vgl. Botschaft des Regierungsrats des Kantons Thurgau vom 5. Juli 2022 zur Änderung des Polizeigesetzes, abrufbar unter … Continue reading In der ersten Lesung war zur Rechtfertigung der Bestimmung der Fall erwähnt worden, dass ein Schulkind auf einem Ausflug „austreten muss und dabei von einem Passanten fotografiert wird“. Dass in einem solchen Fall ohne Weiteres ein strafbarer Anfangsverdacht vorliegt, der zur (ausschliesslichen) Anwendbarkeit der StPO führt, blieb ausser Acht. Dies ist insofern von Belang, als sich die (vorweggenommene, abstrakte) Verhältnismässigkeitsprüfung (Art. 5 Abs. 2 BV, Art. 36 Abs. 3 BV) einer Bestimmung durch den kantonalen Gesetzgeber im Rahmen des Gesetzgebungsverfahren an der voraussichtlichen Anwendung der Bestimmung in der Praxis ausrichten muss,[59]Vgl. statt vieler BGE 146 I 62 E. 4. Danach ist bei der Prüfung, ob eine kantonale Norm mit übergeordnetem Recht konform ist, im Einzelnen auf die Tragweite des Grundrechtseingriffs, die … Continue reading im Thurgauer Fall also hätte geprüft werden müssen, inwiefern präventiv-polizeilich (d.h. ohne konkreten Tatverdacht) Konstellationen denkbar sind, in denen sich die Durchsuchung elektronischer Geräte als verhältnismässig erweisen könnte. Legt der kantonale Gesetzgeber seinem Vorhaben – aufgrund eines Irrtums über den durch die bundesstaatliche Zuständigkeitsordnung abgesteckten Anwendungsbereich der kantonalen Norm – unzutreffende Annahmen über die Anwendungskonstellationen zugrunde, führt dies zwangsläufig dazu, dass Eignung, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit des mit der Normanwendung verbundenen Grundrechtseingriffs unter falschen Prämissen beurteilt werden. Die Gefahr einer späteren Aufhebung der Norm (in einem Verfahren abstrakter Normenkontrolle) oder ihrer fehlenden praktischen Anwendbarkeit (aufgrund inzidenter Normenkontrolle) ist diesfalls hoch.

Weitreichende Folgen können sich aus einer diesbezüglichen Fehleinschätzung namentlich dann ergeben, wenn eine mit übergeordnetem Recht unvereinbare Norm nicht abstrakt angefochten wird und sie deshalb in Vollzug tritt. Stellt sich in einem späteren konkreten Anwendungsfall die Rechtswidrigkeit der Norm heraus, kann dies namentlich die fehlende Verwertbarkeit von Beweismitteln in einem Strafprozess zur Folge haben (vgl. Ziff. II.3.d). Durch sorgfältige Gesetzgebung – etwa in dem Sinne, dass der kantonale Polizeigesetzgeber die Standards für die präventiv-polizeilichen Massnahmen nicht tiefer ansetzt als es die StPO für den Bereich kriminalpolizeilicher Massnahmen tut[60]Vgl. Ziff. II.3.c). – können solche „Unfälle“, für die aus Sicht der interessierten Öffentlichkeit wenig Verständnis aufgebracht werden dürfte, vermieden werden.

III. Legalitätsprinzip und polizeiliche Generalklausel

1. Grundlagen

Das Legalitätsprinzip gilt uneingeschränkt auch im Polizeirecht.[61]Schweizer/Müller, 382; BGE 140 I 353 E. 5.2; siehe auch BGE 147 I 103 E. 16; BGE 136 I 87 E. 3.1. Es leitet und begrenzt das polizeiliche Handeln in doppelter Hinsicht. Zum einen darf sich die Polizeiaktivität nach Art. 5 Abs. 1 BV nur „auf Antrieb des Gesetzes und innerhalb dessen Schranken“[62]Fleiner, 131 entfalten. Zum anderen verlangt Art. 36 Abs. 1 BV eine rechtliche Grundlage für Grundrechtseingriffe. Da die präventiv-polizeiliche Tätigkeit sehr oft in grundrechtliche Schutzbereiche vordringt, z.B. in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung,[63]Mohler, 104 ff.; aus der Praxis BGE 140 I 353 E. 8.5; zur polizeilichen Datenbearbeitung, die nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts per se einen Eingriff in die informationelle … Continue reading ist eine rechtliche Grundlage auch insoweit unabdingbar.[64]Ausführlich von Hahn, 94 ff. in Verbindung mit 109 f.

Das Legalitätsprinzip erfüllt sowohl rechtsstaatliche als auch demokratische Funktionen. Im Polizeirecht stehen zwei seiner Teilgehalte im Vordergrund: Das Bestimmtheitsgebot und das Erfordernis der Gesetzesform. Letzteres stellt sicher, dass wichtige Entscheide in die Erlassform des Gesetzes gekleidet werden und so im Zuständigkeitsbereich des Parlaments bleiben.[65]SGK BV-Schindler, Art. 5 Rz. 41; Dubey, Rz. 565 f.; grundlegend zum Zusammenhang von Normstufe und Norminhalt G. Müller, 107 ff. Mit anderen Worten schützt es die staatsrechtliche Zuständigkeitsordnung.[66]BGE 130 I 1 E. 3.1. Als Bestimmtheitsgebot gewährleistet das Legalitätsprinzip darüber hinaus die Berechenbarkeit und Voraussehbarkeit der Rechtsordnung.[67]BGE 145 I 52 E. 65; BGE 130 I 1 E. 3.1. Rechtssätze müssen „so präzise formuliert sein, dass der Bürger sein Verhalten danach einrichten und die Folgen eines bestimmten Verhaltens mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Gewissheit erkennen kann“[68]BGE 109 Ia 273 E. 4d; so auch BGE 141 I 201 E. 4.6; BGE 125 I 361 E. 4.. Durch inhaltlich bestimmte, generell-abstrakte Regeln wird das Interesse an der Vorhersehbarkeit der von einer staatlichen Regelung Betroffenen gewahrt.[69]Grundlegend: Noll, 193 („Prävisionsinteresse“); vgl. auch Müller/Uhlmann, Rz. 19 f. Als Bestimmtheitsgebot wirkt sich das Legalitätsprinzip zudem auf die Verteilung der Regelungslast zwischen Rechtsetzung und Rechtsanwendung aus: Je bestimmter ein Rechtssatz formuliert ist, desto kleiner fällt der Entscheidungs- und Handlungsspielraum der rechtsanwendenden Behörden aus.[70]Müller/Uhlmann, Rz. 250–255. Deshalb steht die Bestimmtheit einer Vorschrift auch in einem Wechselverhältnis zur Rechtsgleichheit. Die inhaltlich bestimmte Rechtsnorm lässt in ihrem Anwendungsbereich keinen oder wenig Spielraum für unterschiedliche Behandlungen und gewährleistet dadurch die Rechtsgleichheit in der Rechtsanwendung.[71]Uhlmann, Rz. 12.

2. Zielkonflikte im Polizeirecht

Das Legalitätsprinzip ist ein „principe de géometrie variable“[72]Morand, 1.; seine Tragweite wird durch die jeweilige Regelungsmaterie beeinflusst. Im Polizeirecht steht insbesondere das Bestimmtheitsgebot in einem Spannungsverhältnis zu den dynamischen und inhaltlich weit gefassten Aufgaben der Polizei. Die Gefahrenabwehr wie auch der Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit lassen sich nur schwer generell-abstrakt umschreiben.[73]BGE 140 I 381 E. 4.4. Die Polizeitätigkeit richtet sich „oft gegen nicht im Einzelnen bestimmbare Gefährdungsarten und Gefährdungsformen in vielgestaltigen und wandelbaren Verhältnissen“[74]BGE 136 I 87 E. 3.1.. Um situativ auf eine Gefährdungslage oder auf neue technologische sowie soziale Entwicklungen reagieren zu können, muss die Polizeigesetzgebung daher teils mit offenen Rechtsnormen arbeiten. Nur so lassen sich Reaktions- und Handlungsfähigkeit kurz- und mittelfristig gewährleisten.[75]Tiefenthal, Kantonales Polizeirecht, 153.

Diesem Flexibilisierungsbedürfnis steht ein durch drei Faktoren verstärktes Prävisionsinteresse (siehe Ziff. III.1.) der Normadressaten gegenüber. Erstens statuiert das Polizeirecht vielfach belastende Rechtsnormen in grundrechtssensiblen Bereichen. Das Prävisionsinteresse ist besonders intensiv, wenn der fragliche Rechtssatz weitreichende Konsequenzen für die Privatpersonen haben kann.[76]Noll, 193 f.; so auch Schweizer/Müller, 387 f. Zweitens sind offene Normierungen missbrauchsanfällig. Das Bundesgericht ortet im Bereich des präventiven Polizeihandelns zu Recht Gefahren für die freiheitlich-demokratische Ordnung und fordert wirksame Garantien gegen Missbräuche, vor allem im Zusammenhang mit neuen Technologien.[77]BGer 1C_39/2021 E. 4.3.3; BGE 147 I 103 E. 17.5.1; BGE 109 Ia 273 E. 9c. Drittens birgt eine schwache generell-abstrakte Determinierung die Gefahr einer rechtsungleichen Praxis, sei es innerhalb ein- und derselben Behörde oder innerhalb einer Behördenorganisation.[78]Zum Zusammenhang von generell-abstrakter Regelung und Rechtsgleichheit siehe Ziff. III.1. Zum Interesse an der Vorhersehbarkeit der Rechtsordnung tritt deshalb auch ein Gleichbehandlungsinteresse der Normadressaten hinzu.[79]Vgl. Noll, 192.

Im skizzierten Spannungsfeld aus Flexibilisierung‑, Prävisions- und Gleichbehandlungsinteresse zeichnet sich in der jüngeren höchstrichterlichen Rechtsprechung eine tendenziell striktere Handhabung des Legalitätsprinzips ab. In Anlehnung an und beeinflusst durch die Rechtsprechung des EGMR[80]Betreffend geheime Überwachungen („surveillance secrète“) EGMR (Grosse Kammer), Roman Zahkarov c. Russie, Urteil vom 4. Dezember 2015, 47143/06 § 227 ff.; betreffend Systeme der … Continue reading entwickelte das Bundesgericht eine Reihe von Beurteilungsparametern für die Normdichte (siehe Ziff. III.3. hiernach) und eine Kasuistik für die Normstufe (vgl. Ziff. III.4.).

3. Anforderungen an die Normdichte (Bestimmtheitsgebot)

a) Normbezogene und sachbezogene Topoi zur Konkretisierung des Bestimmtheitsgebots

Das Bestimmtheitsgebot leidet paradoxerweise an einer hohen Unbestimmtheit. Lehre und Rechtsprechung haben deshalb eine Reihe von Topoi herausgearbeitet, um es im Polizeirecht zu konkretisieren.[81]Näher zur topischen Konkretisierung des Legalitätsprinzips Seaders, 144 f. (zusammenfassend); Cottier, 135 ff.; Borer, 289. Diese Topoi lassen sich grob unterteilen in normbezogene und sachbezogene. Normbezogene Topoi betreffen den Detaillierungsgrad einer Bestimmung oder eines Rechtssatzes. Sachbezogene Topoi nehmen den weiteren normativen Kontext in den Fokus, etwa den Rechtsschutz oder die Missbrauchsgefahr einer Regelung. Einige sachbezogene Topoi bezeichnet die Lehre auch als Bestimmtheitssurrogate, weil sie sozusagen als normexterne Faktoren eine tiefe Normdichte kompensieren können.[82]Schweizer/Müller, 382, mit Verweis auf Werner Ritter, Das Erfordernis der genügenden Bestimmtheit – dargestellt am Beispiel des Polizeirechts, Diss. Zürich, Chur 1994, 186 f. Die verschiedenen Topoi werden in der bundesgerichtlichen Praxis wertend und wägend einander gegenübergestellt. Die Folgerung, eine bestimmte Vorschrift verstosse gegen das Bestimmtheitsgebot, wird auf diese Weise als Ergebnis eines Argumentationsprozesses ausgewiesen.[83]Weiterführend zur Methodik spezifisch im Polizeirecht Seaders, 178 ff.

Zu den normbezogenen Topoi zählen zunächst die Voraussetzungen der präventiv-polizeilichen Aktivität. Aus der fraglichen Bestimmung muss hervorgehen, dass und weshalb die Polizei ermächtigt ist, eine Massnahme zu ergreifen.[84]Vgl. BGE 140 I 381 E. 4.4.1 f.; BGE 140 I 353 E. 8.4.1. Erforderlich ist mit anderen Worten eine Ermächtigungsnorm; eine Zweck- oder eine Aufgabennorm genügt dem Bestimmtheitsgebot nicht.[85]von Hahn, 114. Bei den Voraussetzungen der polizeilichen Tätigkeit ist ein eigentlicher Anlass- oder Deliktskatalog verzichtbar. Nach bundesgerichtlicher Praxis reicht es aus, wenn ein Kanton eine Massnahme vorsieht, um „Verbrechen und Vergehen“ zu verhindern.[86]BGE 140 I 381 E. 6.1. Dementsprechend hielt die Regelung im Polizeigesetz des Kantons Solothurn über die verdeckte Fahndung vor dem Bestimmtheitsgebot stand, obschon sie weder mit einem Straftatenkatalog verbunden noch auf besonders schwere Delikte beschränkt war.[87]BGer 1C_39/2021 E. 4.3.3. Übertretungen dürfen aus Verhältnismässigkeitsgründen nicht Anlass der präventiv-polizeilichen Tätigkeit sein. Werden im Rahmen der polizeilichen Tätigkeit auch Daten erhoben, hat das Gesetz neben dem Verwendungszweck[88]BGE 136 I 87 E. 8.3; vgl. auch BGE 140 I 381 E. 4.4.1. auch die Aufbewahrung und Vernichtung generell-abstrakt zu umschreiben.[89]BGE 146 I 11 E. 3.3.2. Zudem ist die Dauer der Überwachung in einem Rechtssatz festzuhalten.[90]BGer 1C_39/2021 E. 8.3.2; BGE 146 I 11 E. 3.3.1 m.w.H. Der Verwendungszweck soll die Datenbearbeitung durch die Kantonspolizei kanalisieren und begrenzen.[91]Zum Grundsatz der Zweckbindung der Datenbearbeitung BGE 147 II 227 E. 6.4.2. In einem jüngeren Entscheid qualifizierte das Bundesgericht eine Bestimmung des Polizeigesetzes Solothurn als zu unbestimmt, weil sie den uneingeschränkten Abgleich von im Rahmen einer automatischen Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung erhobenen Kennzeichen mit anderen Personen- und Sachregistern ermöglichte.[92]BGer 1C_39/2021 E. 8.5.1 Höchstrichterlich noch nicht entschieden ist, ob die Weitergabe von präventiv-polizeilich gewonnen Erkenntnissen an die Strafverfolgungsbehörden eine Änderung der Zweckbestimmung dieser Daten bewirkt (siehe lit. b nachfolgend).[93]Offengelassen in BGer 6B_1061/2020 E. 1.5.5. Geht es um den konkreten Detaillierungsgrad der Eingriffsvoraussetzungen, rekurriert das Bundesgericht auf die Strafprozessordnung. Die dortige Regelung kann als eine Art „Gold-Standard“ des Bestimmtheitsgebots betrachtet werden; insoweit kann teilweise von einem „gemeineidgenössischen kantonalen Polizeirecht“ gesprochen werden. Je näher sich eine kantonalrechtliche Rechtsnorm an das Bundesrecht anlehnt, desto eher dürfte sie dem Bestimmtheitsgebot genügen.[94]Vgl. BGer 1C_39/2021 E. 6.1; BGE 147 I 103 E. 17.5.2 f.; BGE 140 I 353 E. 8.8; BGE 140 I 381 E. 4.4.1–E. 4.4.3; vor Inkrafttreten der StPO zog das Bundesgericht überdies die Rechtslage in … Continue reading So überprüfte das Bundesgericht die Anordnungsvoraussetzungen der GPS-Überwachung nach dem Berner Polizeigesetz anhand strafprozessualer Kriterien.[95]BGE 147 I 103 E. 17.5.2. Eine Bestimmung des Polizeigesetzes Zürich über die „Informationsbeschaffung im Internet“ hob das Bundesgericht auf, weil sie als eigentliche Blankettnorm die zulässigen technischen Mittel nicht einschränkte. Verglichen mit der Strafprozessordnung, die z.B. die Nutzung besonderer Informatikprogramme zwecks Überwachung regelt (Art. 269ter StPO), erweist sich die strittige Zürcher Bestimmung in der Tat als höchst unbestimmt. Diese über das Bestimmtheitsgebot einsetzende Konvergenz zwischen Strafprozessordnung und Polizeirecht ist zu begrüssen. Weil die Grenzen zwischen präventiver und repressiver Polizeiarbeit fliessend sind, sollte bereits bei der Umschreibung der polizeilichen Handlungsoptionen ein ähnlicher Standard gelten wie im Strafprozessrecht.[96]Das Bundesgericht spricht in diesem Sinn von einer „Harmonisierung“ von Polizeirecht und Strafprozessordnung, so etwa BGer 1C_39/2021 E. 6.3.2 (zur Publikation vorgesehen). Vgl. hierzu auch … Continue reading

Als sachbezogene Topoi zur Konkretisierung des Bestimmtheitsgebots sind insbesondere die Wirksamkeit des Rechtsschutzes, die Begrenzungswirkungen von Verfassungsrundsätzen und die Missbrauchsgefahr einer bestimmten Handlungsoption zu betrachten. Die Rechtsweggarantie (Art. 29a BV) verlangt, dass die polizeiliche Tätigkeit dem nachträglichen Rechtsschutz zugänglich ist.[97]Schindler, 218 f.; ausführlich OK BV-Kradolfer, Art. 29a Rz. 28 f. Das Bundesgericht spricht von einem mit der StPO „harmonisierten“ Rechtsschutz (BGE 136 I 87 E. 3.4). Bei geheimen Ermittlungs- und Überwachungsmassnahmen müssen die Betroffenen daher zumindest nachträglich, nach Wegfall des öffentlichen Geheimhaltungsinteresses, über die Massnahme unterrichtet werden, und ihnen ist eine Beschwerdemöglichkeit zu eröffnen. Kantonale Bestimmungen, die keinen solchen Rechtsschutz vorsehen, widersprechen Bundesrecht.[98]BGer 1C_39/2021 E. 4.3.3 (am Ende) und E. 6.3.2. Unter den Verfassungsgrundsätzen mit Begrenzungswirkungen ragt das Verhältnismässigkeitsprinzip hervor.[99]Vgl. SGK BV-Schindler, Art. 5 Rz. 55. Die Unbestimmtheit einer Vorschrift kann bis zu einem gewissen Grad durch dieses kompensiert werden.[100]BGE 147 I 103 E. 16. Allerdings entfaltet der Verhältnismässigkeitsgrundsatz nur beschränkte Schutzwirkung und vermag die Unbestimmtheit einer eigentlichen Blankettnorm nicht zu kompensieren.[101]BGE 140 I 353 E. 9. Sein Hauptanwendungsfeld ist dort zu sehen, wo eine Bestimmung verschiedene Handlungsoptionen umschreibt und der Polizei situativ die Wahl der im Einzelfall verhältnismässigen Variante offenlässt. Die Missbrauchsgefahr schliesslich ist namentlich bei neuen technischen Mitteln gross. Das Bundesgericht erkennt sie vor allem bei geheimen Überwachungsmassnahmen (z.B. Abhören von Telefonen, GPS-Sender). Hier ist das Bestimmtheitsgebot strikt anzuwenden.[102]BGE 147 I 103 E. 17.5.1; BGE 140 I 353 E. 8.7.2.3 f. Ebenfalls ein strenger Massstab gilt für automatisierte Abläufe, die eine unbestimmte Vielzahl von Personen betreffen,[103]BGer 1C_39/2021 E. 8.7.2. etwa die automatische Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung.[104]Vgl. BGE 146 I 11 E. 3.3.1. Für neue Technologien zur Erkennung und Verarbeitung personenbezogener Daten lässt sich daraus ableiten, dass die konkrete Massnahme (z.B. Gesichtserkennung), ihre Voraussetzungen und der Verwendungszweck, ein allfälliger Abgleich mit anderen Datenbeständen (Eingangs- und Ausgangsdaten) sowie die Dauer der Speicherung zwingend in einem Rechtssatz zu umschreiben sind.[105]Simmler/Canova, 116; aus deutscher Sicht Martini, S. 8 f.

b) Rechtssatz für Zweckänderung der Informationsbearbeitung?

Nach einem Teil der Lehre löst die strafprozessuale Weiterverwendung von Daten, die durch präventiv-polizeiliche Aktivität gewonnen wurden, einen eigenständigen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus und bedarf einer spezifischen Rechtsgrundlage.[106]Siehe hierzu Biaggini, Rz. 382 ff.; Wohlers, 62; L. Müller, 195 f.; Zimmerlin/Galella, 377 ff.; Zimmerlin, 273. Der Rechtssatzvorbehalt wird also verdoppelt: Die polizeiliche Tätigkeit und die daran anschliessende Zweckänderung der Datennutzung in einem Strafverfahren müssen hinreichend generell-abstrakt determiniert sein.

Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung fordert die Zweckbindung der Datenbearbeitung nicht vollständige Identität zwischen dem ursprünglichen und einem späteren Ziel der Datenverwendung. Ausgeschlossen ist demgemäss nur die eigentliche Zweckentfremdung.[107]BGE 147 II 227 E. 6.4.2. Diese Rechtsprechung bezieht sich jedoch nicht auf den besonders grundrechtssensiblen Schnittbereich von Polizei- und Strafprozessrecht. Hier rechtfertigt sich eine striktere Zweckbindung der staatlichen Datenbearbeitung, weshalb mit der zitierten Lehre von einer Zweckänderung auszugehen ist, wenn präventiv-polizeilich erhobene Informationen als Beweismittel in ein Strafverfahren überführt werden.

Das kantonale Datenschutzrecht ermöglicht den Behörden in der Regel durch eine allgemeine Kompetenznorm die Weitergabe von Daten an andere Behörden.[108]Z.B. § 16 Abs. 2 des Gesetzes des Kantons Zürich über die Information und den Datenschutz vom 12. Februar 2007 (IDG/ZH; LS 170.4); Art. 11 Abs. 2 des Datenschutzgesetzes des Kantons … Continue reading Solche Kompetenznormen weisen einen sehr breiten Anwendungsbereich auf und sind als gesetzliche Grundlage für eine Zweckänderung präventiv-polizeilich erhobener Daten zu unspezifisch. Im kantonalen Polizeirecht finden sich denn auch punktuell[109]Nicht alle kantonalen Gesetzgeber sind sich der Problematik bewusst. Teils scheinen sie davon auszugehen, eine Zweckänderung von präventiv-polizeilich erhobener Daten sei ohne weiteres zulässig. … Continue reading spezifischere Rechtsgrundlagen, die eine Zweckänderung legalisieren.[110]§ 32a Abs. 2 PolG/ZH: „Die weiter gehende Auswertung von Aufzeichnungen durch die Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Verbrechen und Vergehen bleibt vorbehalten.“ Dem Bestimmtheitsgebot wird nur eine solche – explizite – „Zweckumwidmungsnorm“ gerecht. Für die Normadressaten muss der neue (strafprozessuale) Verwendungskontext der präventiv-polizeilich gewonnen Informationen erkennbar sein.[111]Biaggini, Rz. 386 und Rz. 388.

Das kantonale Recht dürfte diesen Anforderungen nicht durchgehend entsprechen. Ein pragmatischerer Ansatz, der Rücksicht auf die kantonale Rechtsrealität nimmt, könnte darin bestehen, vom Gesetzgeber zumindest eine implizite Rechtsgrundlage für die Zweckänderung zu verlangen. Erforderlich wäre eine Rechtsnorm, der sich eine entsprechende Regelungsabsicht des kantonalen Gesetzgebers zuordnen lässt. Nach diesem Ansatz müsste im Rahmen der Auslegung[112]Das Bundesgericht wendet den „pragmatischen Methodenpluralismus“ auch auf das Polizeirecht an (BGer 6B_1061/2020 E. 1.4.4 und E. 1.5). Demgemäss richtet sich die Auslegung einer Rechtsnorm auf … Continue reading geklärt werden, ob eine Bestimmung im kantonalen Polizeigesetz die Zweckänderung abdeckt. Gemessen an den aus dem Legalitätsprinzip abgeleiteten Anforderungen an staatliches Handeln überzeugt dieser Ansatz jedoch nicht in jeder Hinsicht. Das Interesse an der Vorhersehbarkeit der Normadressaten bliebe unberücksichtigt. Nur eine explizite „Zweckumwidmungsnorm“ wahrt sowohl die rechtsstaatlichen als auch die demokratischen Funktionen des Legalitätsprinzips.

4. Anforderungen an die Normstufe (Erfordernis der Gesetzesform)

Das Erfordernis der Gesetzesform ist immer zu beachten, wenn ein schwerer Grundrechtseingriff vorliegt. Dieser Teilgehalt des Legalitätsprinzips hat in der höchstrichterlichen Praxis deutlichere Konturen gewonnen als das Bestimmtheitsgebot. In einer nunmehr gefestigten Kasuistik rechnet das Bundesgericht die Überwachung des Fernmeldeverkehrs[113]BGE 140 I 353 E. 8.7.2.5 und die verdeckte Vorermittlung[114]BGer 1C_39/2021 E. 7.1 zu den schweren Grundrechtseingriffen. Auch die automatische Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung fällt in diese Kategorie. Ausschlaggebend dafür ist die Weiterverwendung und Verknüpfung der gewonnenen Daten. Sie können mit zahlreichen Datenbanken abgeglichen sowie zu Bewegungs- und Persönlichkeitsprofilen verdichtet werden.[115]BGE 146 I 11 E. 3.2 Sodann ordnet das Bundesgericht die Überwachung mit einem GPS-Sender als nicht mehr leichten Eingriff ein. Dieser wiegt zwar weniger schwer als das Abhören und Aufzeichnen von nicht-öffentlichen Gesprächen. Ein GPS-Sender wird aber ohne Wissen der Betroffenen installiert. Anders als bei Randdaten der Fernmeldekommunikation muss nicht mit der Erhebung von Standortdaten gerechnet werden.[116]BGE 147 I 103 E. 15.2

Das Erfordernis der Gesetzesform ist von besonderer Bedeutung für die Regelung neuer technischer und gesellschaftlicher Entwicklungen. Der Entscheid über das „Was“, „Wie“ und „Wann“ steht dem Gesetzgeber zu. Er muss die Entwicklungen beobachten und entscheiden, welche Handlungsoptionen er der Polizei eröffnen will.[117]So mit Recht BGer 1C_39/2021 E. 8.8. Neue technische Mittel mit potenziell weitreichenden Konsequenzen, z.B. GovWare, sind deshalb zwingend in einem Gesetz zu regeln.

5. Beschränkte Tragweite der polizeilichen Generalklausel

Das Bestimmtheitsgebot und das Erfordernis der Gesetzesform können ausnahmsweise unbeachtet bleiben, wenn die polizeiliche Generalklausel (Art. 36 Abs. 1 Satz 3 BV) anwendbar ist. Sie erlaubt den Behörden einen Grundrechtseingriff ohne spezifische Rechtsgrundlage, wenn die öffentliche Ordnung oder fundamentale Rechtsgüter des Staates oder Privater gegen schwere und zeitlich unmittelbar drohende Gefahren zu schützen sind. Die behördliche Intervention muss die einzige Reaktionsmöglichkeit sein (Aspekt der Subsidiarität) und sie darf aus einer ex-ante-Optik nicht unverhältnismässig ausfallen.[118]Tschannen/Müller/Kern, Rz. 1545; Moor/Flückiger/Martenet, 668–672. Im Rahmen der Verhältnismässigkeit prüft das Bundesgericht unter anderem, ob die Art und Dringlichkeit einer Gefahr die Anrufung der polizeilichen Generalklausel ausschliessen.[119]BGE 137 II 431 E. 3.3.1; bestätigt mit BGE 147 I 161 E. 5.1. Nach einer früheren Rechtsprechungslinie (BGE 130 I 369 E. 7.3; BGE 126 I 112 E. 4b) und einem Teil der Lehre (z.B. SGK … Continue reading

Der Anwendungsbereich der polizeilichen Generalklausel ist im Bereich des präventiv-polizeilichen Handelns beschränkt. Die denkbaren Fallkonstellationen wie auch die zur Verfügung stehenden Handlungsinstrumente sind grundsätzlich plan- und vorhersehbar. Allenfalls sind sie gar Gegenstand eines vor einem Einsatz erstellten Schutzdispositivs.[120]Schweizer/Müller, 383. Anders aber BGE 130 I 369 E. 7.3; das Bundesgericht liess die polizeiliche Generalklausel für die Wegweisung eines Journalisten am WEF in Davos genügen, obschon bei einer … Continue reading Für standardisierte Abklärungen und Verrichtungen der Polizei ist deshalb ein genereller Verweis auf die polizeiliche Generalklausel abzulehnen. Ein Dispens vom Legalitätsprinzip ist allenfalls im Einzelfall denkbar, wenn die Polizei mit einer zeitlich unmittelbar drängenden neuen Bedrohungslage konfrontiert ist.[121]Ähnlich von Hahn, 128 f.; Schweizer/Müller, 383 („restriktive Anwendung“ der polizeilichen Generalklausel). In der Lehre nicht geklärt ist in diesem Zusammenhang, ob die Nutzung neuer Technologien – z.B. zum Zweck des Predictive Policing –[122]Unter dem Überbegriff Predictive Policing werden verschiedene Verfahren zur Sammlung und Analyse von Daten behandelt, die dazu dienen, die Wahrscheinlichkeit polizeirechtlich relevanter Sachverhalte … Continue reading auf die polizeiliche Generalklausel gestützt werden kann.[123]Braun Binder/Burri/Lohmann/Simmler/Thouvenin/Vokinger, Rz. 19. Soweit es um die Anwendung oder Kombination bereits bekannter Verfahren geht, bietet die polizeiliche Generalklausel aus zwei Gründen keine tragfähige Rechtsgrundlage. Erstens fehlt das Element der zeitlichen Dringlichkeit, weil dem Gesetzgeber die technischen Mittel bereits bekannt sind.[124]So die Argumentation des Amtsgerichts Trier im Urteil vom 2. März 2023 (27c OWi 8041 Js 2838/23), Rz. 80, in Bezug auf das System „MonoCam“, das zur Überwachung der Verhaltensweisen von … Continue reading Zweitens werden solche Verfahren typischerweise zu Überwachungszwecken und damit präventiv eingesetzt. Eine unmittelbar drohende Gefahr dürfte im Regelfall zu verneinen sein. Die Anwendungsvoraussetzungen der polizeilichen Generalklausel könnten hingegen erfüllt sein, wenn eine noch nicht erprobte Technik eingesetzt wird, um eine unmittelbare oder schon eingetretene Gefahr abzuwehren.[125]Als Lehrbuchbeispiel: Die mögliche Entführung eines Kindes durch eine unbekannte Täterschaft. Allerdings ist auch hier Zurückhaltung geboten. Der Entscheid über die Nutzung neuer Technologien bedarf der demokratischen Diskussion und Legitimation, die nur in einem Rechtsetzungsverfahren erzeugt werden.[126]In diesem Sinn wohl auch BGer 1C_39/2021 E. 8.8: „Der Gesetzgeber wird indessen die technische und gesellschaftliche Entwicklung im Auge behalten müssen und gegebenenfalls verpflichtet sein, … Continue reading

IV. Schluss

Gesetzgebungsvorhaben im Bereich des Polizeirechts eignen sich in besonderem Masse für öffentlichkeitswirksame politische Auseinandersetzungen. Es gilt nicht nur das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit abzuwägen,[127]Vgl. hierzu schon einleitend, Ziff. I. sondern es müssen auch Konflikte um die Nutzung des öffentlichen Raums und die Verwendung beschränkter staatlicher Mittel ausgefochten werden. Nicht selten münden solche Diskussionen in Bestimmungen, welche den Polizeikorps vorschreiben, welche Prioritäten sie im Polizeialltag setzen müssen.[128]Paradigmatisch Neue Zürcher Zeitung vom 31. Oktober 2023, Braucht Zürich mehr Polizisten? „Die Stadtpolizei jammert auf hohem Niveau“ – „Das ist doch spätpubertäres Trötzeln!“. … Continue reading

Beispielhaft kann auf jüngere Bestrebungen im Kanton Zürich verwiesen werden, mittels welcher die Polizei dazu (auch im Interesse der Abschreckung) verpflichtet werden soll, die im Zusammenhang mit (ausserordentlichen) Polizeieinsätzen angefallenen Kosten verursachergerecht zu überwälzen – ein Anliegen, dem sich in der Grundstossrichtung kantonsübergreifend[129]Vgl. auch die Bestrebungen im Kanton St. Gallen zur Schaffung einer gesetzlichen Grundlage, damit die Kosten von Polizeieinsätzen aufgrund (illegaler) Veranstaltungen im öffentlichen Raum an die … Continue reading wohl weite Teile der Bevölkerung anschliessen könnten. Die sog. „Anti-Chaoten-Initiative“ zielt auf die Schaffung von Bestimmungen ab, die der Polizei vorschreiben, dass sie die Kosten ihrer Einsätze im Zusammenhang mit illegalen Demonstrationen, Kundgebungen und anderweitigen Veranstaltungen an Veranstalter bzw. Teilnehmer überwälzen muss; eine Kostenüberwälzung soll auch dann verpflichtend sein, wenn Demonstranten bewilligte Kundgebungen oder Veranstaltungen stören; ferner sollen die Kosten für die Räumung besetzter Liegenschaften auf die Besetzerinnen und Besetzer oder beteiligten Organisationen aufgeteilt werden.[130]Antrag des Zürcher Regierungsrates vom 7. März 2023 zu einem Beschluss des Kantonsrates über die kantonale Volksinitiative zur Durchsetzung von Recht und Ordnung (Anti-Chaoten-Initiative), S. … Continue reading In der vorberatenden kantonsrätlichen Kommission fand die Initiative die Unterstützung einer knappen Mehrheit; gleichzeitig wurde ein Gegenvorschlag ausformuliert, welcher die Kernforderung nach einer zwingenden Kostenverrechnung – in Anlehnung an einen regierungsrätlichen Gegenvorschlag[131]Antrag des Zürcher Regierungsrates vom 7. März 2023 zu einem Beschluss des Kantonsrates über die kantonale Volksinitiative zur Durchsetzung von Recht und Ordnung (Anti-Chaoten-Initiative), S. … Continue reading – dahingehend erfüllt, dass eine solche bei ausserordentlichen Polizeieinsätzen und vorsätzlich handelnden Verursacherinnen und Verursachern statuiert werden soll.[132]Vgl. zusammenfassend Medienmitteilung der Kommission für Justiz und öffentliche Sicherheit des Kantonsrats Zürich vom 31. August 2023, Chaoten sollen stärker in die Pflicht genommen werden, … Continue reading Im Ratsplenum sprach sich eine Mehrheit für den Gegenvorschlag aus, während die Initiative mehrheitlich abgelehnt wurde;[133]Die kantonsrätlichen Beratungen können eingesehen werden unter <https://zh.recapp.ch/shareparl/player/entry/64fb585a781e4a1887fdd8c1> (zuletzt abgerufen am 7. Oktober 2023). die Volksabstimmung über Initiative und Gegenvorschlag steht aus.

Ob sich Initiative und Gegenvorschlag angesichts des grundrechtlich eng abgesteckten Rahmens einer zulässigen Kostenüberwälzung[134]Siehe Urteil des Bundesgerichts 1C_181/2019 vom 29. April 2020 E. 5 (nicht publ. in: BGE 147 I 103); BGE 143 I 147 E. 11; Urteil des Verwaltungsgerichts Luzern P 12 2 vom 7. Mai 2013 E. 6a/cc. in der Praxis so umsetzen lassen, wie von den Promotoren der entsprechenden Vorschläge gewünscht, ist zweifelhaft;[135]Möglicherweise wird das Verwaltungsgericht Zürich demnächst im Fall Chalberhau die Gelegenheit haben, die rechtsstaatlichen Grenzen einer Überwälzung von Polizeieinsatzkosten an die Verursacher … Continue reading Bedenken bestehen insbesondere mit Blick auf die Grundrechtskonformität[136]Durch die Kostenpflicht werden die Versammlungsfreiheit und die Meinungsäusserungsfreiheit tangiert; zu beachten sind überdies die „chilling effects“, die von einer solchen Regelung ausgehen … Continue reading (und in diesem Zusammenhang auch mit Blick auf das Legalitätsprinzip). Das Zürcher Beispiel steht stellvertretend für weitere kantonale Gesetzesvorhaben, welche in ihrer konkreten Ausgestaltung mit übergeordnetem Recht kollidieren.[137]Vgl. für ein weiteres Beispiel das oben (Ziff. II.4.) erwähnte, zwischenzeitlich (wohl) gescheiterte Ansinnen, das Thurgauer Polizeigesetz um einen Paragraphen zu ergänzen, der es der Polizei … Continue reading Aus rechtsstaatlicher Sicht ist ein solches Vorgehen nicht unproblematisch: Es ist Aufgabe der kantonalen Gesetzgeber, die Vereinbarkeit ihrer Rechtsetzungsvorhaben mit übergeordnetem Recht zu prüfen; eine nachträgliche Einwirkung durch die Gerichte – sei es im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle, sei es im Rahmen der Beurteilung konkreter Einzelfälle – sollte die Ausnahme bleiben. Sie lässt sich aber nur vermeiden, wenn die kantonalen Gesetzgeber ihrer Aufgabe tatsächlich nachkommen; sie erfüllen gegenüber der Bevölkerung eine nicht zu unterschätzende Mittlerfunktion, wenn sie in ihrer parlamentarischen Tätigkeit auf die rechtsstaatlichen Grenzen der Umsetzung verbreiteter Anliegen hinweisen.

Was den Inhalt der angesprochenen Vereinbarkeitsprüfung angeht, wurden vorliegend vorab die Implikationen diskutiert, die sich aus der bundesstaatlichen Kompetenzordnung (vgl. hierzu Ziff. II) und dem Legalitätsprinzip (vgl. Ziff. III) ergeben. Es sind dies die strukturellen Themen, welche die Gerichte in jüngerer Zeit am stärksten beschäftigt haben.

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Fussnoten

Fussnoten
1 So erfolgten beispielsweise zum St. Galler Polizeigesetz vom 10. April 1980 (PG/SG, sGS 451.1) in den letzten zehn Jahren – neben einer Änderung im Zusammenhang mit einer Anpassung des kantonalen Einführungsgesetzes zur Schweizerischen Straf- und Jugendprozessordnung (nGS 2018-028) – drei Nachträge (XI. Nachtrag [nGS 2014-016], XII. Nachtrag [nGS 2015-068], XIII. Nachtrag [nGS 2020-051]) von erheblichem Umfang. Ein XIV. Nachtrag (zum Bedrohungs- und Risikomanagement) sowie ein XV. Nachtrag (zur präventiven polizeilichen Tätigkeit) sind vom St. Galler Kantonsrat im Sommer 2023 mit diversen Ergänzungs- und Klärungsaufträgen an die Regierung zurückgewiesen worden. Mittlerweile liegen neue Gesetzesentwürfe und eine Ergänzungsbotschaft vor, wobei weitere Nachträge betreffend die automatisierte Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung sowie die Kostentragung bei Veranstaltungen ohne Vorliegen der erforderlichen Bewilligung im Raume stehen.
2 BGE 140 I 381 (Observation, verdeckte Fahndung und verdeckte Vorermittlung); BGE 124 I 85 (Verpflichtung der Polizeibeamten zum Tragen von Namensschildern); BGE 109 Ia 146 (Identitätskontrollen, Personalienfeststellung, erkennungsdienstliche Massnahmen).
3 BGE 147 I 103 (automatische Verbindung zwischen Wegweisungs- und Fernhaltungsmassnahmen mit einer Strafandrohung nach Art. 292 StGB; Wegweisungsbestimmung, die sich gegen Fahrende richtet; Überwachung durch ein an einem Fahrzeug befestigtes GPS-Gerät); BGE 140 I 353 (Chatroom-Überwachung); BGE 140 I 2 (Dauer eines Rayonverbots; Folgen der Verletzung einer Meldeauflage); BGE 136 I 87 (Anspruch auf richterliche Kontrolle eines polizeilichen Gewahrsams).
4 Unter präventiv-polizeilichem Handeln wird in diesem Beitrag die auf Gefahrenabwehr oder auf Erkennung und Verhinderung einer potenziellen Straftat ausgerichtete polizeiliche Aktivität verstanden; weiterführend zur Terminologie von Hahn, 10 ff.
5 BGE 140 I 353 E. 4.1; Urteile des Bundesgerichts 1C_269/2021 vom 13. Oktober 2022 E. 3.1.1 und 6B_1061/2020 vom 26. Oktober 2022 E. 1.4.2.
6 BGE 143 IV 27 E. 2.5.
7 Botschaft des Bundesrats vom 20. November 1996 über eine neue Bundesverfassung, BBl 1997 I 236 f.; Urteil des Bundesgerichts 1C_39/2021 vom 29. November 2022 E. 4.1 (zur Publikation vorgesehen), mit Hinweisen.
8 Urteil des Bundesgerichts 6B_372/2018 vom 7. Dezember 2018 E. 2.3.1.
9 BGE 146 I 11.
10 Vgl. hierzu auch BGer 6B_1061/2020 E. 1.5.2, wonach „Observationen vor Erlass der eidgenössischen Strafprozessordnung überwiegend nicht als strafprozessuale Massnahme verstanden“ worden seien. Richtig ist, dass Observationen sowohl strafprozessrechtlichen als auch präventiv-polizeilichen und in dem Sinne „doppelfunktionalen“ Charakter haben können.
11 Polizeigesetz des Kantons Zürich vom 23. April 2007; LS 550.1.
12 Vgl. Urteil des Bundesgerichts 6B_1261/2015 vom 28. September 2016 E. 4.
13 Dies gilt nicht nur für das Polizeirecht, sondern generell für das Verwaltungs(verfahrens)recht. Wenn das Bundesgericht für die Abgrenzung des Anwendungsbereichs von Strafprozessrecht und Verwaltungs(verfahrens)recht – in einem tierschutzrechtlichen Fall – kürzlich massgeblich darauf abgestellt hat, ob Zwangsmittel eingesetzt worden sind (vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_479/2022 vom 27. Juni 2023 E. 7.2.1 und 7.2.2), vermag dies deshalb nicht zu überzeugen. Zur Abgrenzung trägt auch die im Urteil herangezogene verwaltungsrechtliche Handlungsformenlehre nichts bei.
14 Vgl. für ein gutes Anschauungsbeispiel BGE 143 IV 27: Ein Ermittler der Kantonspolizei Zürich hielt in Kinder- und Jugendchaträumen Ausschau nach Anzeichen pädosexueller Aktivitäten und erstellt hierzu ein Profil, welches ihn als 14-jähriges Mädchen „Sabrina“ auswies. Kurz später trat der Beschuldigte mit ihm in Kontakt, was der Ermittler zum Anlass nahm, ein (virtuelles) Gespräch aufzunehmen. Das Bundesgericht qualifizierte diesen Vorgang als präventive Tätigkeit, die dem kantonalen Polizeigesetz unterliege; erst mit der Übermittlung einer Fotografie des nackten Geschlechtsteils des Beschuldigten gelangte die StPO zur Anwendung (a.a.O., E. 3.1 und 3.2).
15 Vorermittlungen bezwecken nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung „die Feststellung, ob überhaupt strafprozessual abzuklärende Sachverhalte vorliegen oder nicht, und im bejahenden Fall eine möglichst gute Ausgangslage für das nachfolgende Vorverfahren gemäss StPO zu schaffen oder auch (weitere) Straftaten zu verhindern“; vgl. BGE 140 I 353 E. 6.1.
16 Vgl. Botschaft des Regierungsrates des Kantons Thurgau zur Änderung des Polizeigesetzes vom 5. Juli 2022, 12, abrufbar unter <https://grgeko.tg.ch/o/grgeko-portlet/activity/5148469> (zuletzt abgerufen am 7. Oktober 2023).
17 Vgl. zu der – unter dem Aspekt des Diskriminierungsverbots (Art. 8 Abs. 2 BV) – heiklen Frage, unter welchen Umständen eine polizeiliche Personenkontrolle, die (auch) an äusserliche Merkmale der kontrollierten Person anknüpft, zulässig sein kann Urteil des Verwaltungsgerichts Zürich VB.2020.00014 vom 1. Oktober 2020 E. 5.
18 Vgl. für einen anschaulichen Fall Urteil des Bundesgerichts 6B_1409/2019 vom 4. März 2021. Zu beurteilen war, ob der beschuldigte Geschäftsführer eines Clublokals von den kantonalen Instanzen zu Recht wegen Beschäftigung von Ausländern ohne Bewilligung verurteilt worden war. Strittig war dabei unter anderem die Verwertbarkeit von Erkenntnissen aus einer Kontrolle, die am 28. November 2017 in dem Lokal – ohne Hausdurchsuchungsbefehl der Staatsanwaltschaft – durchgeführt worden war. Das Bundesgericht verwarf die Argumentation der kantonalen Instanzen, dass Art. 7 Abs. 1 des Bundesgesetzes gegen die Schwarzarbeit vom 17. Juni 2005 (BGSA; SR 822.41) eine hinreichende gesetzliche Grundlage für die Kontrolle gebildet habe. Anlass für die Kontrolle habe der Umstand gebildet, dass ein Polizeibeamter von der öffentlichen Strasse aus beobachtet habe, wie eine ausländische Person im fraglichen Lokal serviert und Tische abgeräumt habe, was bei ihm aufgrund einschlägiger Vorstrafen des Beschwerdeführers den Verdacht erweckt habe, in besagtem Lokal werde eine strafbare Handlung begangen; bei dieser Sachlage sei die StPO anwendbar gewesen (a.a.O., E. 1.5).
19 Vgl. zu diesem Begriff Kommentar PolG/ZH-Zimmerlin, Rz. 54 ff. zu Aufsicht und Rechtsschutz, mit Hinweisen.
20 BGer 6B_1061/2020 E. 1.5.3 und 1.5.4.
21 BGer 6B_1061/2020 E. 1.5.5.
22 BGE 143 IV 27 E. 2.5, m.w.H.; Zimmerlin, 272; BSK StPO-Riedo/Boner, Art. 299 Rz. 15.
23 Urteil des Bundesgerichts 1B_256/2021 vom 22. Juli 2021 E. 2.2; Rechenschaftsbericht des Obergerichts Thurgau (RBOG) 2020 Nr. 27, E. 2a/cc; Albrecht, 64; Natterer, 3.
24 BGE 140 I 353 E. 5.4. Vgl. auch SK StPO-Landhut/Bosshard, Art. 309 Rz. 26.
25 Vgl. BGer 2C_479/2022 E. 7.2.4. Für die Anwendbarkeit der StPO ist eine formelle Strafanzeige (Art. 299 ff. StPO) nicht erforderlich.
26 Vgl. zur Kluft zwischen Strafprozess- und Polizeirecht Simmler, 451 f.
27 Vgl. Simmler/Markwalder/Brunner/Belôrf, 17 f.
28 Bericht des Bundesrats vom 11. Oktober 2017 in Erfüllung des Postulates Feri 13.3441, Bedrohungsmanagement, insbesondere bei häuslicher Gewalt, Überblick über die rechtliche Situation und Schaffen eines nationalen Verhältnisses, S. 5.
29 BGE 146 I 11 E. 4.1.
30 Vgl. BSK StPO-Gless, Art. 141 Rz. 38 f.; Bürge, 81 ff.
31 Vgl. BSK StPO-Dzierzega Zgraggen, Art. 194 Rz. 1; unzulässig wäre hingegen, wenn die Staatsanwaltschaft gegenüber der Polizei eine Beschlagnahmeverfügung erlässt. Die Regeln über die behördliche Zusammenarbeit gehen den strafprozessualen Zwangsmassnahmen vor, vgl. für das Verhältnis von Rechtshilfe und Beschlagnahme Urteil des Bundesgerichts 6B_1298/2022 vom 10. Juli 2023, E. 1.3.2 (zur Publikation vorgesehen).
32 Vgl. (jeweils für das Verhältnis von Verwaltungs- und Strafverfahren) BGE 142 IV 207 E. 8.3.1 f.; BGE 140 II 384 E. 3.3.4; BGE 138 IV 47 E. 2.6.1 f.
33 BGer 6B_1061/2022 E. 1.7.5; Bürge, 83; Zimmerlin, 273, m.w.H. auf abweichende Meinungen.
34 Urteil des Bundesgerichts 6B_334/2011 vom 10. Januar 2012 E. 4.2.
35 In diese Richtung Karnusian, 354; Wohlers, 62.
36 Ähnlich Zimmerlin, 273 f.
37 Vgl. Urteil des Bundesgerichts 6B_1143/2015 vom 6. Juni 2016 E. 1.3.1.
38 Zu den diesbezüglich gesteigerten Rügeanforderungen im bundesgerichtlichen Verfahren BGer 6B_1143/2015 E. 1.6.2.
39 Vgl. BGE 146 I 11 für einen Fall, in dem das Bundesgericht das Bestehen einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage für den in Frage stehenden (schweren) Eingriff in die Privatsphäre (Art. 13 Abs. 1 BV, Art. 8 Ziff. 1 EMRK) verneint hat.
40 BGer 6B_1143/2015 E. 1.7.5.
41 Scheinbar anderer Meinung Bürge, 82, der eine „missbräuchliche Umgehung“ der Anwendung der StPO verlangt.
42 Zur Konvergenz von StPO und Polizeirecht siehe auch Ziff. III.3.a) hiernach.
43 BGE 140 I 353 E. 8.2.
44 BGE 140 I 353 E. 5.5.3.
45 So in den sog. Dash-Cam-Fällen: BGE 146 IV 226 E. 3, präzisierend BGE 147 IV 16 E. 5.
46 Ähnlich BSK StPO-Gless, Art. 141 Rz. 84, wonach unzulässige Beweissammlungen konsequent zu sanktionieren seien.
47 BGE 147 IV 16 E. 7.3; BGE 138 IV 169 E. 3.1; Urteil des Bundesgerichts 6B_654/2019 vom 12. März 2020, E. 3.2.3; BSK StPO-Gless, Art. 141 Rz. 92 f.; Poulikakos, 149 ff.
48 Vgl. aus der kantonalen Praxis: Rechenschaftsbericht des Obergerichts Thurgau (RBOG) 2022 Nr. 41, passim.
49 Dazu Gless, 13 f.
50 BGE 138 IV 169 E. 3.3.3; vgl. neben dem bereits zitierten BGer 6B_654/2019 E. 3.2.3 die Urteile des Bundesgerichts 6B_75/2019 vom 15. März 2019, E. 1.4.4; 6B_640/2012 vom 10. Mai 2013 E. 2.1.
51 BGE 147 IV 9 E. 1.4.2; BGE 147 IV 16 E. 7.2
52 BGE 138 IV 169 E. 3.3.3; vgl. neben dem bereits zitierten BGer 6B_654/2019 E. 3.2.3 die Urteile des Bundesgerichts 6B_75/2019 vom 15. März 2019, E. 1.4.4; 6B_640/2012 vom 10. Mai 2013 E. 2.1.
53 Vgl. z.B. Urteil des Bundesgerichts 6B_75/2019 vom 15. März 2019, E. 1.4.4.
54 Soweit die bundesgerichtliche Rechtsprechung auch ein unverwertbares Beweismittel als „Spurensatz“ für weitere Ermittlungstätigkeiten oder zur Begründung eines Anfangsverdachts zulässt (so etwa Urteil des Bundesgerichts 6B_57/2015 vom 27. Januar 2016 E. 3.1), kann dem für den Bereich des präventiv-polizeilichen Handelns schon mit Blick auf die Kompetenzausscheidung zwischen Bund und Kantonen nicht gefolgt werden (siehe II/3/c); grundsätzlich und zu Recht kritisch Biaggini, Rz. 57.
55 Kritisch BSK StPO-Gless, Art. 141 Rz. 74: „Die Anwendung von Art. 141 Abs. 2 in der Rechtsprechung erscheint oft einzelfallorientiert, und man kann sich des Eindrucks nicht verwehren, dass zirkelschlüssig darauf abgestellt wird, dass durch eine Gesamtabwägung (…) die Konsequenz eines Beweisverwertungsverbots vermieden werden soll.“ (Hervorhebung im Original)
56 Vgl. BGer 1C_269/2021.
57 BGer 1C_269/2021 E. 3.2.4, wonach die Begriffe „Täterinnen und Täter, Tatverdächtige […] und Opfer“ in einem übertragenen, untechnischen Sinn auszulegen seien im Sinne von „in einen polizeirechtlich relevanten Sachverhalt ohne Vorliegen eines strafprozessualen Anfangsverdachts massgeblich involvierte Personen“. Zumindest in Bezug auf (Unfall‑)Opfer oder Vermisste könne der Bestimmung polizeirechtlich nicht jeder Anwendungsbereich abgesprochen werden.
58 Vgl. Botschaft des Regierungsrats des Kantons Thurgau vom 5. Juli 2022 zur Änderung des Polizeigesetzes, abrufbar unter <https://www.tg.ch/public/upload/assets/131566/Botschaft_Polizeigesetz.pdf?fp=1> (zuletzt abgerufen am 7. Oktober 2023). Nach massiver Kritik insbesondere vonseiten der FDP, die ihre Bedenken durch ein juristisches Gutachten untermauerte, wies der Grosse Rat das Gesetzgebungsvorhaben an die vorberatende Kommission zurück. Diese hat zwischenzeitlich einen neuen Gesetzesentwurf vorgelegt, mit welchem auf die umstrittene Massnahme verzichtet wird (vgl. 2. Bericht der Kommission zur Vorberatung der Änderung des Polizeigesetzes [nach Rückweisung an Kommission], abrufbar unter <https://grgeko.tg.ch/o/grgeko-portlet/activity/5786416> [zuletzt abgerufen am 7. Oktober 2023]).
59 Vgl. statt vieler BGE 146 I 62 E. 4. Danach ist bei der Prüfung, ob eine kantonale Norm mit übergeordnetem Recht konform ist, im Einzelnen auf die Tragweite des Grundrechtseingriffs, die Möglichkeit eines hinreichenden Schutzes bei einer späteren Normenkontrolle, die konkreten Umstände der Anwendung und die Auswirkungen auf die Rechtssicherheit abzustellen. Der blosse Umstand, dass die angefochtene Norm in einzelnen Fällen gegen übergeordnetes Recht verstossen könnte, führt hingegen für sich genommen nicht dazu, dass die Norm für sich genommen als rechtswidrig zu betrachten wäre.
60 Vgl. Ziff. II.3.c).
61 Schweizer/Müller, 382; BGE 140 I 353 E. 5.2; siehe auch BGE 147 I 103 E. 16; BGE 136 I 87 E. 3.1.
62 Fleiner, 131
63 Mohler, 104 ff.; aus der Praxis BGE 140 I 353 E. 8.5; zur polizeilichen Datenbearbeitung, die nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts per se einen Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung begründet: BGE 138 I 256 E. 5.
64 Ausführlich von Hahn, 94 ff. in Verbindung mit 109 f.
65 SGK BV-Schindler, Art. 5 Rz. 41; Dubey, Rz. 565 f.; grundlegend zum Zusammenhang von Normstufe und Norminhalt G. Müller, 107 ff.
66 BGE 130 I 1 E. 3.1.
67 BGE 145 I 52 E. 65; BGE 130 I 1 E. 3.1.
68 BGE 109 Ia 273 E. 4d; so auch BGE 141 I 201 E. 4.6; BGE 125 I 361 E. 4.
69 Grundlegend: Noll, 193 („Prävisionsinteresse“); vgl. auch Müller/Uhlmann, Rz. 19 f.
70 Müller/Uhlmann, Rz. 250–255.
71 Uhlmann, Rz. 12.
72 Morand, 1.
73 BGE 140 I 381 E. 4.4.
74 BGE 136 I 87 E. 3.1.
75 Tiefenthal, Kantonales Polizeirecht, 153.
76 Noll, 193 f.; so auch Schweizer/Müller, 387 f.
77 BGer 1C_39/2021 E. 4.3.3; BGE 147 I 103 E. 17.5.1; BGE 109 Ia 273 E. 9c.
78 Zum Zusammenhang von generell-abstrakter Regelung und Rechtsgleichheit siehe Ziff. III.1.
79 Vgl. Noll, 192.
80 Betreffend geheime Überwachungen („surveillance secrète“) EGMR (Grosse Kammer), Roman Zahkarov c. Russie, Urteil vom 4. Dezember 2015, 47143/06 § 227 ff.; betreffend Systeme der Massenüberwachung: EGMR (Grosse Kammer), Centrum för Rättvisa c. Suède, Urteil vom 25. Mai 2021, 35252/08, § 236 ff. Spezifisch für die Schweiz siehe EGMR i.S. Vukota-Bojić c. Suisse, Urteil vom 18. Oktober 2016, 61838/10, § 69 ff.
81 Näher zur topischen Konkretisierung des Legalitätsprinzips Seaders, 144 f. (zusammenfassend); Cottier, 135 ff.; Borer, 289.
82 Schweizer/Müller, 382, mit Verweis auf Werner Ritter, Das Erfordernis der genügenden Bestimmtheit – dargestellt am Beispiel des Polizeirechts, Diss. Zürich, Chur 1994, 186 f.
83 Weiterführend zur Methodik spezifisch im Polizeirecht Seaders, 178 ff.
84 Vgl. BGE 140 I 381 E. 4.4.1 f.; BGE 140 I 353 E. 8.4.1.
85 von Hahn, 114.
86 BGE 140 I 381 E. 6.1.
87 BGer 1C_39/2021 E. 4.3.3.
88 BGE 136 I 87 E. 8.3; vgl. auch BGE 140 I 381 E. 4.4.1.
89 BGE 146 I 11 E. 3.3.2.
90 BGer 1C_39/2021 E. 8.3.2; BGE 146 I 11 E. 3.3.1 m.w.H.
91 Zum Grundsatz der Zweckbindung der Datenbearbeitung BGE 147 II 227 E. 6.4.2.
92 BGer 1C_39/2021 E. 8.5.1
93 Offengelassen in BGer 6B_1061/2020 E. 1.5.5.
94 Vgl. BGer 1C_39/2021 E. 6.1; BGE 147 I 103 E. 17.5.2 f.; BGE 140 I 353 E. 8.8; BGE 140 I 381 E. 4.4.1–E. 4.4.3; vor Inkrafttreten der StPO zog das Bundesgericht überdies die Rechtslage in anderen Kantonen zur Konkretisierung des Bestimmtheitsgebots bei (z.B. BGE 136 I 87 E. 4.4).
95 BGE 147 I 103 E. 17.5.2.
96 Das Bundesgericht spricht in diesem Sinn von einer „Harmonisierung“ von Polizeirecht und Strafprozessordnung, so etwa BGer 1C_39/2021 E. 6.3.2 (zur Publikation vorgesehen). Vgl. hierzu auch Ziff. II.3.c).
97 Schindler, 218 f.; ausführlich OK BV-Kradolfer, Art. 29a Rz. 28 f. Das Bundesgericht spricht von einem mit der StPO „harmonisierten“ Rechtsschutz (BGE 136 I 87 E. 3.4).
98 BGer 1C_39/2021 E. 4.3.3 (am Ende) und E. 6.3.2.
99 Vgl. SGK BV-Schindler, Art. 5 Rz. 55.
100 BGE 147 I 103 E. 16.
101 BGE 140 I 353 E. 9.
102 BGE 147 I 103 E. 17.5.1; BGE 140 I 353 E. 8.7.2.3 f.
103 BGer 1C_39/2021 E. 8.7.2.
104 Vgl. BGE 146 I 11 E. 3.3.1.
105 Simmler/Canova, 116; aus deutscher Sicht Martini, S. 8 f.
106 Siehe hierzu Biaggini, Rz. 382 ff.; Wohlers, 62; L. Müller, 195 f.; Zimmerlin/Galella, 377 ff.; Zimmerlin, 273.
107 BGE 147 II 227 E. 6.4.2.
108 Z.B. § 16 Abs. 2 des Gesetzes des Kantons Zürich über die Information und den Datenschutz vom 12. Februar 2007 (IDG/ZH; LS 170.4); Art. 11 Abs. 2 des Datenschutzgesetzes des Kantons St. Gallen vom 20. Januar 2009 (DSG/SG; sGS 142.1); Art. 10 Abs. 1 des Datenschutzgesetzes des Kantons Bern vom 19. Februar 1986 (KDSG/BE; BSG 152.04).
109 Nicht alle kantonalen Gesetzgeber sind sich der Problematik bewusst. Teils scheinen sie davon auszugehen, eine Zweckänderung von präventiv-polizeilich erhobener Daten sei ohne weiteres zulässig. In diese Richtung gehen die Ausführungen in der Botschaft des Regierungsrates des Kantons Thurgau zur Änderung des Polizeigesetzes vom 5. Juli 2022 (GrG Nr. 20, GE 18 357), S. 15, betreffend die automatische Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung: „Später sollen diese Informationen als Grundlage für ein Verwaltungs- oder Strafverfahren dienen“.
110 § 32a Abs. 2 PolG/ZH: „Die weiter gehende Auswertung von Aufzeichnungen durch die Staatsanwaltschaft zur Verfolgung von Verbrechen und Vergehen bleibt vorbehalten.“
111 Biaggini, Rz. 386 und Rz. 388.
112 Das Bundesgericht wendet den „pragmatischen Methodenpluralismus“ auch auf das Polizeirecht an (BGer 6B_1061/2020 E. 1.4.4 und E. 1.5). Demgemäss richtet sich die Auslegung einer Rechtsnorm auf den Normsinn. Der Wortlaut bildet eines von mehreren Kriterien der Normsinnermittlung. Bedeutsam sind weiter die Entstehungsgeschichte und der Zweck einer Regelung (z.B. BGE 143 II 268 E. 4.3.1; BGE 141 II 436 E. 4.1).
113 BGE 140 I 353 E. 8.7.2.5
114 BGer 1C_39/2021 E. 7.1
115 BGE 146 I 11 E. 3.2
116 BGE 147 I 103 E. 15.2
117 So mit Recht BGer 1C_39/2021 E. 8.8.
118 Tschannen/Müller/Kern, Rz. 1545; Moor/Flückiger/Martenet, 668–672.
119 BGE 137 II 431 E. 3.3.1; bestätigt mit BGE 147 I 161 E. 5.1. Nach einer früheren Rechtsprechungslinie (BGE 130 I 369 E. 7.3; BGE 126 I 112 E. 4b) und einem Teil der Lehre (z.B. SGK BV-Schweizer, Art. 36 Rz. 44) sind Art und Dringlichkeit der Gefahr als zusätzliche Anwendungsvoraussetzung der polizeilichen Generalklausel zu betrachten. Nur bei unvorhersehbaren Gefahren kann sie demgemäss angerufen werden. Zu der durch die Rechtsprechung nun geklärten Kontroverse rund um die polizeiliche Generalklausel Müller/Jenni, 4 ff. und 17 f.; Zünd/Errass, 289 ff.
120 Schweizer/Müller, 383. Anders aber BGE 130 I 369 E. 7.3; das Bundesgericht liess die polizeiliche Generalklausel für die Wegweisung eines Journalisten am WEF in Davos genügen, obschon bei einer Veranstaltung dieser Grössenordnung zweifellos ein entsprechendes Dispositiv bestand (oder hätte bestehen müssen).
121 Ähnlich von Hahn, 128 f.; Schweizer/Müller, 383 („restriktive Anwendung“ der polizeilichen Generalklausel).
122 Unter dem Überbegriff Predictive Policing werden verschiedene Verfahren zur Sammlung und Analyse von Daten behandelt, die dazu dienen, die Wahrscheinlichkeit polizeirechtlich relevanter Sachverhalte festzustellen; siehe dazu Leese, S. 57 f. und passim.
123 Braun Binder/Burri/Lohmann/Simmler/Thouvenin/Vokinger, Rz. 19.
124 So die Argumentation des Amtsgerichts Trier im Urteil vom 2. März 2023 (27c OWi 8041 Js 2838/23), Rz. 80, in Bezug auf das System „MonoCam“, das zur Überwachung der Verhaltensweisen von Fahrzeuglenkerinnen und –lenkern eingesetzt wird.
125 Als Lehrbuchbeispiel: Die mögliche Entführung eines Kindes durch eine unbekannte Täterschaft.
126 In diesem Sinn wohl auch BGer 1C_39/2021 E. 8.8: „Der Gesetzgeber wird indessen die technische und gesellschaftliche Entwicklung im Auge behalten müssen und gegebenenfalls verpflichtet sein, ergänzende Bestimmungen zum Schutz des Kernbereichs der informationellen Selbstbestimmung zu erlassen“.
127 Vgl. hierzu schon einleitend, Ziff. I.
128 Paradigmatisch Neue Zürcher Zeitung vom 31. Oktober 2023, Braucht Zürich mehr Polizisten? „Die Stadtpolizei jammert auf hohem Niveau“ – „Das ist doch spätpubertäres Trötzeln!“. Interview mit Luca Maggi (Grüne) und Andreas Egli.
129 Vgl. auch die Bestrebungen im Kanton St. Gallen zur Schaffung einer gesetzlichen Grundlage, damit die Kosten von Polizeieinsätzen aufgrund (illegaler) Veranstaltungen im öffentlichen Raum an die Veranstalter überwälzt werden können; Entwurf des Justiz- und Sicherheitsdepartements des Kantons St. Gallen vom 12. September 2023 für einen XVII. Nachtrag zum PG/SG (Kostentragung von Veranstalterinnen und Veranstaltern), S. 37 f.
130 Antrag des Zürcher Regierungsrates vom 7. März 2023 zu einem Beschluss des Kantonsrates über die kantonale Volksinitiative zur Durchsetzung von Recht und Ordnung (Anti-Chaoten-Initiative), S. 2 f.
131 Antrag des Zürcher Regierungsrates vom 7. März 2023 zu einem Beschluss des Kantonsrates über die kantonale Volksinitiative zur Durchsetzung von Recht und Ordnung (Anti-Chaoten-Initiative), S. 6 f.
132 Vgl. zusammenfassend Medienmitteilung der Kommission für Justiz und öffentliche Sicherheit des Kantonsrats Zürich vom 31. August 2023, Chaoten sollen stärker in die Pflicht genommen werden, abrufbar unter <https://parlzhcdws.cmicloud.ch/parlzh5/cdws/Files/3a244e4c662840338eb09158a2458307-332/1/pdf> (zuletzt abgerufen am 7. Oktober 2023).
133 Die kantonsrätlichen Beratungen können eingesehen werden unter <https://zh.recapp.ch/shareparl/player/entry/64fb585a781e4a1887fdd8c1> (zuletzt abgerufen am 7. Oktober 2023).
134 Siehe Urteil des Bundesgerichts 1C_181/2019 vom 29. April 2020 E. 5 (nicht publ. in: BGE 147 I 103); BGE 143 I 147 E. 11; Urteil des Verwaltungsgerichts Luzern P 12 2 vom 7. Mai 2013 E. 6a/cc.
135 Möglicherweise wird das Verwaltungsgericht Zürich demnächst im Fall Chalberhau die Gelegenheit haben, die rechtsstaatlichen Grenzen einer Überwälzung von Polizeieinsatzkosten an die Verursacher (hier: die Besetzer eines zur Rodung vorgesehenen Waldgrundstücks) abzustecken; vgl. insbesondere Ziff. 5 der Antwort des Zürcher Regierungsrates auf die Anfrage von Kantonsrat Martin Farner, Besetzung der Chalberhau: Rechtsfreier Raum?
136 Durch die Kostenpflicht werden die Versammlungsfreiheit und die Meinungsäusserungsfreiheit tangiert; zu beachten sind überdies die „chilling effects“, die von einer solchen Regelung ausgehen (BGE 143 I 147 E. 3.3).
137 Vgl. für ein weiteres Beispiel das oben (Ziff. II.4.) erwähnte, zwischenzeitlich (wohl) gescheiterte Ansinnen, das Thurgauer Polizeigesetz um einen Paragraphen zu ergänzen, der es der Polizei erlaubt hätte, (anlasslos) elektronische Geräte von Personen zu durchsuchen. Ähnliche Vorbehalte wurde auch gegenüber – zwischenzeitlich Gesetz gewordenen – Erlassentwürfen auf Bundesebene geäussert; vgl. statt vieler Mohler, PMT-Gesetz, passim.