Inhalt
- Einleitung
- Radikalisierung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen als
Herausforderung für die Prävention - Spielerisch gegen Radikalisierung – Strategien und Programme gegen
Extremismus - Radikalisierung im Spiegel von Psychologie und Recht
I. Einleitung
Das anhaltend hohe Niveau der Jugendgewalt und die Gefahr der Radikalisierung unter Jugendlichen stellen die Kriminalprävention vor neue Herausforderungen. In der Schweiz zeichnet sich ein beunruhigender Trend ab: Konflikte eskalieren immer häufiger. Kleinere Streitereien führen zu körperlichen Auseinandersetzungen mit gravierenden Folgen. Gerade männliche Jugendliche reagieren heftig auf geringfügige Provokationen und behaupten sich selbst durch Gewalthandlungen. Solche Eskalationen werden in der digitalen Welt sekundenschnell erfasst, verbreitet und so quasi zur Nachahmung empfohlen. Die Bereitschaft, bei grenzverletzendem Handeln selbst einzuschreiten oder dieses überhaupt zur Anzeige zu bringen, scheint zu schwinden. Das Misstrauen in staatliche Organisationen wächst. Parallel dazu steigt die Sorge über die Anfälligkeit Jugendlicher für extremistische Ideologien. Das Internet und Messengerdienste spielen dabei eine zentrale Rolle, indem sie Rekrutierung und Radikalisierung erleichtern. Wie können wir verhindern, dass Jugendliche in extremistische Strömungen abgleiten? Welche Rolle spielen soziale Medien bei der Verbreitung extremistischer Inhalte? Was für einen Einfluss haben Crimefluencer? Und wie können wir als Akteure und Gesellschaft effektiv zur Gewaltprävention beitragen? Diese und weitere Fragen standen im Mittelpunkt des 15. Zürcher Präventionsforums, das am 3. April 2025 in Zürich unter der Leitung von Prof. Dr. iur. Christian Schwarzenegger, Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie an der Universität Zürich, und lic.oec.publ. Patrizia Suplie, Chefin Kommissariat Prävention, Stadtpolizei Zürich, stattfand. Im Fokus der Tagung standen die brennenden Themen Jugend, Radikalisierung und Gewalt sowie ihre Verknüpfung. Die Veranstaltung setzte sich zum Ziel, eine Plattform zu bieten, auf der Forschung und Praxis miteinander in einen kriminologischen, medienpsychologischen und juristischen Dialog treten können. Im Bereich der Radikalisierung von Jugendlichen kann wirksames präventives Handeln nur dort gelingen, wo auch systemübergreifende und interdisziplinäre Kooperation stattfindet.
II. Radikalisierung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen als Herausforderung für die Prävention
Nach einer kurzen Begrüssung durch Prof. Dr. Christian Schwarzenegger und dem Einleitungsreferat von Kommandant lic. iur. Beat Oppliger, Stadtpolizei Zürich, informierte Frau Leutnant Patrizia Suplie über die Schwerpunkte der Gewaltprävention in der Stadt Zürich bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Jugendliche Gewaltkriminalität ist kein neues Phänomen. Diese Feststellung wurde mit einem Rückblick auf vergangene Zürcher Präventionsforen bestätigt: 2009 «Jugendkriminalität und Prävention», 2011 «Illegale und schädliche Inhalte im Internet und in den neuen Medien – Prävention und Jugendschutz», 2018 «Kulturkonflikt und Identität – Radikalisierung und Kriminalität junger Migranten – Ansätze der Prävention» sowie 2022 «Jugendliche und junge Erwachsene im urbanen Umfeld als Fokus der Kriminalprävention». Eine wirksame Radikalisierungsprävention habe sich den gesellschaftlichen Veränderungen anzupassen. Um diese Veränderungen zu identifizieren und zu begreifen, wurden drei provokative Hypothesen aufgestellt: Die Einführung der Smartphones (2010) habe eine Reduktion der Jugendkriminalität bewirkt (Hypothese 1), die steigende Asylbevölkerung gehe mit einer Zunahme der Straftaten durch Jugendliche einher (Hypothese 2) und die Emanzipation der Frauen und Mädchen führe zu einer Verschiebung der Gewalt (Hypothese 3). Bezüglich der ersten Hypothese sei zwar zutreffend, dass die Statistik nach der Einführung von Smartphones 2010 zunächst eine abnehmende Tendenz von Jugendstraftaten sämtlicher Deliktskategorien aufweist, doch sei der Trend seit 2017 wiederum steigend. Es dürfe insbesondere nicht vergessen werden, dass einerseits die Nutzung von sozialen Medien den Zusammenschluss gleichgesinnter Gruppen erleichtern und damit ein Risikofaktor für die Radikalisierung darstellen würde. Andererseits würden Smartphones bzw. die darauf gespeicherten Daten auch eine Schlüsselrolle bei der Aufklärung von Straftaten wie auch bereits bei der präventiven Polizeiarbeit spielen. Insofern sei nicht wissenschaftlich belegt, dass die Einführung von Smartphones zu einer Reduktion der Jugendkriminalität geführt hat. Hinsichtlich der zweiten Hypothese ist in der Stadt Zürich zwar seit 2021 ein Rückgang bei den beschuldigten Minderjährigen zu vermerken. Dies, obwohl die Anzahl der minderjährigen Personen in der Stadt Zürich seit 2009 um 29% angestiegen ist. Indes hat die jugendliche Asylkriminalität innerhalb des Rückgangs der Jugendkriminalität seit der post-Covid-19-Zeit markant zugenommen. Damit erweise sich die Hypothese zwar grundsätzlich als wahr, diverse Problemfelder, welche die Migration stark beeinflussen (wie insbesondere Fragen der Integration), werden dabei allerdings nicht berücksichtigt. Schliesslich könne auch die dritte Hypothese bezüglich der vermehrten Gewaltbereitschaft von Mädchen und jungen Frauen insofern bestätigt werden, als bei von ihnen begangenen Delikten gegen Leib und Leben ein Anstieg von 16% auf 24% festzustellen ist. Vor diesem Hintergrund zeichne sich die «Strategie Prävention 2025 bis 2028» durch Transparenz und Mitwirkung aus – es soll eine «Open Strategy» angesteuert werden. Sie setze sich aus einer engen Zusammenarbeit mit der Kriminalprävention durch die Polizei, der gemeinsamen Prävention auch durch das private Umfeld der Betroffenen, dem Jugenddienst sowie der Instruktion von Schulen zusammen.
Im Anschluss hielt Prof. Dr. Dirk Baier, Universität Zürich und ZHAW, ein Referat zum Thema «‹Eine Kultur der Wertschätzung von Gewalt hat sich durchgesetzt› – Erkenntnisse über die Radikalisierung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus der kriminologischen Forschung», welches zunächst kriminologische Studien und anschliessend deren Deutung präsentierte. Es sei dabei im Hinterkopf zu behalten, dass Kriminalstatistiken konzertierte Aktionen seien. Indem sie nur das Hellfeld der Kriminalität abbilden, sollte ihre Interpretation stets zusammen mit der Anzeigerate, der Aufklärungsrate und der Verurteilungsrate erfolgen. Diese Raten würden sich nämlich je nach Delikt wesentlich unterscheiden. Ein Blick auf die Entwicklungen der Beschuldigtenzahl für Gewaltdelikte in den letzten Jahren zeigt, dass bei den Altersgruppen 10-14 Jahre und 15-17 Jahre ein klarer Anstieg zu vermerken ist; bei Ersterer um 73.5% und bei Letzterer um 44.4%. Deutlich eindrücklicher und klarer sei dabei die Kriminalstatistik für schwere Gewaltdelikte: Dort ist ein Anstieg von 283% bei 10-14-Jährigen und ein Anstieg von 237.6% bei 15-17-Jährigen zu verzeichnen. Die Zahlen würden belegen, dass männliche Jugendliche als Bevölkerungsgruppe besonders anfällig auf Radikalisierung im Bereich schwerer Gewalt seien. Im Vergleich zu den Kriminalstatistiken vor zehn Jahren sei somit eine deutliche Vorverlagerung mit Blick auf das Alter von jugendlichen Gewalttätern zu erkennen. Wenn nun danach gefragt würde, welche Risikofaktoren hinter diesen Zahlen stünden bzw. wie sie zu deuten seien, müsste die Antwort sein, dass sie multifaktoriell sind. Sie reichen von gesellschaftlich vorherrschenden Ideologien, die eine grosse Rolle für die Konstruktion von Feindbildern und negativen Einstellungen gegenüber Minderheiten spielen, über Identität (Perspektivenlosigkeit und sogenannter «Verlierer im Bildungssystem»), bis hin zur Gruppenbildung innerhalb der Gesellschaft sowie einzelner Systeme (z.B. TikTok-Dschihadisten im Zusammenhang mit Online-Radikalisierung). Besonders interessant ist dabei die Frage, welchen Einfluss die multipolare Weltpolitik mit der vermehrt populistischen Einstellung, dass sich der Stärkere durchsetzt, auf die Radikalisierung von Jugendlichen hat. Hingegen ist Migration keine belegte Ursache für Jugenddelinquenz und -radikalisierung. Es sei allerdings zu beachten, dass von Migration betroffene Jugendliche (entweder direkt oder indirekt über ihre Eltern) häufiger delinquenzauslösenden Faktoren ausgesetzt seien. In der anschliessenden Diskussion wurde klargestellt, dass bloss die Anzahl der Gewaltdelikte bei sehr jungen Tätergruppen gestiegen ist, nicht aber die Brutalität der einzelnen Taten selbst. Weiter wurde klar, dass es bisher noch wenig Forschung zur Radikalisierung von Mädchen und jungen Frauen gäbe, und insbesondere noch weitgehend unklar sei, ob sich die Risikofaktoren bei den beiden Geschlechtern decken oder nicht.
Im Anschluss stellte Michèle Seewer, Leiterin der Fachstelle Brückenbauer der Kantonspolizei Bern, das Präventionsprogramm «Gemeinsam gegen Hass» vor. Hasskriminalität, das heisst Straftaten mit Vorurteilsmotiv wie Ethnie, Herkunft oder Religion, werden aufgrund einer Motion im Kanton Bern seit dem 1. Januar 2023 statistisch erfasst. Ursprünglich standen Delikte gegen LGBTIQ im Fokus, seit dem Nahostkrieg 2024 häufen sich auch zunehmend antisemitische, islamfeindliche und rassistische Vorfälle, sodass die Radikalisierungsprävention zunehmend in den Vordergrund rückt. Zur Umsetzung der Motion und zur Verhinderung von Hasskriminalität ergriff die Berner Kantonspolizei nebst internen auch externe Massnahmen, die an die Bevölkerung, an mögliche Betroffene und an Schulen gerichtet waren. Ziel ist, in drei Handlungsfeldern präventiv tätig zu werden: Durch das Setzen eines klaren Zeichens gegen Hass durch ein gemeinsames Statement seitens Politik, Behörden und ausgewählten Religionsvertretenden, in den Schulen und schliesslich durch Sensibilisierung der breiten Öffentlichkeit. Ein zentraler Bestandteil des Projekts ist die Zusammenarbeit mit über 30 Religionsgemeinschaften im Kanton, sowie verschiedenen unabhängigen Partnerorganisationen. Die Kantonspolizei entwickelte verschiedene Materialien zur Förderung der Prävention, darunter eine Videobotschaft von Religionsvertretenden gegen Hass und Inhalte für Schulen, beispielsweise die Empfehlungen zur Prävention, Intervention und Aufarbeitung von Hasskriminalität («PIA») sowie Informationsmaterialien für Lehrpersonen. Neu hinzugekommen ist das Modul «Radikalisierung» zur Sensibilisierung von Betreuungspersonal in Asylunterkünften, Schulsozialarbeitenden, Lehrverantwortlichen in Betrieben und weiteren Akteuren im Bildungsbereich. Abschliessend wurden geplante künftige Präventionsmassnahmen skizziert, etwa die Erweiterung des Radikalisierungsmoduls für Schulen sowie ein geplantes Netzwerktreffen mit Religionsgemeinschaften im nächsten Jahr.
III. Spielerisch gegen Radikalisierung – Strategien und Programme gegen Extremismus
Das nächste Referat von Yann Bartal vom Verein Dezentrum befasste sich mit dem Einsatz von «digitalen Kompetenzen gegen Radikalisierung». Der Verein möchte auf die zunehmende Radikalisierung jüngerer Personen – in den Medien teils als «TikTok-Terroristen» bezeichnet – reagieren und die digitale Entwicklung gezielt präventiv mitgestalten. Dazu setzt er insbesondere auf die Förderung der digitalen Partizipation in der Demokratie und den Ausbau der digitalen Medienkompetenz. Ein Beispiel dafür ist das «Digital Literacy»-Projekt, das Teilnehmende für Clickbait und andere Internetphänomene sensibilisieren sollte. Die Teilnehmenden – häufig Schulklassen – interagierten dabei in einem simulierten Social Media Feed mit Bots und untereinander. Anschliessend fand eine Diskussion über das Erlebte statt. Gaming gehört zu den beliebtesten Freizeitaktivitäten von Jugendlichen. Extremistische Gruppen nutzen diesen Zugang, etwa durch die Entwicklung eigener Spiele oder das Schaffen extremistischer Räume in bestehenden Spielen und spielnahen Plattformen, gezielt aus. Die Jugendlichen sind auf diesen Plattformen daher besonders vulnerabel und zugleich für die Prävention schwer zu erreichen. An diesem Punkt knüpft das neue Projekt «Gaming against Extremism» an. Kernstück des neuen präventiven Ansatzes ist ein Spiel, in dem die Spielenden in einen Charakter schlüpfen, der zur Erfüllung seiner Bedürfnisse nach Gemeinschaft, Stabilität und Spass Entscheidung treffen muss, etwa, ob er ein Foltervideo weiterleiten möchte. Ziel ist es, alle Bedürfnisse zu befriedigen, ohne in die Radikalisierung abzurutschen. Das Spiel soll den Jugendlichen spielerisch vermitteln, welche Taktiken zur Radikalisierung eingesetzt werden. Begleitet wird das Spiel von einem Support-Kit für pädagogische Fachpersonen. Die Jugendlichen sollen über das Spiel in einen offenen Dialog gebracht werden. Künftig soll das Programm auch ausserhalb von Schulen eingesetzt, technisch weiterentwickelt, auf Französisch übersetzt sowie durch physische Begleitmaterialien ergänzt werden.
In der anschliessenden Diskussionsrunde wurde darauf hingewiesen, dass das Game nicht dem typischen grafischen Standard der kommerziellen Spieleindustrie entspreche und sehr textlastig sei. Dies sei jedoch nicht nur den Entwicklungskosten geschuldet, sondern stelle eine bewusste Entscheidung dar: Das Spiel soll nicht isoliert konsumiert, sondern als pädagogisches Instrument zur Förderung des Dialogs eingesetzt werden. Die Nützlichkeit von Spielen für die Prävention zeigte sich auch im Kanton Bern, wo die Kantonspolizei Games im Präventionsunterricht zu «Hate Crime», (Cyber-)Mobbing und sexualisierter Gewalt erfolgreich einsetzt.
Nach der Mittagspause stellte Matthieu Coquelin, Fachstelle Extremismusdistanzierung Stuttgart (FEX), in seinem Vortrag «Radikal. Verstehen.» den Ansatz und die Arbeitsweise der FEX vor. Die 2015 gegründete Fachstelle ist im Bereich der Sekundärprävention angesiedelt und leistet Aufklärungs- und Bildungsarbeit. Dabei muss sie sich regelmässig mit jüngeren Menschen befassen, da das Durchschnittsalter von Attentätern von 17 auf 15.5 Jahre gesunken sei. Wird der FEX ein Fall im Schulbereich zugetragen, vermittelt sie den Fall entweder an eine spezialisierte Stelle weiter oder arbeitet direkt mit der betroffenen Schulklasse. Weiter bietet sie Workshops und Weiterbildungen für Lehrpersonen an. Zudem arbeitet die FEX eng mit Sicherheitsbehörden zusammen, insbesondere dann, wenn pädagogische Mittel nicht mehr ausreichen.
Im weiteren Verlauf des Vortrags stellte der Referent das kognitive Modell zur Radikalisierung von Randy Borum vor, das der Arbeit der FEX zugrunde liegt. Danach wird in vier aufeinanderfolgenden Denkschritten zunächst ein Missstand wahrgenommen, dann entwickelt sich daraus ein Gefühl der Ungerechtigkeit oder persönlichen Benachteiligung. Im dritten Schritt wird die Schuld dafür externalisiert, also einer bestimmten Gruppe zugeschrieben, und schliesslich werden die vermeintlich Schuldigen entmenschlicht, was Gewalt gegen sie moralisch rechtfertigen soll. Social Media, wie TikTok und Gewaltvideos tragen zur Beschleunigung der letzten zwei Schritte bei. Um dem entgegenzuwirken und eine Reflexion über die eigene Haltung bei den Jugendlichen zu fördern, hat die FEX unter anderem das Spiel «Hate Hunters» entwickelt. Gespielt mit pädagogischer Begleitung ermöglicht es einen Einstieg in eine Auseinandersetzung mit Gut und Böse auf einer fiktiven Ebene. So kann im Anschluss eine offene Diskussion über reale gesellschaftliche Themen geführt werden, bei der alle Beteiligten von einer gemeinsamen Ausgangsbasis ausgehen.
IV. Radikalisierung im Spiegel von Psychologie und Recht
In seinem Referat «Radikalisierung und Gewalt aus medienpsychologischer Sicht» präsentierte Prof. Dr. Daniel Süss, Professor für Medienpsychologie an der ZHAW und UZH, Erkenntnisse aus Forschungsprojekten zur Mediennutzung von Jugendlichen und deren Auswirkungen. Besonders die Möglichkeit, von Vorbildern zu lernen («Lernen am Modell»), und ein konstanter Wettbewerb («soziale Vergleiche») sprechen Jugendliche in ihrer Entwicklungsphase ausgesprochen stark an. Hierin zeigt sich die Ambivalenz von sozialen Medien für die Entwicklung: Einerseits können Medienfiguren Jugendlichen dabei helfen, sich weniger verunsichert zu fühlen, indem sie ein Vorbild sind und bei der Sinn- oder Gruppensuche unterstützen. Andererseits können soziale Medien zu parasozialen («als ob») Beziehungen führen, die im Fall von Crimefluencern kriminelle Tendenzen fördern können. Ähnliches gilt auch für den sozialen Vergleich. Sich zu vergleichen kann zu negativen Selbstbildern, Verunsicherung und Isolierung, aber auch zum Aufbau von Selbstwert und stärkeren sozialen Bindungen führen. Soziale Medien amplifizieren die positiven und negativen Effekte des Vergleichens. Diese Ambivalenz zeigt sich auch bei den Wirkungen von Gewaltdarstellungen in Medien («Mediengewalt») auf Konsumenten. Zwar reagiert die Mehrheit unauffällig, doch können situative und persönliche Umstände Priming-Effekte wie Gewaltverherrlichung oder Empathieverlust nach sich ziehen. Ein solcher die Radikalisierung begünstigender Umstand ist das Scheitern von inhärent mit der Nutzung sozialer Medien zusammenhängenden Entwicklungsaufgaben. Beispielsweise gehören der Aufbau eines Freundeskreises, die Akzeptanz des eigenen Körpers und dessen Veränderung sowie die Entwicklung eines Wertekompasses zu zentralen Aufgaben Jugendlicher, die durch soziale Medien erschwert werden. Eine im Scheitern bedingte Unsicherheit Jugendlicher stellt dann fruchtbaren Boden für radikale Ideologien dar, die durch die Abgrenzung der eigenen Gruppierung von vermeintlich Anderen ein starkes Gefühl von Gemeinschaft versprechen. Abschliessend erscheint zentral, dass zwischen 5-10% der Jugendlichen eine auffällige und problematische Nutzung sozialer Medien, oft in Kombination mit anderen Risikofaktoren wie hoher Belastung, mangelnder Unterstützung aus dem sozialen Umfeld und niedrigem Selbstwertgefühl aufweisen. Effektive Prävention erfordert demnach einen interdisziplinären Ansatz, bei welchem die Förderung von Grundwerten des sozialen Zusammenlebens im Zentrum steht.
In der darauffolgenden Diskussion wurde der Einfluss von hohen Bildschirmzeiten auf Jugenddelinquenz diskutiert, die laut Prof. Dr. Süss für sich allein jedoch keinen Risikofaktor darstellt («Nullkorrelation»). Ausschlaggebend sei vielmehr, wie Jugendliche die Zeit in den sozialen Medien verbringen. Prof. Dr. Schwarzenegger brachte ebenfalls die weltweite, von den USA ausgehende Tendenz zur Deregulierung sozialer Medien auf. Coquelin erwähnte hierzu, dass der Umstand, dass primär monetär motivierte Plattformen zur Hauptquelle für die Informationsbeschaffung avanciert sind, eine Regulation erfordert. Auch Prof. Dr. Süss folgte dieser Auffassung: Es reiche gerade nicht aus, lediglich die Medienkompetenz zu stärken. Auch Plattformen müssten in die Verantwortung für die Verbreitung von illegalen Inhalten und Falschinformationen genommen werden. Darüber hinaus warf er auch die Idee auf, den Zugang zu sozialen Medien für Jugendliche stärker zu kontrollieren, wie es jüngst in Australien geschehen ist.
Dr. Sven Zimmerlin, ehemaliger Oberjugendanwalt und Polizist, heute Dozent für Strafrecht und Strafprozessrecht an der ZHAW und Lehrbeauftragter an der UZH, widmete sich in seinem Referat dem Phänomen der Jugendgewalt und den (straf-)rechtlichen Bekämpfungsinstrumenten. Empirisch zeigt sich, dass Jugendliche zwar überproportional häufig, aber nicht besonders intensiv delinquieren. Besonders im Dunkelfeld zeichnet sich ab, dass die Jugendkriminalität in der Schweiz seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts stetig ansteigt. Jüngst tritt vermehrt Gewalt im Zusammenhang mit Gruppenzugehörigkeit auf, insbesondere zu Gangs, Fangemeinschaften und extremistischen Gruppierungen. Der Umgang mit delinquierenden Gleichaltrigen, mangelnde Selbstkontrolle, fehlender schulischer Erfolg und ein problematisches soziales Umfeld, stellen hierbei entscheidende Risikofaktoren für Straffälligkeit dar. Die schweizerische Rechtsordnung bietet verschiedene Möglichkeiten zur Bekämpfung von Jugendgewalt: von Massnahmen zum Persönlichkeitsschutz (ZGB[1]Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 (ZGB, SR 210).) über polizeiliche Instrumente (BWIS[2]Bundesgesetz über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit vom 21. März 1997 (BWIS, SR 120). oder Hooligan-Konkordat[3]Konkordat über Massnahmen gegen Gewalt anlässlich von Sportveranstaltungen vom 15. November 2007.) bis hin zu öffentlich-rechtlichen Ausgangsverboten wie beispielsweise auch Zonen- oder Alkoholverboten. Letztere haben sich in der Praxis aber häufig als nicht besonders effektiv erwiesen. Da solche Massnahmen die Voraussetzungen der Grundrechtseinschränkungen nach Art. 36 BV[4]Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV, SR 101). zu erfüllen haben, scheitert ihre Anordnung daher häufig am Kriterium der Eignung.
Das Jugendstraf- und -strafprozessrecht hingegen ist ein zentrales Instrumentarium zur Bekämpfung von Jugendgewalt. Das JstG[5]Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht vom 20. Juni 2003 (JStG, SR 311.1). sieht einen weitreichenden Katalog an Schutzmassnahmen vor, welche von einer engmaschigen Beaufsichtigung jugendlicher Delinquenten bis hin zu einer stationären Unterbringung reichen. Diese Massnahmen können grundsätzlich auch vorsorglich angeordnet werden, damit die Jugendstrafrechtspflege auch vor einer Verurteilung auf die individuellen Bedürfnisse delinquenter Jugendlicher eingehen kann. Kommt es zu einer Verurteilung, können neben Bussen und Freiheitsstrafen Straftaten mittels Verweis oder persönlicher Leistung sanktioniert werden. Bedingte Strafen können mit Weisungen kombiniert werden, was es der Jugendstrafbehörde ermöglicht, massgeschneiderte Massnahmen zur Bekämpfung der Delinquenz Einzelner anzuordnen – eine Möglichkeit, die in der Praxis selten ausgeschöpft wird. Insgesamt bietet das rechtliche Instrumentarium zur Bekämpfung von Jugendgewalt ein breites Spektrum präventiver und restriktiver, weitgehend flexibel kombinierbarer Möglichkeiten. Häufig stehen jedoch Zuständigkeitsprobleme, datenschutzrechtliche Bedenken und die Verhältnismässigkeit der kombinierten Massnahmen in der Summe dem Ausschöpfen des vollen Potenzials im Weg. Mit Blick auf kommende Änderungen des Jugendstrafrechts kam Dr. Zimmerlin zum Schluss, dass weder der Verwahrungsvorbehalt noch die Möglichkeit parallel geführter Verfahren tatsächliche Verbesserungen mit sich bringen werden. Ersterer wird durch die hohen Anforderungen an die Risikoprognose zum toten Buchstaben und parallel geführte Verfahren sind vor allem deshalb problematisch, weil unklar bleibt, wen welche Zuständigkeiten treffen. Es zeige sich leider, so der Referent, dass der Ansatz, eine moderate und systemkonforme Verschärfung des Jugendstrafrechts zu erzielen, gänzlich verfehlt und stattdessen mehr Probleme geschaffen als gelöst wurden.
In der abschliessenden, von Prof. Dr. Schwarzenegger geleiteten Podiumsdiskussion reflektierten Coquelin, Dr. Zimmerlin und Vivian Frei, Beauftragter «Gewalt im schulischen Umfeld» der Bildungsdirektion des Kantons Zürich, die Erkenntnisse des 15. Zürcher Präventionsforums. Frei betonte hierbei einerseits, dass einzig 2% der Jugendlichen mehr als einmal in Kontakt mit der Jugendstrafrechtspflege kommen, und andererseits die Wichtigkeit eines effektiven Präventionsangebots, das die Zivilgesellschaft (beispielsweise Sportvereine) aktiviert, um den Präventionsgedanken nachhaltig voranzubringen. Besonderes Augenmerk liege hierbei auf dem Anknüpfen an und Bekämpfen von gewaltlegitimierenden Männlichkeitsbildern, worin Frei einen wichtigen Punkt zur Reduktion von Jugendgewalt und -extremismus sieht. Coquelin gab weiter zu bedenken, dass der öffentliche Diskurs über die Jugendgewalt immer stark dramatisiert erfolgt. Sodann bleibt der mediale und öffentliche Diskurs geprägt von wissenschaftlich widerlegten, politisierten, populistischen und verkürzten Erklärungen (vor allem Migration als Treiber der Jugendgewalt). Auch Frei gab in diesem Kontext zu bedenken, dass sowohl Asylbewerber als auch die ständige ausländische Wohnbevölkerung in der Schweiz weitaus prägenderen Risikofaktoren für Kriminalität ausgesetzt sind, was besonders durch das Asylwesen noch intensiviert wird. Die Wirkung dieser Effekte verdeutlicht sich dadurch, dass Jugendliche im Asylwesen von der restlichen jugendlichen Bevölkerung schulisch getrennt werden und somit verstärkt mit Gleichaltrigen in Kontakt kommen, die ähnliche Risikofaktoren aufweisen. Dadurch wird delinquentes Verhalten weiter begünstigt. Abschliessend wies Dr. Zimmerlin darauf hin, dass wiederholt delinquente Jugendliche besonders von situativen und individuell präventiven Massnahmen profitieren und diese noch zu wenig zur Anwendung kommen. Abschliessend gab er zu bedenken, dass Plattformbetreiber in die Verantwortung genommen werden sollen und müssen, auch wenn der Zugriff auf diese häufig durch das Territorialitätsprinzip erschwert wird.
Fussnoten[+]
↑1 | Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 (ZGB, SR 210). |
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↑2 | Bundesgesetz über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit vom 21. März 1997 (BWIS, SR 120). |
↑3 | Konkordat über Massnahmen gegen Gewalt anlässlich von Sportveranstaltungen vom 15. November 2007. |
↑4 | Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV, SR 101). |
↑5 | Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht vom 20. Juni 2003 (JStG, SR 311.1). |