Risiko & Recht

Ausgabe 02 / 2025

Rechtliche Aspekte der forensischen Basisraten

Thomas Noll / Michèle Iseli*

Basisraten sind essentieller Bestandteil evidenzbasierter Risikoeinschätzungen. Bei der Wahl geeigneter Basisraten können sich Konflikte zwischen Spezifität und Robustheit ergeben. Angesichts der potentiell einschneidenden Bedeutung solcher Risikoeinschätzungen, insbesondere für Betroffene, widmet sich dieser Beitrag dem (grund-)rechtlichen Rahmen, den Fachpersonen im Umgang mit Basisraten einzuhalten haben.

* PD Dr. iur. Dr. med. Thomas Noll ist Arzt und Strafrechtler. Er hat als Allgemein- und Gefängnispsychiater gearbeitet, war Chef Vollzug der JVA Pöschwies und Direktor des Schweizerischen Ausbildungszentrums für das Strafvollzugspersonal. Heute ist er Forscher im JuWe (Justizvollzug und Wiedereingliederung des Kantons Zürich). MLaw Michèle Iseli ist juristische Auditorin bei Forschung und Entwicklung (F&E) im JuWe.

Inhalt

  1. Einleitung
  2. Kunstgerechte Risikoeinschätzungen gemäss Lehre und Rechtsprechung
  3. Justizvollzug muss auf Evidenz basieren
  4. Weitere Rechtsgrundlagen
  5. Zum Trade-off zwischen Spezifität und Robustheit
  6. Fazit
  7. Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Forensisch-psychologische Risikoeinschätzungen müssen auf Fakten beruhen, nicht auf gefühlten Wahrheiten.[1]Pressemitteilung Nr. 88/2024 des Bundesjustizministers Dr. Marco Buschmann vom 17. Oktober 2024 <https://www.bmj.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2024/1017_StrafStatG.html>. Basisraten, also die statistisch erhobenen Rückfallraten einer bestimmten Population, sind empirische Fakten. Wie im Beitrag von Albrecht et al. in dieser Ausgabe von R&R erklärt, benötigen forensische Fachpersonen für die Einschätzung von individuellen Rückfallwahrscheinlichkeiten Basisraten als geeignete Erfahrungs- respektive Vergleichswerte.[2]Albrecht et al., I. Daneben – was aber nicht Gegenstand dieses Beitrags ist – werden Basisraten für eine Reihe weiterer Zwecke benötigt, etwa zur Überprüfung, ob mit einer bestimmten Strafe … Continue reading Ohne zuverlässige Basisraten würden die Vergleichswerte fehlen, und es würden unfundierte Risikoeinschätzungen erstellt. Das kann weitreichende Folgen haben, denn auf Basis von Risikoeinschätzungen finden wesentliche Eingriffe in die Rechte von betroffenen Personen statt: Im Strafrecht und Strafprozessrecht wird in unterschiedlichen Situationen gesetzlich eine Einschätzung von Risiken verlangt, etwa im strafprozessualen Kontext bei der Beurteilung der Wiederholungs- oder Ausführungsgefahr (Art. 221 StPO[3]Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO, SR 312).). Auch im Sachurteil stellt sich im Zusammenhang mit der Massnahmenindikation die Frage der Rückfallwahrscheinlichkeit (Art. 56 StGB[4]Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 (Strafgesetzbuch, StGB, SR 311).). Weiter können während des Vollzugs einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden strafrechtlichen Massnahme Risikoeinschätzungen im Rahmen von Vollzugslockerungen (z.B. Hafturlaub) sowie im Kontext der (bedingten) Entlassung aus dem Straf- oder Massnahmenvollzug (Art. 62d, Art. 64a, Art. 86 StGB) bedeutsam sein.[5] Urwyler et al., Rz. 356; Noll, 1.

Diese Eingriffe lassen sich nur legitimieren, wenn sie sich auf wissenschaftliche Evidenz abstützen, die einen hinreichenden Standard aufweist.[6]Urwyler et al., Rz. 357. Eine der zentralen Fragen für die richterliche Prüfung der Qualität eines forensischen Gutachtens ist denn auch, ob von der Fachperson eine Basisrate genannt wurde.[7]Urwyler et al., Rz. 349.

Albrecht et al. argumentieren in ihrem Beitrag aus dem Blickwinkel der Methodologie. Es ergeben sich aus der Verwendung von Basisraten aber auch verschiedene juristische Fragen, die in den folgenden Kapiteln diskutiert werden. Zudem ist es für eine zielführende Weiterentwicklung des Feldes zentral, die Vorschläge und Überlegungen aus psychologisch-methodischer Perspektive hinsichtlich ihrer juristischen Auswirkungen einzuordnen und zu spezifizieren.

II. Kunstgerechte Risikoeinschätzungen gemäss Lehre und Rechtsprechung

Das Bundesgericht anerkennt in seiner Rechtsprechung, dass bei der forensisch-psychiatrischen Begutachtung im Grundsatz Methodenfreiheit besteht. Die Wahl der Methode muss aber begründet sein. Die wissenschaftlichen Standards müssen eingehalten und die Schlussfolgerungen transparent sowie für die Verfahrensbeteiligten nachvollziehbar dargestellt werden.[8]vgl. Urteil des Bundesgerichts 6B_828/2018 vom 05. Juli 2019 E. 6.4; BGE 128 I 81 E. 2 S. 85; Urteil des Bundesgerichts 6B_304/2015 vom 14. September 2015 E. 2.4. Der Sachverständige hat sich fassbar dazu zu äussern, ob und allenfalls welche Delikte mit wie hoher Wahrscheinlichkeit künftig zu erwarten sind. Erlaubt ein Gutachten in Bezug auf die Rückfallgefahr betreffend die Begehung einer schweren Gewaltstraftat weit auseinander liegende Interpretationen, kann aus juristischer Sicht nicht mehr von einer hinreichend bestimmten gutachterlichen Entscheidungsgrundlage im Sinne von Art. 56 Abs. 3 StGB gesprochen werden.[9]BGer 6B_828/2018 E. 6.4; Urteil des Bundesgerichts 6B_265/2015 vom 3. Dezember 2015 E. 6.3.2.

Nedopil et al. schlagen für die Risikoeinschätzung bei Straftätern und Straftäterinnen ein vierstufiges Prozedere vor. Der zentrale Gedanke dabei ist, dass die statistische Rückfallwahrscheinlichkeit der Personengruppe, zu welcher die zu untersuchende Person gehört, mit spezifischen Angaben zur betreffenden Tat resp. Person präzisiert und individualisiert wird.[10]Nedopil et al., 261 ff.; Dabei besteht idealerweise kein grundsätzlicher Unterschied zwischen statistischen und individuellen Faktoren. Wenn man den statistischen Wert beim Individualisieren gegen … Continue reading Dabei sind Basisraten und standardisierte Risikoeinschätzungsinstrumente wichtige Mittel, um einen statistischen Anker zu setzen und das Risiko zu quantifizieren.[11]Albrecht et al., I.; Krauss/Cook/Klapatch, 532 ff.; Lehmann et al., 1661 ff. Dieser Meinung ist auch die Rechtsprechung: Basisraten liefern einen «Orientierungspunkt»[12]BGer 6B_828/2018 E. 6.4; Urteil des Bundesgerichts 6B_381/2021 vom 17. Juni 2021 E. 4.4.5; Urteil des Bundesgerichts 6B_772/2007 vom 9. April 2008 E. 4.2 f.; Urteil des Bundesgerichts … Continue reading, sie «stecken den Rahmen für die Rückfallgefahr ab»[13]BGer 6B_828/2018 E. 6.4; Urteil des Bundesgerichts 6B_257/2018, 6B_270/2018 vom 12. Dezember 2018 E. 7.6.1. Basisraten sind ausserdem zentral bei der Interpretation des Ergebnisses eines … Continue reading und sind damit zwingende Voraussetzung für die individuelle Risikoeinschätzung. Darüberhinausgehend besagen sie jedoch nichts für die Prognose im Einzelfall.[14]BGer 6B_828/2018 E. 6.4; BGer 6B_257/2018, 6B_270/2018 E. 7.6.1. Die unmittelbare Übernahme gruppenstatistischer Erkenntnisse auf den Einzelfall oder gar mechanistische Übertragung von … Continue reading

III. Justizvollzug muss auf Evidenz basieren

Staatliches Handeln – worunter auch das Einschätzen einer Rückfallprognose durch eine öffentliche oder private Fachperson fällt[15]In Lehre und Rechtsprechung wird der Begriff der «öffentlichen Aufgabe» teilweise extensiv ausgelegt im Sinn, dass er alle Aufgaben umfasst, die im öffentlichen Interesse liegen (BGE 135 II 49 … Continue reading – muss wirksam sein. Das Bedürfnis in der Gesellschaft nach Evidenzbasierung und fundierter Evaluation von staatlichem Handeln (aber auch in anderen Lebensbereichen) steigt stetig an.[16]Keller Läubli, 51; SGK BV-Uhlmann/Bussmann, Art. 170 Rz. 6; Beywl/Widmer, 13 ff. Das Handeln des Staats soll sich nicht nur durch das Gesetz legitimieren, sondern auch durch seinen Erfolg.[17]BSK BV-Lienhard/Marti Locher, Art. 170 Rz. 5; Schindler, Rz. 12; Bericht der Interdepartementalen Kontaktgruppe «Wirkungsprüfungen» an die Generalsekretärenkonferenz der Schweizerischen … Continue reading Nicht nur Rechtmässigkeit ist eine Zielsetzung des Staats, sondern auch wirkungsvolles, griffiges und effizientes Handeln,[18]Moor, 20. oder anders formuliert: «Ein ‹guter› Staat ist einer, der sich durch die Wirkungen seines Handelns legitimiert»[19]Mastronardi, 26.. Die wachsende Bedeutung des effizienten Staatshandelns zeigt sich in der Entwicklung und Anwendung einer Vielzahl neuer Instrumente zur besseren Planung, Umsetzung und Überprüfung staatlicher Massnahmen: So werden die frühere qualitative Berichterstattung und Statistiken mit integrierten Planungsinstrumenten, Leistungskennzahlen, New Public Management, Controlling und Monitoring sowie empirischen Evaluationen ergänzt.[20]BSK BV-Lienhard/Marti Locher, Art. 170 Rz. 5; SGK BV-Uhlmann/Bussmann, Art. 170 Rz. 7; Mastronardi, 26.

Eine zentrale Bestimmung zur Kontrolle effizienten staatlichen Handelns auf Bundesebene stellt Art. 170 BV[21]Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV, SR 101). dar: «Die Bundesversammlung sorgt dafür, dass die Massnahmen des Bundes auf ihre Wirksamkeit überprüft werden». Diese Bestimmung verleiht der Wirksamkeitsüberprüfung ein stärkeres politisches Gewicht und höhere Legitimität.[22]Interdepartementale Kontaktgruppe «Wirkungsprüfungen», Bericht zur Wirksamkeit von Bundesmassnahmen 2004, 10. «Die Evaluationsdisziplin nimmt Partei in der Auseinandersetzung um die Legitimation … Continue reading Von Art. 170 werden jegliches Handeln und jegliche Tätigkeit von Bundesorganen und von weiteren Organen erfasst, welche Massnahmen des Bundes umsetzen oder vollziehen, somit auch jegliches Handeln von kantonalen Behörden oder von Privaten, die mit der Erfüllung von Bundesaufgaben betraut sind.[23]Mader, 30. Auf kantonaler Ebene besteht in verschiedenen Kantonsverfassungen eine vergleichbare Regelung (vgl. z.B. Art. 27 Abs. 2 KV AR, § 16 KV BS, Art. 151 KV GE, Art. 78 KV GR, § 15 KV LU, Art. 30 KV SG, Art. 55 Abs. 3 KV SH)[24]Verfassung des Kantons Appenzell A.Rh. vom 30. April 1995 (KV AR, bGS 111.1); Verfassung des Kantons Basel-Stadt vom 23. März 2005 (KV BS, SG 111.100); Constitution de la République et canton de … Continue reading.[25]SGK BV-Uhlmann/Bussmann, Art. 170 Rz. 5; BSK BV-Lienhard/Marti Locher, Art. 170 Rz. 8. Im Kanton Zürich lautet Art. 95 Abs. 2 der Kantonsverfassung[26]Verfassung des Kantons Zürich vom 27. Februar 2005 (KV ZH, LS 101).: «Kanton und Gemeinden stellen sicher, dass die öffentlichen Aufgaben wirkungsvoll, wirtschaftlich, nachhaltig und von der geeigneten Trägerschaft erfüllt werden». Im Zürcher Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung (JuWe) lautet zudem eines der fünf Strategieziele: «Wir tun, was wirkt»[27]Vgl. dazu die Gliederung des Jahresberichts 2024 der Abteilung Forschung und Entwicklung, abrufbar unter … Continue reading, womit sich das JuWe unmissverständlich zur Evidenzorientierung bekennt.

Es ist in der Lehre umstritten, inwiefern sich aus Art. 170 resp. den entsprechenden Normen in den Kantonsverfassungen auch ein generelles Prinzip der Wirksamkeit staatlichen Handelns ergibt.[28]Hofstetter, Rz. 525 f.; Bürki, 122 ff.; SGK BV-Uhlmann/Bussmann, Art. 170 Rz. 30 ff. Selbst wenn man der Ansicht ist, dass sich das Gebot der Wirksamkeit des staatlichen Handelns nicht direkt aus Art. 170 BV resp. den entsprechenden Normen in den Kantonsverfassungen ableiten lässt, ergibt es sich aus dem Prinzip des öffentlichen Interesses gemäss Art. 5 Abs. 2 und Art. 36 Abs. 2 BV, ausserdem aus dem Gebot der Rechtsgleichheit nach Art. 8 Abs. 1 BV sowie aus Bestimmungen, die zur rationalen Erfüllung von Staatsaufgaben verpflichten, wie das Willkürverbot nach Art. 9 BV, aber auch aus der Verpflichtung zur Grundrechtsverwirklichung nach Art. 35 BV.[29]Uhlmann, Rz. 385 f.; SGK BV-Uhlmann/Bussmann, Art. 170 Rz. 32; Hofstetter, 527 f.; BSK BV-Lienhard/Marti Locher, Art. 170 Rz. 6. Weiter existieren zahlreiche Soft-Law-Quellen (Europäische Strafvollzugsgrundsätze, Mandela-Rules, Beijing-Rules), die auch im Bereich des Justizvollzugs evidenzbasierte Methoden verlangen.[30]Vgl. Noll et al., 117 f.; Empfehlung des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze vom 1. Juli 2020, Rec(2006)2-rev, Empfehlung 91; United Nations … Continue reading

Im Justizvollzug steckt das Paradigma der Evidenzorientierung noch in Kinderschuhen. Die (in der Schweiz vorerst einmalige) Schaffung einer Hauptabteilung für Forschung und Entwicklung in einem Justizvollzugsamt[31]Vgl. hierzu die Website der Abteilung, abrufbar unter <https://www.zh.ch/de/direktion-der-justiz-und-des-innern/justizvollzug-wiedereingliederung.html>. ist aber ein klares Zeichen der Justizdirektion des Kantons Zürich für die Evidenzorientierung im Strafvollzug.[32]Noll et al., 119 f. Wie im vorangehenden Kapitel und insb. im Beitrag von Albrecht et al. aufgezeigt, ist eine – möglichst spezifische und robuste – Basisrate die obligatorische Grundlage für das evidenzorientierte, wirksame Handeln im Bereich des Risk-Assessments.[33]Vgl. Albrecht et al., III.

IV. Weitere Rechtsgrundlagen

Neben der Tatsache, dass sich der Staat bei seinem Handeln an empirischer Evidenz orientieren muss, lässt sich die Notwendigkeit zuverlässiger Basisraten an weiteren Grundsätzen und Normen festmachen. So kann ohne zuverlässige Basisrate dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf eine faire Behandlung vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen (Art. 3 StPO, Art. 29 Abs. 1 BV, Art. 6 EMRK[34]Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (EMRK, SR 0.101)., Art. 14 UNO-Pakt II[35]Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 16. Dezember 1966 (UNO-Pakt II, SR 0.103.2).) nicht Genüge getan werden. Gemäss diesem Grundsatz hat jede Person in Verfahren vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen das Recht auf gleiche und gerechte Behandlung. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) prüft jeweils, ob das Verfahren insgesamt, also einschliesslich des Beweisverfahrens, entsprechend Art. 6 EMRK fair war.[36]HK EMRK-Harrendorf/König/Voigt, Art. 6 Rz. 135; EGMR, Urteil vom 27. Oktober 1993 in der Rechtssache 14448/88 – Dombo Beheer B.V./Niederlande, Rz. 31; EGMR, Urteil vom 22. November 2001 in … Continue reading Auch das Fairnessgebot von Art. 29 Abs. 1 der Schweizer Bundesverfassung bezieht sich auf jeden Verfahrensabschnitt.[37]BSK BV-Waldmann, Art. 29 Rz. 17. Würde sich das Gericht auf unfundierte Beweismittel abstützen, wie ein Gutachten, das aufgrund fehlender oder unzuverlässiger Basisraten fehlerhaft ist, könnte der Anspruch auf ein faires Verfahren verletzt werden.

Weiter haben Basisraten beispielsweise bei der Anordnung von Untersuchungshaft aufgrund der in der Risikoeinschätzung festgestellten Rückfall- oder Ausführungswahrscheinlichkeit[38]Art. 221 Abs. 1 lit. c resp. Art. 221 Abs 2 StPO. einen direkten Einfluss auf andere Grundrechte des Beschuldigten, in erster Linie die Fortbewegungsfreiheit.[39]BSK StPO/JStPO-Fabbri/Hofer, Art. 212 Rz. 3. Wenn die Hinderung am Wegbewegen einer Person nicht nur Minuten, sondern Stunden dauert, liegt ein Freiheitsentzug gemäss Art. 31 BV (und Art. 5 EMRK) und nicht nur eine Beschränkung der Bewegungsfreiheit nach Art. 10 Abs 2 BV vor.[40]Für Tschentscher liegt die Grenze bei «etwa vier Stunden» (BSK BV-Tschentscher, Art. 10 Rz. 64). Darunter fallen unter anderem die Massnahmen der fürsorgerischen Unterbringung, der strafrechtliche Freiheitsentzug, die Untersuchungshaft, die Sicherheitshaft und die ausländerrechtliche Administrativhaft,[41]BSK BV-Schürmann, Art. 31 Rz. 10; BSK BV-Tschentscher, Art. 10 Rz. 64. in einem weiteren Sinn aber auch beispielsweise die zusätzliche Anordnung der Verwahrung statt lediglich einer Freiheitsstrafe – zumindest ab dem Zeitpunkt, in dem die Freiheitsstrafe verbüsst ist und die Massnahme nur noch der Sicherung einer Person dient, die in einer Risikoeinschätzung weiterhin als gefährlich eingestuft wurde.

Art. 29 und 31 BV sind Grundrechte. Der Staat ist verpflichtet, sich an die Grundrechte zu halten (Art. 35 BV). Dies gilt auch im Zusammenhang mit hoheitlichen Handlungen wie beispielsweise der Anordnung von Untersuchungshaft bei einem als rückfallgefährlich oder ausführungsgefährlich eingeschätzten Beschuldigten.[42]Gemäss Art. 35 Abs. 1 BV müssen die Grundrechte «in der ganzen Rechtsordnung» zur Verwirklichung gelangen. Es gibt kein Rechtsgebiet, das sich der Verpflichtungskraft der Grundrechte gänzlich … Continue reading Damit ein Eingriff in Grundrechte gerechtfertigt ist, müssen die Voraussetzungen von Art. 36 BV erfüllt sein: Der Grundrechtseingriff muss auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen, verhältnismässig sein, und der Kerngehalt des eingeschränkten Grundrechts muss gewahrt bleiben.[43]BSK BV-Epiney, Art. 36 Rz. 8 ff.; SGK BV-Schweizer/Krebs, Art. 36 Rz. 2 ff. Von Relevanz ist im vorliegenden Kontext v.a. die Prüfung der Verhältnismässigkeit des Eingriffs: So stellt sich anlässlich der Verfügung der Untersuchungshaft die Frage, wie gross die Rückfallwahrscheinlichkeit resp. das Ausführungsrisiko ist. Dabei geht es um die Abwägung zwischen Freiheitsrechten des Beschuldigten und öffentlicher Sicherheit.[44]Urwyler et al., Rz. 406. Die Rückfallwahrscheinlichkeit, deren Berechnung bei der Basisrate beginnt, steht in einem direkten Zusammenhang mit der öffentlichen Sicherheit. Erst wenn die Rückfallwahrscheinlichkeit einen bestimmten normativen Wert übersteigt, ist das Interesse der Gesellschaft an öffentlicher Sicherheit schwerer zu gewichten als die Freiheitsrechte des Beschuldigten, oder, umgekehrt formuliert: Das Restrisiko muss vertretbar sein.[45]Boetticher et al., Rahmenbedingungen, 306.

Aus dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit nach Art. 5 Abs. 2 und Art. 36 Abs. 3 BV kann somit ein verfassungsrechtliches Individualisierungsgebot abgeleitet werden, denn erst mit der präzisen und individuellen Quantifizierung der Rückfallwahrscheinlichkeit lässt sich feststellen, ob die durch die Haft entstehenden Grundrechtseingriffe verhältnismässig und somit gerechtfertigt sind.[46]Urwyler et al., Rz. 449. Da die Bestimmung der Basisrate den ersten Schritt der individuellen Risikoquantifizierung darstellt und damit integraler Bestandteil von ihr ist, lässt sich aus dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit auch ein Anspruch auf Beizug korrekter Basisraten bei Risikoeinschätzungen ableiten.

Neben den Abwehrrechten im Rahmen der Grundrechte bestehen ebenso positive Leistungspflichten des Staats, beispielsweise gegenüber potenziellen Opfern: Der EGMR hatte 2021 in einem Fall zu urteilen, bei dem ein Vater seinen Sohn getötet hat, nachdem er durch die Mutter wegen diversen Gewaltdelikten angezeigt worden war. Der EGMR folgte der Auffassung der Mutter, dass die österreichischen Behörden ihre Kinder nicht genügend geschützt hätten. Es gehöre zur positiven Leistungspflicht der Behörden, in einem solchen Fall das drohende Gewaltrisiko auf evidenzbasierte Weise proaktiv zu beurteilen.[47]Noll et al., 119; EGMR, Urteil vom 15. Juni 2021 in der Rechtssache 62903/15 – Kurt/Österreich, insb. Rz. 168 ff. Auch in der Vollzugsgestaltung inhaftierter Personen – etwa im Zusammenhang mit Vollzugslockerungen – ist die kontinuierliche, evidenzbasierte Risikoeinschätzung Pflicht des Staats.[48]Noll et al., 119.

V. Zum Trade-off zwischen Spezifität und Robustheit

Im Beitrag von Albrecht et al. wurde auf den Konflikt zwischen Spezifität und Robustheit von Basisraten hingewiesen: Damit die Basisraten statistisch robust sind, muss die der Basisrate zugrundeliegende Stichprobe gross genug sein. Gleichzeitig sollte die Stichprobe möglichst spezifisch jene Population repräsentieren, die bei der Risikoeinschätzung von Interesse ist. Dieser Konflikt kann anhand von vergleichsweise seltenen Delikten gut illustriert werden: Optimalerweise hätte man für die Risikoeinschätzung einer Person mit einem Tötungsdelikt robuste Basisraten für den spezifischen Rückfall Tötungsdelikt. Da ein Rückfall mit einem Tötungsdelikt allerdings nur selten vorkommt, ist das Kriterium der Robustheit schwer erfüllbar. Das Problem dabei ist, dass kleine Stichproben sehr anfällig für Ausreisser sind (d.h. Einzelfälle fallen überproportional stark ins Gewicht). Um diesem Problem entgegenzuwirken, schlagen Albrecht et al. verschiedene Möglichkeiten zur Erweiterung der Referenzpopulation vor.[49]Albrecht et al., IV. Einzelne davon werden hier aus juristischer Perspektive diskutiert.

Die Verwendung von Anzeigen oder noch nicht rechtskräftigen Verurteilungen anstatt rechtskräftigen Verurteilungen: Das frühere Ansetzen im Strafverfahren führt zu grösseren Stichproben. Gemäss Albrecht et al. kann bei Delikten mit niedriger Verurteilungsquote in Betracht gezogen werden, bereits auf früheren Stufen anzusetzen. Bei häuslicher Gewalt sei die Mehrzahl der Fälle nur auf der Stufe der polizeilichen Anzeigen zu finden.[50]Albrecht et al., IV lit. C. Bei diesem Vorgehen stellt sich die Frage, was eingeschätzt werden soll. In aller Regel wird dies nicht die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Anzeige gegen eine Beschuldigte oder einen Straftäter sein, sondern die Wahrscheinlichkeit, dass er oder sie rückfällig wird – zumindest bei Begutachtungen, die von der Staatsanwaltschaft, vom Gericht oder von der Vollzugsbehörde in Auftrag gegeben worden sind. Erst bei einer rechtskräftigen Verurteilung kann rechtstaatlich von einem Rückfall gesprochen werden.[51]Vgl. Art. 10 StPO (Unschuldsvermutung); SK StPO-Wohlers, Art. 10 Rz. 2, 16 f.; EGMR, Urteil vom 14. März 2019 in der Rechtssache 35726/10 – Kangers/Lettland, Rz. 61; daran orientiert sich … Continue reading Unter dieser Voraussetzung ist die Ausweitung auf Anzeigen auf der Ebene der Referenz wie auch des Outcomes problematisch, weil so nicht-relevante, möglicherweise falsch-positive Probanden zur Stichprobe hinzukommen (Nichtanhandnahmen, Einstellungen, Freisprüche). Es führen bei Weitem nicht alle Anzeigen zu einer Verurteilung,[52]So wurden 2023 durch die zürcherische Staatsanwaltschaft 51% der Verfahren eingestellt oder sistiert (Jahresbericht der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich von 2023 vom April 2024, 25) und durch … Continue reading und nicht alle Verurteilungen erwachsen in Rechtskraft.[53]Wird gegen ein Urteil Berufung eingelegt, wird das Eintreten der Rechtskraft nach Art. 402 StPO aufgeschoben; vgl. auch Art. 354 Abs. 3 und 437 StPO e contrario. Rechtstaatlich kann trotz unterschiedlich grosser Dunkelziffer nicht schon bei Anzeigen, sondern grundsätzlich nur bei rechtskräftigen Verurteilungen von einer tatsächlichen Tatbegehung gesprochen werden,[54]Siehe oben, Fn. 51. was gerade bei einem späteren Freispruch augenscheinlich ist. Eine strafprozessuale Konsequenz der genannten Strategie wäre, dass bei Personen, bei denen das so entstandene Modell angewendet würde, die Rückfallwahrscheinlichkeiten überschätzt würden. Dies könnte einen Verstoss gegen das Recht auf prozedurale Gerechtigkeit[55]BSK BV-Waldmann, Art. 29 Rz. 9. (Art. 29 BV, Art. 6 EMRK, Art. 14 UNO-Pakt II) und, wenn aus der ungenauen Legalprognose eine Inhaftierung resultiert, eine Verletzung von Art. 31 (Schutz vor unrechtmässigem Freiheitsentzug) darstellen. Anders sähe es aus, wenn man – etwa aufgrund einer wissenschaftlichen Fragestellung – bei der Risikobeurteilung die Wahrscheinlichkeit einschätzen wollte, dass es zu einer erneuten Anzeige oder zu einer erstinstanzlichen Verurteilung der betroffenen Person kommt.

Beim früheren Ansetzen im Strafverfahren ist ein weiteres Problem vorstellbar: In den USA gibt es Hinweise, dass beim Anzeigeverhalten (wie auch bei Verhaftungen) Vorurteile eine grosse Rolle spielen. So werden beispielsweise Afroamerikaner überproportional angezeigt.[56]Beck, 1 f.; weiterführend: Western et al., insb. 58, 64 f., 112 f. Eine ähnliche Tendenz – wenn auch wahrscheinlich in geringerem Ausmass und bei anderen Minoritäten als in den USA – ist auch in der Schweiz erkennbar.[57]In einer Befragung zur Kriminalität in der Schweiz von 2019 wurde u.a. die Anzeigerate bei Körperverletzungsdelikten untersucht. Dabei zeigte sich, dass Täter oder Täterinnen mit vermutetem … Continue reading Das kann je nach Ausgestaltung der statistischen Kriterien im Modell dazu führen, dass sich die Diskriminierung im Anzeigeverhalten auf die Risikoeinschätzung überträgt, was zusätzlich zu den oben genannten Grundrechten als Verstoss gegen das grundrechtliche Diskriminierungsverbot nach Art. 8 BV und Art. 14 EMRK gewertet werden könnte.

Insgesamt muss also im Einzelfall kritisch reflektiert werden, ob ein früheres Ansetzen im Strafverfahren unproblematisch und juristisch zulässig ist.

Das Clustern von Deliktarten resp. -kategorien: Damit können ebenfalls grössere Stichproben geschaffen werden. Aus juristischer Perspektive ergeben sich aber auch bei diesem Vorgehen einige Herausforderungen, die bei einer entsprechenden Umsetzung beachtet werden müssen. Wie Albrecht et al. anmerken, leidet «naturgemäss das Geeignetheitskriterium der Spezifität für ein Delikt»[58]Albrecht et al., IV lit. B. unter dieser Strategie. Das Gesetz sagt zwar nichts zur Frage, welches Delikt erwartet werden muss, um von Rückfallgefahr sprechen zu können,[59]Auch zum Ausmass der Rückfallwahrscheinlichkeit, das erreicht werden muss, um von «Rückfallgefahr» im Rechtssinn sprechen zu können, äussert sich das Gesetz nicht. In der Botschaft wurde … Continue reading und das Bundesgericht äussert dahingehend nur, dass sich die sachverständige Person «hinreichend fassbar dazu zu äussern» hat, «ob und allenfalls welche Delikte mit wie hoher Wahrscheinlichkeit künftig zu erwarten sind»[60]BGer 6B_828/2018 E. 6.4.. Nicht viel konkreter sind auch die viel zitierten und in der forensischen Praxis oft konsultierten Empfehlungen von Boetticher et al. Sie halten mit Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts fest, dass die von der begutachteten Person ausgehende Gefahr «hinreichend konkretisiert werden» müsse, namentlich seien «die Wahrscheinlichkeit weiterer rechtswidriger Taten und deren Deliktstypus substantiiert darzulegen»[61]Boetticher et al., Rahmenbedingungen, 313; BVerfG, Beschluss vom 17. Februar 2014 in der Rechtssache – 2 BvR 1795/12, Rz. 40; BVerfG, Beschluss vom 23. Mai 2018 in der Rechtssache – 2 BvR … Continue reading.

Trotz diffuser Formulierungen in Gesetz, Rechtsprechung und Lehre erscheint klar, dass bei Personen, die eines schweren Delikts (z.B. Gewalt- oder Sexualstraftat) beschuldigt werden, nicht die Rückfallgefahr mit einem Bagatelldelikt ausreichen kann, um strafprozessuale Zwangsmassnahmen wie beispielsweise die Untersuchungshaft zu rechtfertigen. Nur die (je nach Sachverhalt unterschiedlich grosse) Aussicht auf schwere Delikte kann hier genügen.[62]Bei der Anordnung von Untersuchungs- oder Sicherheitshaft bei Wiederholungsgefahr gilt gemäss Bundesgericht: «Bei den in Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO verlangten Vortaten muss es sich um … Continue reading In der Praxis hat sich die «Einschlägigkeit» der Delikte als Referenz etabliert, also die Klassifizierung nach Deliktkategorie.[63]Vgl. zur Einschlägigkeit das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich SB230204 vom 25. März 2024 E VI.2.2 («die Gleichartigkeit der Delinquenz», «Straftat gegen dasselbe oder ähnliche … Continue reading Um von relevanter Rückfallwahrscheinlichkeit sprechen zu können, müsste es sich beim Outcome-Delikt um ein Delikt derselben Deliktkategorie handeln.[64]Beispielsweise gemäss den Titeln des Schweizerischen Strafgesetzbuchs, also z.B. Vermögensdelikte, Delikte gegen Leib und Leben, Delikte gegen die sexuelle Integrität etc. Ein weiterer gangbarer Weg wäre die Unterscheidung in weniger schwere, gleich schwere und schwerere Delikte als das Ursprungs- resp. Referenzdelikt. Das ist der Weg, den das Bundesamt für Statistik oft wählt.[65]Strafurteilsstatistik, 2018, 11. Damit wird immerhin eine krasse Diskrepanz zwischen Referenz- und Outcome-Delikt vermieden. Diesen Aspekten muss sowohl aus fachlicher als auch aus juristischer Perspektive beim Aggregieren von verschiedenen Deliktarten Rechnung getragen werden.

Die Verlängerung des Follow-up-Zeitraums (time-at-risk): Es liegt auf der Hand, dass sich damit die Anzahl der rückfällig Gewordenen in der Referenzpopulation erhöht. Das Gesetz sagt nichts zur Frage, wie lang dieser Zeitraum sein muss. Das Rückfallrisiko eines Straftäters wird aus einer Zusammensetzung diverser heterogener Faktoren (Anlasstat, antisoziale Kognitionen, psychische Störungen, Substanzgebrauch, kriminelles Umfeld etc.) abgeleitet, die ausser Deliktbegehungsrisiko und zu erwartender Deliktskategorie (Verbrechen, Vergehen, Übertretungen) nicht abschliessend durch das Recht beschrieben sind.[66]Urwyler et al., Rz. 258. Es ist aber offensichtlich, dass mit zunehmender Dauer der time-at-risk immer weitere Faktoren im Leben eines Straftäters dazukommen, die einen Einfluss auf die Rückfälligkeit haben können. Je länger die time-at-risk, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass neuartige Risiko- wie auch protektive Faktoren (Schutzfaktoren) hinzukommen, die nur für einzelne Personen relevant sind und zum Zeitpunkt der Prognose nicht vorhersehbar waren. Mit zunehmender Beobachtungsdauer sinkt damit die Aussagekraft der Prognose. Das BGer sagt denn auch: «die Möglichkeiten der wissenschaftlichen Vorhersage menschlichen Verhaltens allgemein sind begrenzt und nur für überschaubare Zeiträume möglich»,[67]Urteil des Bundesgerichts 6B_1343/2017 vom 9. April 2018 E. 2.6. ohne dies näher zu definieren. In der Praxis dürfte ein Zeitraum von einem bis max. drei Jahren vertretbar sein. Zeiträume von bis zu zwölf Monaten können von gut geschulten Experten angemessen beurteilt werden.[68]Nedopil et al., 240. Fünf Jahre sind aus prognostischer Sicht eine sehr lange Dauer, welche die Individualisierung verunmöglichen kann, indem man sich nur noch auf epidemiologische Daten und eine Risikogruppenbeurteilung abstützen kann (d.h. wie entwickelt sich eine Person mit diesem Risikoprofil im Durchschnitt).[69]Urwyler et al., Rz. 506. Ausserdem sollten sich die Basisraten (der Referenzpopulation) und der Zeitraum der prognostischen Aussage auf einen vergleichbaren Zeitraum beziehen – sonst käme es zu einer Einbusse an Kongruenz zwischen Referenz- und Outcome-Population, die eine Reduktion der Spezifität der Basisratebewirken würde.

VI. Fazit

Von der forensisch-psychiatrischen oder -psychologischen Fachperson wird verlangt, dass sie sich in ihrem Gutachten hinreichend bestimmt dazu äussert, wie das konkrete Risiko in quantitativer wie auch qualitativer Hinsicht beschaffen ist.[70]Urwyler et al., Rz. 33. Dieser Prozess ist ohne zuverlässige Basisrate nicht evidenzbasiert durchführbar. Damit ist die jeweilige Basisrate unverzichtbarer Bestandteil der Einschätzung des Rückfallrisikos bei Straftätern, was seinerseits als staatliche Handlung zu werten ist.[71]Rütsche, 162; Häsler, 71 ff.; BGE 137 V 210 E. 2.4.3 S. 239. Staatliches Handeln muss sich an der empirischen Evidenz orientieren.[72]Moor, 20; Mastronardi, 26; Art. 170 BV; Art. 95 Abs. 2 KV ZH. Dieses Gebot ergibt sich aus dem Prinzip des öffentlichen Interesses, der Rechtsgleichheit sowie aus Bestimmungen, die zur rationalen Erfüllung von Staatsaufgaben verpflichten, wie etwa dem Willkürverbot. Es existieren auch zahlreiche Soft-Law-Quellen (Europäische Strafvollzugsgrundsätze, Mandela-Rules, Beijing-Rules), die im Bereich des Justizvollzugs evidenzbasierte Methoden stipulieren.

Neben der Tatsache, dass sich der Staat bei seinem Handeln an empirischer Evidenz orientieren muss, lässt sich die Notwendigkeit zuverlässiger Basisraten an weiteren Grundsätzen und Normen festmachen. So kann ohne zuverlässige Basisrate dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf eine faire Behandlung vor Gerichts- und Verwaltungsinstanzen nicht genüge getan werden. Weiter stellt der Freiheitsentzug eines Straftäters nach Art. 31 BV eine Grundrechtseinschränkung dar. Ein Eingriff in die Grundrechte ist nur rechtmässig, wenn er verhältnismässig ist.[73]Art. 36 BV; SGK BV-Schweizer/Krebs, Art. 36 Rz. 52 ff. Bei der Prüfung der Erforderlichkeit des Eingriffs (als Teilaspekt der Verhältnismässigkeit) ist die Gefährlichkeit der betreffenden Person ein wesentliches Element. Ohne zuverlässige Basisrate lässt sich die Gefährlichkeit nicht evaluieren und gegen die Freiheitsrechte des Betroffenen abwägen.

Im vorliegenden Kontext spielen aber nicht nur die Abwehrrechte im Rahmen von Grundrechten eine Rolle, sondern auch positive Leistungspflichten des Staats gegenüber potenziellen Opfern: Gemäss EGMR gehört zur positiven Leistungspflicht der Behörden, in bestimmten Situationen das Gewaltrisiko einer Person auf evidenzbasierte Weise proaktiv zu beurteilen,[74]Noll et al., 119; EGMR, Urteil vom 15.. Juni 2021 in der Rechtssache 62903/15 – Kurt/Österreich, insb. Rz. 168 ff. womit die Wichtigkeit korrekter Basisraten wiederum aufgezeigt wird.

Im Beitrag von Albrecht et al. werden verschiedene Strategien aufgezeigt, um in einem kleinen Land wie der Schweiz, wo die Bevölkerung gering und die Kriminalitätsrate tief ist, mit dem Konflikt zwischen Spezifität und Robustheit von Basisraten umzugehen. Genannt werden u.a. die Verwendung von Anzeigen oder noch nicht rechtskräftigen Verurteilungen anstatt rechtskräftigen Verurteilungen, das Clustern von Deliktarten resp. -kategorien sowie die Erhöhung des Follow-up-Zeitraums (time-at-risk).[75]Albrecht et al., IV.

Bei allen Strategien müssen auch aus juristischer Perspektive Herausforderungen berücksichtigt werden, insbesondere, um eine krasse Diskrepanz zwischen Referenz- und Zielpopulation zu vermeiden. Dies könnte andernfalls einen Verstoss gegen das Recht auf prozedurale Gerechtigkeit und das Diskriminierungsverbot sowie eine Verletzung des Schutzes vor unrechtmässigem Freiheitsentzug darstellen.

Diese Ausgangslage indiziert die Notwendigkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit bezüglich der Frage, wie sowohl wissenschaftlichen als auch rechtlichen Standards angemessen Rechnung getragen werden kann, wenn Referenzpopulationen für adäquate Basisraten zu erweitern sind.

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Fussnoten

Fussnoten
1 Pressemitteilung Nr. 88/2024 des Bundesjustizministers Dr. Marco Buschmann vom 17. Oktober 2024 <https://www.bmj.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2024/1017_StrafStatG.html>.
2 Albrecht et al., I. Daneben – was aber nicht Gegenstand dieses Beitrags ist – werden Basisraten für eine Reihe weiterer Zwecke benötigt, etwa zur Überprüfung, ob mit einer bestimmten Strafe ihr spezialpräventives Ziel überhaupt erreicht wird, oder zur Untersuchung der Wirksamkeit etablierter Vollzugsgestaltungen (Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz, Entwurf eines Gesetzes über die Statistiken der Strafrechtspflege des Bundes, 19 <https://www.bmj.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/2024_StrafStatG.html>). Basisraten sind somit ein wichtiges Instrument der Strafrechtspolitik.
3 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung, StPO, SR 312).
4 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 (Strafgesetzbuch, StGB, SR 311).
5 Urwyler et al., Rz. 356; Noll, 1.
6 Urwyler et al., Rz. 357.
7 Urwyler et al., Rz. 349.
8 vgl. Urteil des Bundesgerichts 6B_828/2018 vom 05. Juli 2019 E. 6.4; BGE 128 I 81 E. 2 S. 85; Urteil des Bundesgerichts 6B_304/2015 vom 14. September 2015 E. 2.4.
9 BGer 6B_828/2018 E. 6.4; Urteil des Bundesgerichts 6B_265/2015 vom 3. Dezember 2015 E. 6.3.2.
10 Nedopil et al., 261 ff.; Dabei besteht idealerweise kein grundsätzlicher Unterschied zwischen statistischen und individuellen Faktoren. Wenn man den statistischen Wert beim Individualisieren gegen unten oder oben korrigiert, so tut man dies im besten Fall mit individuellen (Risiko- oder protektiven) Faktoren, die auch statistisch erhärtet sind. Individuelle Faktoren dürfen trotz ihrer «Individualität» nicht auf einem reinem Bauchgefühl der sachverständigen Person gründen. Umgekehrt wird ein statistisches Instrument mit wachsender Anzahl von Items zunehmend individuell. Damit ist die Grenze zwischen statistischen und individuellen Faktoren fliessend und auch nicht in jedem Fall klar identifizierbar. Aus dieser Tatsache ergeben sich Parallelen zu einer Regel, die im Rahmen der Strafzumessung als Doppelverwertungsverbot bezeichnet wird: Das strafrechtliche Doppelverwertungsverbot besagt, dass Umstände, die zur Anwendung eines höheren oder tieferen Strafrahmens (z.B. eines qualifizierten oder privilegierten Tatbestandes) führen, innerhalb des geänderten Strafrahmens nicht noch einmal als Straferhöhungs- oder Strafminderungsgrund berücksichtigt werden dürfen, weil dem Täter sonst der gleiche Umstand zweimal zur Last gelegt oder zugutegehalten würde (BGE 142 IV 14 E. 5.4 S. 17 f.; BGE 141 IV 61 E. 6.1.3 S. 68, BGE 118 IV 342 E. 2.b S. 347 f.). Auf die vorliegende Thematik transferiert, bedeutet dies: Es sollten nicht die gleichen Merkmale auf der statistischen und individuellen Stufe zweimal gezählt werden, weder im belastenden noch im entlastenden Sinn. D.h. es dürfen beim Individualisieren nur (Risiko- und protektive) Faktoren berücksichtigt werden, die einen inkrementellen Wert haben. Wenn beispielsweise ein Täter bei der statistischen Prüfung mit dem aktuarischen Risk-Assessment-Instrument VRAG geprüft wird und wegen seines verhältnismässig hohen Alters beim Index-Delikt (39 Jahre und höher) einen protektiven Wert erhält, so darf der Schlusswert bei der individuellen Anpassung der statistischen Bewertung höchstens dann wegen hohen Alters des Täters weiter gesenkt werden, wenn er deutlich älter ist als die im VRAG erforderlichen 39 Jahre.
11 Albrecht et al., I.; Krauss/Cook/Klapatch, 532 ff.; Lehmann et al., 1661 ff.
12 BGer 6B_828/2018 E. 6.4; Urteil des Bundesgerichts 6B_381/2021 vom 17. Juni 2021 E. 4.4.5; Urteil des Bundesgerichts 6B_772/2007 vom 9. April 2008 E. 4.2 f.; Urteil des Bundesgerichts 6B_424/2015 vom 4. Dezember 2015 E. 3.3; Urteil des Bundesgerichts 6B_100/2017 vom 9. März 2017 E. 5.3; Urteil des Bundesgerichts 6B_582/2017 vom 19. Juni 2018 E. 2.2.6.
13 BGer 6B_828/2018 E. 6.4; Urteil des Bundesgerichts 6B_257/2018, 6B_270/2018 vom 12. Dezember 2018 E. 7.6.1. Basisraten sind ausserdem zentral bei der Interpretation des Ergebnisses eines Risikoeinschätzungsinstruments. Die Angabe zur Trennschärfe eines Instruments (AUC) ohne Berücksichtigung der Basisrate ist wenig aussagekräftig; dazu ausführlich Nedopil et al., 103 ff.
14 BGer 6B_828/2018 E. 6.4; BGer 6B_257/2018, 6B_270/2018 E. 7.6.1. Die unmittelbare Übernahme gruppenstatistischer Erkenntnisse auf den Einzelfall oder gar mechanistische Übertragung von empirischen Prognosekriterien ohne Bezugnahme auf die individuellen Risiken, Fähigkeiten, Lebenssituationen etc. führt zu Fehlern bei der Risikoeinschätzung: Boetticher et al., Prognoseinstrumente, 479.
15 In Lehre und Rechtsprechung wird der Begriff der «öffentlichen Aufgabe» teilweise extensiv ausgelegt im Sinn, dass er alle Aufgaben umfasst, die im öffentlichen Interesse liegen (BGE 135 II 49 E. 5.2.2 S. 58 f.; Müller, 66; Achermann, 46 f.), teilweise aber auch eng, sodass nur Staatsaufgaben darunterfallen (Thiébaud, 511; SHK BGÖ-Nuspliger, Art. 5 Rz. 19). Staatsaufgaben sind Aufgaben, die im Auftrag des Gesetzgebers erfüllt werden müssen, unabhängig von der Organisationsform des Aufgabenträgers (Rütsche, 162; Häsler, 71 ff.). Das Bundesgericht bezeichnete beispielsweise die Arbeit einer ärztlichen Begutachtungsstelle als öffentliche Aufgabe (BGE 137 V 210 E. 2.4.3 S. 239).
16 Keller Läubli, 51; SGK BV-Uhlmann/Bussmann, Art. 170 Rz. 6; Beywl/Widmer, 13 ff.
17 BSK BV-Lienhard/Marti Locher, Art. 170 Rz. 5; Schindler, Rz. 12; Bericht der Interdepartementalen Kontaktgruppe «Wirkungsprüfungen» an die Generalsekretärenkonferenz der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Wirksamkeit von Bundesmassnahmen – Vorschläge zur Umsetzung von Artikel 170 der Bundesverfassung bei Bundesrat und Bundesverwaltung vom 14. Juni 2004, 2.
18 Moor, 20.
19 Mastronardi, 26.
20 BSK BV-Lienhard/Marti Locher, Art. 170 Rz. 5; SGK BV-Uhlmann/Bussmann, Art. 170 Rz. 7; Mastronardi, 26.
21 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV, SR 101).
22 Interdepartementale Kontaktgruppe «Wirkungsprüfungen», Bericht zur Wirksamkeit von Bundesmassnahmen 2004, 10. «Die Evaluationsdisziplin nimmt Partei in der Auseinandersetzung um die Legitimation des Staates, indem sie einen bestimmten Typus von Legitimation zum massgeblichen Kriterium ihrer Arbeit macht, nämlich den Typus der Wirkungsorientierung» (Mastronardi, 26).
23 Mader, 30.
24 Verfassung des Kantons Appenzell A.Rh. vom 30. April 1995 (KV AR, bGS 111.1); Verfassung des Kantons Basel-Stadt vom 23. März 2005 (KV BS, SG 111.100); Constitution de la République et canton de Genève vom 14. Oktober 2012 (Cst-GE/KV GE, rsGE A 2 00); Verfassung des Kantons Graubünden vom 14. September 2003 (KV GR, BR 110.100); Verfassung des Kantons Luzern vom 17. Juni 2007 (KV LU, SRL Nr. 1); Verfassung des Kantons St.Gallen vom 10. Juni 2001 (KV SG, sGS 111.1); Verfassung des Kantons Schaffhausen vom 17. Juni 2002 (KV SH, SHR 101.000).
25 SGK BV-Uhlmann/Bussmann, Art. 170 Rz. 5; BSK BV-Lienhard/Marti Locher, Art. 170 Rz. 8.
26 Verfassung des Kantons Zürich vom 27. Februar 2005 (KV ZH, LS 101).
27 Vgl. dazu die Gliederung des Jahresberichts 2024 der Abteilung Forschung und Entwicklung, abrufbar unter <https://www.zh.ch/content/dam/zhweb/bilder-dokumente/organisation/direktion-der-justiz-und-des-innern/juwe/fe/fe-jahresbericht-2024.pdf>.
28 Hofstetter, Rz. 525 f.; Bürki, 122 ff.; SGK BV-Uhlmann/Bussmann, Art. 170 Rz. 30 ff.
29 Uhlmann, Rz. 385 f.; SGK BV-Uhlmann/Bussmann, Art. 170 Rz. 32; Hofstetter, 527 f.; BSK BV-Lienhard/Marti Locher, Art. 170 Rz. 6.
30 Vgl. Noll et al., 117 f.; Empfehlung des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze vom 1. Juli 2020, Rec(2006)2-rev, Empfehlung 91; United Nations Standard Minimum Rules for the Administration of Juvenile Justice (The Beijing Rules) vom 29. November 1985, General Assembly A/RES/40/33, Regel 30; The United Nations Standard Minimum Rules for the Treatment of Prisoners (The Nelson Mandela Rules) vom 17. Dezember 2015, General Assembly A/RES/70/175, Regeln 10 und 75 Ziff. 2.
31 Vgl. hierzu die Website der Abteilung, abrufbar unter <https://www.zh.ch/de/direktion-der-justiz-und-des-innern/justizvollzug-wiedereingliederung.html>.
32 Noll et al., 119 f.
33 Vgl. Albrecht et al., III.
34 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (EMRK, SR 0.101).
35 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 16. Dezember 1966 (UNO-Pakt II, SR 0.103.2).
36 HK EMRK-Harrendorf/König/Voigt, Art. 6 Rz. 135; EGMR, Urteil vom 27. Oktober 1993 in der Rechtssache 14448/88 – Dombo Beheer B.V./Niederlande, Rz. 31; EGMR, Urteil vom 22. November 2001 in der Rechtssache 39799/98 – Volkmer/Deutschland, Rz. 4.
37 BSK BV-Waldmann, Art. 29 Rz. 17.
38 Art. 221 Abs. 1 lit. c resp. Art. 221 Abs 2 StPO.
39 BSK StPO/JStPO-Fabbri/Hofer, Art. 212 Rz. 3.
40 Für Tschentscher liegt die Grenze bei «etwa vier Stunden» (BSK BV-Tschentscher, Art. 10 Rz. 64).
41 BSK BV-Schürmann, Art. 31 Rz. 10; BSK BV-Tschentscher, Art. 10 Rz. 64.
42 Gemäss Art. 35 Abs. 1 BV müssen die Grundrechte «in der ganzen Rechtsordnung» zur Verwirklichung gelangen. Es gibt kein Rechtsgebiet, das sich der Verpflichtungskraft der Grundrechte gänzlich entziehen kann (BSK BV-Waldmann, Art. 35 Rz. 19). Die Grundrechtsverpflichtung betrifft alle Tätigkeiten, die in Wahrnehmung staatlicher Aufgaben vollzogen werden, also auch die Erstellung einer forensischen Risikoeinschätzung (vgl. für die Begutachtung in Strafverfahren im Kanton Zürich beispielsweise § 2 Verordnung über psychiatrische und psychologische Gutachten in Straf- und Zivilverfahren vom 1./8. September 2010, PPGV, LS 321.4). Organisationsform und Natur des Aufgabenträgers sind nicht entscheidend: Auf die Grundrechte verpflichtet werden Aufgabenträger aller staatlichen Ebenen (Bund, Kantone und Gemeinden) unabhängig davon, ob sie privatrechtlicher, gemischtwirtschaftlicher oder öffentlich-rechtlicher Natur sind. Was zählt ist einzig, dass sie vom Staat mit der Erfüllung staatlicher Aufgaben beauftragt worden sind und in diesem Rahmen öffentliche Gewalt ausüben oder öffentliche Funktionen wahrnehmen (BGE 118 Ia 46 E. 4.d S. 57 f.; BGE 133 I 49 E. 3.2 S. 55 ff.; BSK BV-Waldmann, Art. 35 Rz. 19).
43 BSK BV-Epiney, Art. 36 Rz. 8 ff.; SGK BV-Schweizer/Krebs, Art. 36 Rz. 2 ff.
44 Urwyler et al., Rz. 406.
45 Boetticher et al., Rahmenbedingungen, 306.
46 Urwyler et al., Rz. 449.
47 Noll et al., 119; EGMR, Urteil vom 15. Juni 2021 in der Rechtssache 62903/15 – Kurt/Österreich, insb. Rz. 168 ff.
48 Noll et al., 119.
49 Albrecht et al., IV.
50 Albrecht et al., IV lit. C.
51 Vgl. Art. 10 StPO (Unschuldsvermutung); SK StPO-Wohlers, Art. 10 Rz. 2, 16 f.; EGMR, Urteil vom 14. März 2019 in der Rechtssache 35726/10 – Kangers/Lettland, Rz. 61; daran orientiert sich auch das Bundesamt für Statistik (vgl. Strafurteilsstatistik 2018, 7). Vgl. auch Art. 46 Abs. 1 und 3 sowie Art. 89 Abs. 1 StGB. Vgl. aber auch BGE 137 IV 84 E. 3.2 S. 86 betr. der Vortat bei Untersuchungshaft aufgrund von Wiederholungsgefahr: «Neben einer rechtskräftigen Verurteilung gilt der Nachweis auch bei einem glaubhaften Geständnis oder einer erdrückenden Beweislage als erbracht».
52 So wurden 2023 durch die zürcherische Staatsanwaltschaft 51% der Verfahren eingestellt oder sistiert (Jahresbericht der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich von 2023 vom April 2024, 25) und durch die erstinstanzlichen zürcherischen Gerichte 11% der Strafverfahren durch Freispruch erledigt (Rechenschaftsbericht des Obergerichts des Kantons Zürich von 2023 vom März 2024, Ziff. 1.2.4.). Spezifisch zu häuslicher Gewalt: Ott/Schwarzenegger, 99 ff.
53 Wird gegen ein Urteil Berufung eingelegt, wird das Eintreten der Rechtskraft nach Art. 402 StPO aufgeschoben; vgl. auch Art. 354 Abs. 3 und 437 StPO e contrario.
54 Siehe oben, Fn. 51.
55 BSK BV-Waldmann, Art. 29 Rz. 9.
56 Beck, 1 f.; weiterführend: Western et al., insb. 58, 64 f., 112 f.
57 In einer Befragung zur Kriminalität in der Schweiz von 2019 wurde u.a. die Anzeigerate bei Körperverletzungsdelikten untersucht. Dabei zeigte sich, dass Täter oder Täterinnen mit vermutetem Migrationshintergrund mehr als doppelt so häufig angezeigt werden als solche ohne (Baier, 33, 88).
58 Albrecht et al., IV lit. B.
59 Auch zum Ausmass der Rückfallwahrscheinlichkeit, das erreicht werden muss, um von «Rückfallgefahr» im Rechtssinn sprechen zu können, äussert sich das Gesetz nicht. In der Botschaft wurde Folgendes ausgeführt: «Welche Intensität eine derartige Gefahrensituation aufweisen muss, lässt sich generell-abstrakt nicht sagen, sondern hängt von den Umständen ab»; vgl. Botschaft des Bundesrates vom 21. September 1998 zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches (Allgemeine Bestimmungen, Einführung und Anwendung des Gesetzes) und des Militärstrafgesetzes sowie zu einem Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht, BBl 1999, 2112.
60 BGer 6B_828/2018 E. 6.4.
61 Boetticher et al., Rahmenbedingungen, 313; BVerfG, Beschluss vom 17. Februar 2014 in der Rechtssache – 2 BvR 1795/12, Rz. 40; BVerfG, Beschluss vom 23. Mai 2018 in der Rechtssache – 2 BvR 1161/16, Rz. 18.
62 Bei der Anordnung von Untersuchungs- oder Sicherheitshaft bei Wiederholungsgefahr gilt gemäss Bundesgericht: «Bei den in Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO verlangten Vortaten muss es sich um Verbrechen oder schwere Vergehen gegen gleiche oder gleichartige Rechtsgüter gehandelt haben, wie sie im hängigen Untersuchungsverfahren massgeblich sind» (Urteil des Bundesgerichts 1B_187/2022 vom 5. Mai 2022 E. 3.2).
63 Vgl. zur Einschlägigkeit das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich SB230204 vom 25. März 2024 E VI.2.2 («die Gleichartigkeit der Delinquenz», «Straftat gegen dasselbe oder ähnliche Rechtsgüter»).
64 Beispielsweise gemäss den Titeln des Schweizerischen Strafgesetzbuchs, also z.B. Vermögensdelikte, Delikte gegen Leib und Leben, Delikte gegen die sexuelle Integrität etc.
65 Strafurteilsstatistik, 2018, 11.
66 Urwyler et al., Rz. 258.
67 Urteil des Bundesgerichts 6B_1343/2017 vom 9. April 2018 E. 2.6.
68 Nedopil et al., 240.
69 Urwyler et al., Rz. 506.
70 Urwyler et al., Rz. 33.
71 Rütsche, 162; Häsler, 71 ff.; BGE 137 V 210 E. 2.4.3 S. 239.
72 Moor, 20; Mastronardi, 26; Art. 170 BV; Art. 95 Abs. 2 KV ZH.
73 Art. 36 BV; SGK BV-Schweizer/Krebs, Art. 36 Rz. 52 ff.
74 Noll et al., 119; EGMR, Urteil vom 15.. Juni 2021 in der Rechtssache 62903/15 – Kurt/Österreich, insb. Rz. 168 ff.
75 Albrecht et al., IV.